Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke


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wenn ein we­nig Un­ru­he über ihr Vor­ha­ben sie be­schlich. So saß sie denn in ge­heim­nis­vol­ler Geis­tes­ab­we­sen­heit auf der Schul­bank und stütz­te den Kopf sor­gen­voll in die Hand.

      »Ah! Rosa! Mein Herz!« Fräu­lein La­nin stand vor ihr. Auch sie war heu­te be­son­ders sin­nig und drück­te ih­ren Noël, un­ter dem sich der dün­ne ach­te Band von »Em­mas Schmerz« ver­barg, fest an das Herz. »Weißt du, ich mei­ne das, wo­von wir ges­tern spra­chen. Du ent­sinnst dich – ah? – Er kommt viel­leicht schon heu­te abend.« – »So«, er­wi­der­te Rosa, sah ernst auf, hob lang­sam ihre Hand über den Tisch em­por und ließ sie schlaff wie­der sin­ken; eine hüb­sche Be­we­gung, die zu be­deu­ten schi­en: »Es ist gleich­gül­tig. Sie kom­men und ge­hen.«

      »Ja«, fuhr Fräu­lein La­nin fort, und ob­gleich es sich of­fen­bar um ein wich­ti­ges Ge­heim­nis han­del­te, so sprach sie doch sehr laut: »Ich habe sei­net­we­gen – du weißt? – mit dem Papa eine erns­te – wirk­lich eine sehr erns­te – Un­ter­re­dung ge­habt, die mir viel zu den­ken gibt.«

      »Ah.« Rosa hät­te gern Nä­he­res dar­über er­fah­ren, sie moch­te je­doch nicht fra­gen. Es war auch nicht nö­tig, denn Fräu­lein La­nin be­gann an­ge­le­gent­lich: »Er sagt, und er hat ge­wiss recht, dass un­se­re Fa­mi­lie mit der Auf­nah­me von A. T. sehr erns­te Pf­lich­ten über­neh­me und so­mit auch mir ein Teil – und weißt du, der Papa sagt, nicht der un­wich­tigs­te Teil – zu­fal­le.«

      »Ah so! Ich ver­ste­he, weib­li­cher Ein­fluss«, schal­te­te Rosa ein.

      »Das ist’s«, fuhr Fräu­lein La­nin fort. »Der arme jun­ge Mann ist leicht­sin­nig, ist ver­führt wor­den; er ist jetzt viel­leicht lei­dend; du weißt, die Brust – das kommt leicht bei sol­chen Ge­fühls­kri­sen. Da­bei ist er ver­wöhnt, der ein­zi­ge Sohn sehr rei­cher El­tern. Nun – ihm Be­frie­di­gung und Er­hei­te­rung zu bie­ten, das ist un­se­re Pf­licht. Ich habe be­schlos­sen, sehr freund­lich ge­gen ihn zu sein. Uns Frau­en ge­lingt es doch am bes­ten, sol­che Wun­den zu hei­len. Von der Tanz­ge­sell­schaft sprach ich schon mit dir. Nun – und im täg­li­chen Le­ben will ich in erns­ten Ge­sprä­chen sein Ver­trau­en er­wer­ben, will ihn auf den ein­zi­gen Trost, auf Gott, hin­wei­sen. Es ist eine schwe­re Auf­ga­be, ich weiß das wohl, aber sie ist schön, nicht wahr, mein Herz?«

      Fräu­lein La­nin neig­te ih­ren Kopf auf die lin­ke Schul­ter und blick­te ihre Freun­din ernst an. Auf Rosa je­doch hat­te die­ser Be­richt einen ganz un­er­war­te­ten Ein­druck ge­macht. Sie, die ein wirk­li­ches Stell­dich­ein vor­hat­te, fühl­te sich heu­te über all ihre Ka­me­ra­din­nen er­ha­ben, und Fräu­lein Lan­ins Plä­ne er­schie­nen ihr kin­disch und mach­ten sie un­ge­dul­dig: »Ich ver­ste­he nicht, wie du glau­ben kannst, dass ein jun­ger, leicht­sin­ni­ger Mensch an from­men Ge­sprä­chen mit dir Ge­fal­len fin­den wird.«

      Fräu­lein La­nin warf Rosa einen schnel­len Blick zu, rich­te­te sich dann ker­zen­ge­ra­de auf, zog die Au­gen­brau­en em­por, was ihr einen ver­ach­ten­den, aber ge­dul­di­gen Aus­druck ver­lieh, und sag­te fest: »Ich weiß es sehr ge­nau, bes­tes Herz, wie erns­te Wor­te auf jun­ge Leu­te wir­ken. Und er – mein Cou­sin«, sie be­ton­te die­ses Wort scharf, »er wird ge­wiss nicht ge­gen einen sanf­ten, wenn auch nicht welt­lich leicht­fer­ti­gen, son­dern, wie der Papa sagt, tie­fin­ner­li­chen weib­li­chen Ein­fluss un­emp­find­lich sein.«

      Die­se Pe­ri­ode klang gut; Rosa je­doch lach­te un­ver­hoh­len und zuck­te die Ach­seln. »Mir will es schei­nen«, sag­te sie schnell, »dass die Be­keh­rung die­ses neu­en Ko­rin­then-Kon­rads nicht…« – »Er ist mein Cou­sin«, rief Fräu­lein La­nin sehr laut. – »Gut, gut«, fuhr Rosa toll­kühn fort, »ich glau­be, dass die Be­keh­rung nicht das ein­zi­ge ist, wor­auf du hoffst.« – »Son­dern – son­dern«, dräng­te Fräu­lein La­nin und kniff die Au­gen zu­sam­men, was sie für ein Zei­chen vor­neh­mer Kalt­blü­tig­keit hielt.

      »Gleich­viel«, mein­te Rosa. »Ich wün­sche dir gu­ten Er­folg. Nur be­haup­te ich, dass lan­ge Pre­dig­ten nicht das rech­te Mit­tel sind. Ich we­nigs­tens wür­de mich da­für be­dan­ken.«

      »Ja – du – du«, fuhr Fräu­lein La­nin auf, »ich habe mich sehr in dir ge­täuscht, gute Rosa! Und von jetzt ab…«

      Fräu­lein Schank trat in das Zim­mer. Die Schü­le­rin­nen dräng­ten zu den Bän­ken; ein plötz­li­ches wir­res Durchein­an­der – der Lärm schar­ren­der Füße – das Klap­pen der Bü­cher – dann tie­fe Stil­le.

      Rosa und Fräu­lein Sal­ly muss­ten sich tren­nen. Die­se, in der Auf­wal­lung ver­letz­ter Freund­schaft un­ter­bro­chen, be­gab sich lang­sam an ih­ren Platz. Zu­wei­len schau­te sie auf Rosa zu­rück, zuck­te mit den Ach­seln und Au­gen­brau­en; dann fal­te­te sie die Hän­de über der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik und saß still und er­ge­ben da, wie es ei­ner from­men Chris­tin ge­bührt. Die­se er­ge­be­ne Ruhe wich auch nicht von ihr, als Fräu­lein Schank tro­cken ver­lau­ten ließ: »Sal­ly La­nin.« Die­ses hieß so viel als: »Ste­hen Sie auf und zei­gen Sie, dass Sie die La Fon­tai­ne­sche Fa­bel von den zwei Rat­ten wie­der nicht ge­lernt ha­ben.« Nein! Fräu­lein Sal­ly hat­te die Fa­bel nicht ge­lernt. Sie er­hob sich lang­sam, ein bit­te­res Lä­cheln auf den Lip­pen, die Bli­cke träu­me­risch in die Fer­ne sen­dend. Nach­läs­sig warf sie ei­ni­ge Wor­te hin: »Un rat des champs – des champs – un rat.« Dann schwieg sie. »Ma­de­moi­sel­le!« rief Fräu­lein Schank. Fräu­lein Sal­ly aber hör­te nicht auf sie, sie dach­te gar nicht an die­se klein­li­che Per­son. Ver­klärt und geis­tes­ab­we­send stand sie da, wie Ami­na, die arme Nacht­wand­le­rin, wenn sie im vier­ten Akt dicht vor die Lam­pen tritt, um ihre große Arie zu sin­gen.

      »Set­zen Sie sich, Ma­de­moi­sel­le.« In Fräu­lein Schanks Mun­de klang das hüb­sche Wort Ma­de­moi­sel­le wie ein Schimpf­na­me. Ma­de­moi­sel­le setz­te sich auch; sie setz­te sich aber, weil sie es woll­te, nicht weil Fräu­lein Schank es be­fahl, das sah man ihr an.

      Fräu­lein Schank beug­te sich über ihr No­tiz­buch von häss­lich grau­er Far­be, eine un­er­bitt­li­che Si­byl­le mit brau­nen Ban­deaux, und ließ sich von dem win­zi­gen Schick­sals­bu­che das Schick­sal ei­nes ar­men Mäd­chens dik­tie­ren. »Rosa!« ver­setz­te sie end­lich, »sag du ein­mal her.« Rosa er­hob sich ein we­nig ver­wirrt, doch ge­wann sie bald ihre Fas­sung wie­der und mach­te ein sehr hoch­mü­ti­ges Ge­sicht, ein si­che­res Zei­chen, dass sie sich in der­sel­ben Lage wie ihre Freun­din be­fand. Sie be­gann: »Un rat…« Wei­ter je­doch konn­te oder woll­te sie nichts sa­gen. Fräu­lein Schank war­te­te eine Wei­le, dann sag­te sie be­trübt: »Also wie­der nichts! Setz dich.« Rosa setz­te sich. Tie­fes Schwei­gen. Fräu­lein Schank blät­ter­te in ih­rem Büch­lein, Rosa blick­te vor sich nie­der, als wäre nichts vor­ge­fal­len.

      »Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le!« Rosa fuhr auf. Fräu­lein Schank hat­te ihr Büch­lein bei­sei­te ge­wor­fen und blick­te Rosa gif­tig an. »Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le, es ist zu­viel von Ih­nen ver­langt, dass Sie Fran­zö­sisch oder über­haupt et­was ler­nen sol­len! Wozu auch? Für solch ein vor­neh­mes Fräu­lein ist es ge­nug, den gan­zen Tag um­her­zu­lau­fen und sich be­wun­dern zu las­sen. Das Ler­nen ha­ben Sie ja nicht nö­tig. Wenn man eine so si­che­re Zu­kunft hat, wozu denn? Ler­nen mag gut sein für ein ar­mes Mäd­chen, das ihr Brot selbst wird er­wer­ben müs­sen. Ja! Und das sei­nen ers­ten Un­ter­richt aus Barm­her­zig­keit von – von eben barm­her­zi­gen Leu­ten emp­fan­gen hat,