Arthur Schopenhauer

Aphorismen zur Lebensweisheit


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ja bedürftig. Diese Theilnahme aber versetzt ihn alsdann in eine Region, welcher der Schmerz wesentlich fremd ist, gleichsam in die Atmosphäre der leicht lebenden Götter, θεων ρεια ζωοντων. Während demnach das Leben der Uebrigen in Dumpfheit dahingeht, indem ihr Dichten und Trachten gänzlich auf die kleinlichen Interessen der persönlichen Wohlfahrt und dadurch auf Miseren aller Art gerichtet ist, weshalb unerträgliche Langeweile sie befällt, sobald die Beschäftigung mit jenen Zwecken stockt und sie auf sich selbst zurückgewiesen werden, indem nur das wilde Feuer der Leidenschaft einige Bewegung in die stockende Masse zu bringen vermag; so hat dagegen der mit überwiegenden Geisteskräften ausgestattete Mensch ein gedankenreiches, durchweg belebtes und bedeutsames Daseyn: würdige und interessante Gegenstände beschäftigen ihn, sobald er sich ihnen überlassen darf, und in sich selbst trägt er eine Quelle der edelsten Genüsse. Anregung von außen geben ihm die Werke der Natur und der Anblick des menschlichen Treibens, sodann die so verschiedenartigen Leistungen der Hochbegabten aller Zeiten und Länder, als welche eigentlich nur ihm ganz genießbar, weil nur ihm ganz verständlich und fühlbar sind. Für ihn demnach haben Jene wirklich gelebt, an ihn haben sie sich eigentlich gewendet; während die Uebrigen nur als zufällige Zuhörer Eines und das Andere halb auffassen. Freilich aber hat er durch dieses Alles ein Bedürfniß mehr, als die Andern, das Bedürfniß zu lernen, zu sehn, zu studiren, zu meditiren, zu üben, folglich auch das Bedürfniß freier Muße: aber eben weil, wie Voltaire richtig bemerkt, il n’est de vrais plaisirs qu’avec de vrais besoins, so ist dies Bedürfniß die Bedingung dazu, daß ihm Genüsse offen stehn, welche den Andern versagt bleiben, als welchen Natur-und Kunstschönheiten und Geisteswerke jeder Art, selbst wenn sie solche um sich anhäufen, im Grunde doch nur Das sind, was Hetären einem Greife. Ein so bevorzugter Mensch führt in Folge davon, neben seinem persönlichen Leben, noch ein zweites, nämlich ein intellektuelles, welches ihm allmälig zum eigentlichen Zweck wird, zu welchem er jenes erstere nur noch als Mittel ansieht: während den Uebrigen dieses schaale, leere und betrübte Daseyn selbst als Zweck gelten muß. Jenes intellektuelle Leben wird daher ihn vorzugsweise beschäftigen, und es erhält, durch den fortwährenden Zuwachs an Einsicht und Erkenntniß, einen Zusammenhang, eine beständige Steigerung, eine sich mehr und mehr abrundende Ganzheit und Vollendung, wie ein werdendes Kunstwerk; wogegen das bloß praktische, bloß auf persönliche Wohlfahrt gerichtete, bloß eines Zuwachses in der Länge, nicht in der Tiefe fähige Leben der Andern traurig absticht, dennoch ihnen, wie gesagt, als Selbstzweck gelten muß; während es Jenem bloßes Mittel ist.

      Unser praktisches, reales Leben nämlich ist, wenn nicht die Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es bewegen, wird es bald schmerzlich: darum sind Die allein beglückt, denen irgend ein Ueberschuß des Intellekts, über das zum Dienst ihres Willens erforderte Maaß, zu Theil geworden. Denn damit führen sie, neben ihrem wirklichen, noch ein intellektuelles Leben, welches sie fortwährend auf eine schmerzlose Weise und doch lebhaft beschäftigt und unterhält. Bloße Muße, d. h. durch den Dienst des Willens unbeschäftigter Intellekt, reicht dazu nicht aus; sondern ein wirklicher Ueberschuß der Kraft ist erfordert: denn nur dieser befähigt zu einer dem Willen nicht dienenden, rein geistigen Beschäftigung: hingegen otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura (Sen. ep. 82). Je nachdem nun aber dieser Ueberschuß klein oder groß ist, giebt es unzählige Abstufungen jenes, neben dem realen zu führenden intellektuellen Lebens, vom bloßen Insekten-, Vögel-, Mineralien-, Münzen-Sammeln und Beschreiben, bis zu den höchsten Leistungen der Poesie und Philosophie. Ein solches intellektuelles Leben schützt aber nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen die verderblichen Folgen derselben.

      Es wird nämlich zur Schutzwehr gegen schlechte Gesellschaft und gegen die vielen Gefahren, Unglücksfälle, Verluste und Verschwendungen, in die man geräth, wenn man sein Glück ganz in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine Philosophie nie etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.

      Der normale Mensch hingegen ist, hinsichtlich des Genusses seines Lebens, auf Dinge außer ihm gewiesen, auf den Besitz, den Rang, auf Weib und Kinder, Freunde, Gesellschaft u. s. w., auf diese stützt sich sein Lebensglück: darum fällt es dahin, wenn er sie verliert, oder er sich in ihnen getäuscht sah. Dies Verhältniß auszudrücken, können wir sagen, daß sein Schwerpunkt außer ihm fällt. Eben deshalb hat er auch stets wechselnde Wünsche und Grillen: er wird, wenn seine Mittel es erlauben, bald Landhäuser, bald Pferde kaufen, bald Feste geben, bald Reisen machen, überhaupt aber großen Luxus treiben; weil er eben in Dingen aller Art ein Genüge von außen sucht; wie der Entkräftete aus Consomme’s und Apothekerdrogen die Gesundheit und Stärke zu erlangen hofft, deren wahre Quelle die eigene Lebenskraft ist. Stellen wir nun, um nicht gleich zum andern Extrem überzugehn, neben ihn einen Mann von nicht gerade eminenten, aber doch das gewöhnliche knappe Maaß überschreitenden Geisteskräften; so sehn wir diesen etwan irgend eine schöne Kunst als Dilettant üben, oder aber eine Realwissenschaft, wie Botanik, Mineralogie, Physik, Astronomie, Geschichte, u. dgl. betreiben und alsbald einen großen Theil seines Genusses darin finden, sich daran erholend, wenn jene äußern Quellen stocken, oder ihn nicht mehr befriedigen. Wir können insofern sagen, daß sein Schwerpunkt schon zum Theil in ihn selbst fällt. Weil jedoch bloßer Dilettantismus in der Kunst noch sehr weit von der hervorbringenden Fähigkeit liegt, und weil bloße Realwissenschaften bei den Verhältnissen der Erscheinungen zu einander stehen bleiben; so kann der ganze Mensch nicht darin aufgehn, sein ganzes Wesen kann nicht bis auf den Grund von ihnen erfüllt werden und daher sein Daseyn sich nicht mit ihnen so verweben, daß er am Uebrigen alles Interesse verlöre. Dies nun bleibt der höchsten geistigen Eminenz allein vorbehalten, die man mit dem Namen des Genie’s zu bezeichnen pflegt: denn nur sie nimmt das Daseyn und Wesen der Dinge im Ganzen und absolut zu ihrem Thema, wonach sie dann ihre tiefe Auffassung desselben, gemäß ihrer individuellen Richtung, durch Kunst, Poesie, oder Philosophie auszusprechen streben wird.

      Daher ist allein einem Menschen dieser Art die ungestörte Beschäftigung mit sich, mit seinen Gedanken und Werken dringendes Bedürfniß, Einsamkeit willkommen, freie Muße das höchste Gut, alles Uebrige entbehrlich, ja, wenn vorhanden, oft nur zur Last. Nur von einem solchen Menschen können wir demnach sagen, daß sein Schwerpunkt ganz in ihn fällt. Hieraus wird sogar erklärlich, daß die höchst seltenen Leute dieser Art, selbst beim besten Charakter, doch nicht jene innige und gränzenlose Theilnahme an Freunden, Familie und Gemeinwesen zeigen, deren Manche der Andern fähig sind: denn sie können sich zuletzt über Alles trösten; wenn sie nur sich selbst haben. Sonach liegt in ihnen ein isolirendes Element mehr, welches um so wirksamer ist, als die Andern ihnen eigentlich nie vollkommen genügen, weshalb sie in ihnen nicht ganz und gar ihres Gleichen sehn können, ja, da das Heterogene in Allem und Jedem ihnen stets fühlbar wird, allmälig sich gewöhnen, unter den Menschen als verschiedenartige Wesen umherzugehn und, in ihren Gedanken über dieselben, sich der dritten, nicht der ersten Person Pluralis zu bedienen. —

      Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint nun Der, welchen die Natur in intellektueller Hinsicht sehr reich ausgestattet hat, als der Glücklichste; so gewiß das Subjektive uns näher liegt, als das Objektive, dessen Wirkung, welcher Art sie auch sei, immer erst durch Jenes vermittelt, also nur sekundär ist. Dies bezeugt auch der schöne Vers:

      Πλουτος ο της φυχης πλουτος μονος εστιν αληθης,

      Τ΄αλλα δ΄εχει ατην πλειονα των κτεανων.

Lucian in Anthol. 1, 67.

      Ein solcher innerlich Reicher bedarf von außen nichts weiter, als eines negativen Geschenks, nämlich freier Muße, um seine geistigen Fähigkeiten ausbilden und entwickeln und seinen innern Reichthum genießen zu können, also eigentlich nur der Erlaubniß, sein ganzes Leben hindurch, jeden Tag und jede Stunde, ganz er selbst seyn zu dürfen. Wenn Einer bestimmt ist, die Spur seines Geistes dem ganzen Menschengeschlechte aufzudrücken; so giebt es für ihn nur Ein Glück oder Unglück, nämlich seine Anlagen vollkommen ausbilden und seine Werke vollenden zu können, – oder aber hieran verhindert zu seyn. Alles Andere ist für ihn geringfügig. Demgemäß sehn wir die großen Geister aller Zeiten auf freie Muße den allerhöchsten Werth legen. Denn die freie Muße eines Jeden ist so viel Werth, wie er selbst Werth