Karl Lukan

Ein Stück vom Himmel


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als zwei Frauen mit ihren Hunderln daherkamen.

      »Schau den alten Trottel an! Da ist ein Gehsteig, da ist eine Straße – und der kräult (klettert) an der Mauer dahin!«, sagte die eine.

      »Geh, gehn wir lieber. Bei solchen Narren weiß man nie, was ihnen noch einfällt!«, sagte die andere.

      Ich möcht noch möglichst lang ein solcher Narr sein.

      DAS LALIDERERWAND-ABENTEUER

      Zum Kletterer wurde ich, weil ich was erleben wollte. Mein größtes Abenteuer erlebte ich 1946 in der Lalidererwand. Lois Höferstock (1901–1978) war einmal der »Klettergott« an unseren Kletterschulen (so wurden die kleinen Felsen in Wiens Umgebung genannt). Wieselflink kletterte er dort hinauf, wo wir Jungen gerne hinaufgekommen wären. Tausende Stunden hatte er mit jungen Menschen verbracht, um ihnen beizubringen, wie man das macht. Und außerdem hatte er vielen von ihnen auch noch eine Suppe oder ein Matratzenlager in einer Schutzhütte bezahlt – obwohl er sein ganzes Leben lang ein armer Teufel war.

      Er war Hilfsarbeiter und wohnte als Untermieter bei einer alten Frau, die auch für ihn kochte. In einem winzigen fensterlosen Kabinett stand sein Bett, der Aufenthaltsraum war die kleine Küche. Und in dieser kleinen Küche gab es in den Kriegs- und Nachkriegsjahren jeden Donnerstagabend ein (heute schon unglaublich scheinendes) Treffen von jungen Kletterern.

      Man traf sich beim Loisl, um übers Bergsteigen zu reden und zu diskutieren. In der Küche gab es nur zwei Sessel, also hockten wir auf der Kohlenkiste oder auf dem Boden. Es waren recht bunte Vögel, die da beisammen hockten ... unter anderen auch Leo Seitelberger, der gerne solo durch Steilwände kletterte (1938: Dachl-Nordwand im Gesäuse; 1947: Lalidererwand; 1951: zweite Solobegehung der Großen-Zinne-Nordwand), Leo Kozel, der nur von Überhängen schwärmte, und Fritz Moravec (Erstersteiger vom Gasherbrum II im Karakorum), der hohe Berge liebte.

      Heute wundert es mich, dass diese Treffen in der Nazizeit nicht der allgegenwärtigen Gestapo verdächtig vorgekommen sind. Denn Lois war ein hundertprozentiger Kommunist. »I war immer einer und werd immer einer sein!«, sagte er ganz offen.

      Er war einer, der im Notfall nicht sein letztes Stück Brot teilte, sondern es ganz dem anderen gab. Und als dann nach dem Krieg die Russen in Wien waren, hatten sich alle geirrt, die glaubten, dass der Loisl nun von der Partei einen guten Posten bekommen würde. Er blieb bei seiner Firma und sagte: »I bin doch nicht bei der Partei, damit ich von ihr was krieg!« Unser Lois – ein außergewöhnlicher Mensch.

      Natürlich hatte auch er von den großen Bergen in der Ferne geschwärmt, aber er konnte sie aus »finanziellen Gründen« (wie er sagte) nie erreichen. Seine Traumwand war die Lalidererwand im Karwendel ... »Tausend Schilling tät i geben, wenn i sie machen könnt!« (Lois war auch in seinen Träumen ein Geber.) Und nachdem ich in den Krieg musste, wurde die Lalidererwand zum großen Thema in dem Briefwechsel zwischen Lois und mir ... wenn wir den Krieg überleben, dann wollten wir sie machen.

      Im Februar 1946 kam ich aus der Kriegsgefangenschaft (mit einem durchschossenen Handgelenk) heim. Und im August 1946 standen wir nach einem etwas kuriosen Aufstieg vor der Falkenhütte unter der Lalidererwand.

      Normalerweise wird von Scharnitz aus zur Falkenhütte aufgestiegen (sieben Stunden Gehzeit). Doch Lois hatte erfahren, dass es in Vomp bei Schwaz auf einem Sonderabschnitt der Lebensmittelkarte (die brauchte man in diesen Hungerzeiten) eine Sonderzuteilung Kartoffeln gäbe. Die wollten wir uns holen und dafür gerne den viel längeren Aufstieg von Schwaz aus gehen.

      Wir waren fünf Personen (die Nichte von Lois und deren Freundin, meine Freundin) und bekamen für jeden Abschnitt zehn Kilo Kartoffeln. Alles in allem: fünfzig Kilogramm, einen Riesensack voll Kartoffeln – einen Schatz!

      Lois und ich wollten den Schatz abwechselnd tragen.

      Ein Bauer schenkte uns eine Stange, daran banden wir mit einem Kletterseil den Sack. »Der schönste Sport ist der Erdäpfelsacktransport!«, blödelte ich noch.

      Bald bezweifelte ich, dass wir den Sack bis hinauf zur Falkenhütte bringen könnten. Wie eine Kirchglocke schwang er beim Gehen hin und her und unsere Schultern waren bald blutig aufgewetzt.

      Wir kamen an diesem Tag nur bis zur Lamsenjochhütte. Als er den Sack im Vorraum der Hütte fallen ließ, sagte Lois: »I glaub, der ganze Weltschmerz kann nicht schwerer sein wie dieser Scheißerdäpfelsack!«

      Später blätterte ich im Hüttenbuch und las: »Lamsenspitze Ostwand, Schwarzer Riss, 9. Begehung.«

      »Lois, weißt du, was wir morgen machen?«, sagte ich. »Wir machen die zehnte Begehung vom Schwarzen Riss an der Lamsenspitze!« »Ist recht!«, sagte er darauf so zufrieden, als hätte ich ihm vorgeschlagen, einen Rasttag an einem Badesee zu verbringen mit einem Glas Wodka und der kommunistischen »Volksstimme« neben sich.

      Wir hatten von dem »Schwarzen Riss« noch nie etwas gehört, hatten ihn auch nicht gesehen (weil es schon finster war, als wir die Hütte erreichten). Aber Lois dachte genauso wie ich: Alles kann nur besser sein, als am nächsten Morgen den Erdäpfelsack wieder auf die Schultern zu laden.

      1934 war der in seinem unteren Teil mehrfach überhängende Riss erstmals begangen worden. Für mich ist er eine unvergessliche Kletterei geworden ...

      Ich kann mich zwar an keine einzige Kletterstelle mehr erinnern (nur, dass etwa vierzig Mauerhaken in dem Riss steckten). Doch unvergesslich ist mir bis heute das einmalige Gefühl der Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, mit dem ich an diesem Tag geklettert bin.

      Dieses herrliche Gefühl war allerdings sofort weg, als Lois vom Gipfel hinunter zur Hütte schaute und grimmig knurrte: »Da unten liegt er – der verdammte Erdäpfelsack!«

      Was wir dann am nächsten Morgen in diesem August 1946 erlebten, erscheint mir heute noch wie ein Wunder: Als wir den Erdäpfelsack wieder aufhoben, kam er uns nicht mehr so schwer vor!

      Er wog noch immer fünfzig Kilo. Aber beim Klettern im »Schwarzen Riss« hatten wir uns anscheinend so gut erholt, dass wir ihn auch noch hinauf bis zur Falkenhütte schleppen konnten.

      Zwei Männer, drei Madln, ein Erdäpfelsack ... Martha und Peter von der Falkenhütte wollten uns zuerst gar nicht in die Hütte hineinlassen: »Die ist nur für Bergsteiger!«

      Wir standen endlich vor der Lalidererwand. Ich hatte alles gelesen, was es in unserer Vereinsbibliothek über diese Wand zu lesen gab. Sie ist 750 Meter hoch und wurde 1911 von den Dolomitenführern Angelo Dibona und Luigi Rizzi mit den Brüdern Guido und Max Mayer aus Wien erstbegangen. Kurze Zeit galt sie als schwerste Felskletterei der Alpen. Das war in den Jahren, in denen die Herren zwar noch steife Kragen und Hüte trugen, aber in kurzer Zeit auch jede »schwierigste Kletterei der Alpen« durch eine noch schwierigere übertreffen wollten.

      Einer der besten Kletterer dieser Zeit war der Münchner Otto Herzog. Er hatte schon vor den Erstbegehern einen Durchstiegsversuch der Lalidererwand unternommen, musste ihn aber in einem Wettersturz abbrechen. Herzog war es auch, der als Erster Feuerwehr-Schnappringe zum Einhängen seines Kletterseils in Sicherungshaken benützte. Das waren damals noch Ringhaken. Um das Seil in den Ring einfädeln zu können, mussten sich die Kletterer vorher aus der Seilsicherung lösen und diese nachher wieder neu knüpfen. Eine Krampfiade war das. Heute denkt niemand mehr an den Mann, der den Kletterkarabiner erfunden hatte.

      Wir standen vor der Lalidererwand und für Lois war es die Wand seines Lebens. Von ihr hatte er in seinem fensterlosen Kabinett geträumt, für sie hatte er auf den kleinen Felsen in Wiens Umgebung viele Jahre trainiert. Einmal hatte ich ihn gefragt, warum er ausgerechnet von der Lalidererwand so schwärmt. »A Foto hab i von ihr g’sehn«, sagte er – »und seither ist die Wand in meinem Schädel drin!«

      Eine Liebe auf den ersten Blick.

      In der Falkenhütte waren wir die einzigen Nächtigungsgäste. Nur um die Mittagszeit kamen ab und zu Wanderer, aßen eine Suppe und zogen wieder dahin. Es gab weder Telefon noch Radio in der Hütte, also auch keine Wettervorhersage. Aber man sagte uns, dass nach den Viechern und dem Jochwind das Wetter gut bleiben