Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke


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Kin­der­herz beb­te vor ohn­mäch­ti­gem Zorn ge­gen die­se alte Leh­re­rin, die sie ge­de­mü­tigt, sie als un­wis­sen­des, ar­mes, ver­ächt­li­ches Ge­schöpf hin­ge­stellt hat­te. Nie war ihr Le­ben ihr fa­den­schei­ni­ger, aus­sichts­lo­ser er­schie­nen als jetzt. Sie war und blieb Rosa Herz, die Toch­ter des Bal­let­tän­zers, die nur hal­b­es Schul­geld zahl­te, zwei Klei­der be­saß und fran­zö­si­sche Gram­ma­tik ler­nen muss­te, um sie viel­leicht einst selbst zu leh­ren, hier in dem dump­fen Ge­mach, von dem­sel­ben schä­bi­gen Ka­the­der aus, auf dem Fräu­lein Schank alt und häss­lich saß, bis sie selbst alt und häss­lich ge­wor­den sein wür­de und Kon­rad Lurch ge­hei­ra­tet hät­te, der sie lieb­te.

      Uner­träg­li­che Hit­ze wal­te­te im Ge­mach. Das Son­nen­licht fiel blen­dend auf die nack­ten Wän­de und be­schi­en grell die lan­gen Rei­hen wei­ßer Hals­krau­sen, glatt­ge­schei­tel­ter Mäd­chen­köp­fe und all die jun­gen, ru­hi­gen Ge­sich­ter. Es leg­te sich warm über die ro­si­gen Schlä­fen und wei­ßen Stir­nen, in die kein Fält­chen, kein Schat­ten die Spur ei­ner Ge­schich­te ge­schrie­ben hat­te.

      Es sprüh­te in den kla­ren, stil­len Au­gen und durch­leuch­te­te sie, dass man auf ih­ren Grund die sorg­lo­sen Kin­der­see­len zu er­bli­cken ver­mein­te – wie eine nichts­sa­gen­de klei­ne Ara­bes­ke auf dem Grund ei­ner Schüs­sel voll kla­ren Was­sers. Fräu­lein Schank do­zier­te mit ein­tö­ni­ger, sin­gen­der Stim­me die Leh­ren der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik, und die erns­ten, fried­li­chen Mäd­chen­ge­sich­ter schau­ten zu ihr auf, als hät­ten sie nie et­was Wich­ti­ge­res und Auf­re­gen­de­res ver­nom­men als, dass das Ad­jek­ti­vum vor dem Wor­te gens in weib­li­cher, nach dem­sel­ben in männ­li­cher Form ge­braucht wer­de. Rosa saß noch im­mer über den Tisch ge­beugt da. Die Trä­nen wa­ren fort und die Wan­gen jetzt blass. Oh, sie litt! Sie woll­te nicht län­ger ver­ach­tet, lä­cher­lich und un­glück­lich sein! Sie woll­te flie­hen oder ster­ben – oder – sie wuss­te es nicht, aber au­ßer Fräu­lein Schank, der Schul­stu­be und Noël muss­te – muss­te es doch noch et­was ge­ben! Die gan­ze Leih­bi­blio­thek konn­te doch nicht lü­gen! Ganz ge­wiss woll­te sie mit Her­weg heu­te abend zu­sam­men­tref­fen, und sie woll­te ihm er­lau­ben, sie auf den Mund zu küs­sen, nur weil Fräu­lein Schank das miss­bil­li­gen wür­de. Was ging sie aber die alte Dame an?

      So­bald die Stun­de zu Ende war, eil­te Rosa ins Freie. Has­tig schritt sie die Gas­se hin­ab, den Kopf ge­senkt, die Hän­de hin­ter dem Rücken zu­sam­men­ge­fasst wie ein al­ter, sin­nen­der Herr. Auf dem Pfad, der bergab in den Stadt­gar­ten führ­te, be­gann sie zu lau­fen, so dass der Hut ihr in den Na­cken fiel und die Zöp­fe ihr den Rücken peitsch­ten. In der Nähe der Lau­be hielt sie still. Wa­rum eil­te sie so? Vom Lauf au­ßer Atem ge­bracht, leg­te sie die Hän­de auf die Brust. Wa­rum die Auf­re­gung? Die Schank hat­te ge­zankt, weil sie die Fa­bel nicht ge­lernt hat­te. Sie woll­te sich nichts dar­aus ma­chen, es war nicht das ers­te Mal. Sie rück­te den Hut zu­recht, fuhr sich mit der Hand über die Au­gen. Was küm­mer­te sie das klein­li­che Elend der Schul­stu­be?

      Al­ler­ort – auf den Ra­sen­plät­zen und Kies­we­gen – brann­ten Licht­flo­cken und klei­ne Fun­ken; sie zit­ter­ten sach­te, wie schläf­rig blin­zeln­de Au­gen. Die Lau­be stand auf ei­ner An­hö­he, von gol­de­nem Licht um­flu­tet, und mit den in­ein­an­der­ge­bo­ge­nen knor­ri­gen Äs­ten, mit den re­gungs­lo­sen, stau­bi­gen Blät­tern glich sie ei­nem al­ten Mö­bel, das man aus der Rum­pel­kam­mer in den Mit­tags­son­nen­schein ge­rückt hat. Her­weg saß be­reits auf der Bank und wieg­te sei­nen Hut zwi­schen den Bei­nen hin und her. Eine leich­te Be­fan­gen­heit er­fass­te Rosa, da sie ihn er­blick­te. Wie soll­te sie es ihm sa­gen? Wür­de er nicht stau­nen? Lang­sam ging sie auf ihn zu. Her­weg lä­chel­te ihr ent­ge­gen:

      »Sie se­hen, Rosa, heu­te bin ich der ers­te«, mein­te er.

      »Ja – ich konn­te nicht frü­her.« – Rosa blieb vor Her­weg ste­hen und strich sich das Haar an den Schlä­fen glatt.

      »Ha, ha – die Alte?« frag­te er.

      Rosa nick­te. Her­weg sah sie prü­fend an: »Ja, ja, die Alte, die hat schar­fe Au­gen. Aber warum set­zen Sie sich nicht?« Rosa setz­te sich auf die Bank. »Ich habe heu­te den Di­rek­tor gut an­ge­führt«, fuhr Her­weg fort, Rosa aber un­ter­brach ihn: »Was un­ter­neh­men Sie heu­te abend?« –

      »Nichts Be­son­de­res. Ich weiß nicht. Vi­el­leicht kommt eine klei­ne Knei­pe­rei zu­stan­de.«

      »Ach so, das ist dann et­was an­de­res.«

      »Nein«, rief Her­weg schnell, »es ist nichts be­stimmt. Ge­wiss! Woll­ten Sie et­was, Rosa?«

      »Wenn Sie frei sind«, sag­te Rosa mit nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen, »könn­ten wir, so dach­te ich, heu­te abend zu­sam­men­kom­men!«

      »O ge­wiss!«

      »Das heißt, um neun Uhr. Sie könn­ten mich un­ten am Fluss, Sie wis­sen? er­war­ten, wir wä­ren dann bei­sam­men, dach­te ich mir.« Her­weg er­rö­te­te und rief in der has­ti­gen Wei­se, die Kna­ben an­zu­neh­men pfle­gen, wenn sie be­fan­gen sind: »Das geht!« Er lehn­te sich zu­rück, kreuz­te die Arme über der Brust, kniff die Au­gen zu­sam­men und mach­te ein be­däch­ti­ges Ge­sicht, als müss­te er al­les zu­vor ernst­lich er­wä­gen: »Ja, das geht. Das wird hübsch.«

      »Nicht wahr?« sag­te Rosa und er­hob sich schnell, als hät­te sie einen plötz­li­chen Ent­schluss ge­fasst. Sie blieb aber ru­hig vor Her­weg ste­hen. »Ich mein­te, es wür­de Ih­nen Freu­de ma­chen.« Scheu blick­te Her­weg zu dem Mäd­chen em­por; vor­sich­tig fass­te er den grau­en Man­tel, lang­te dann zu den gel­ben Zöp­fen hin­auf mit di­cken, un­ge­len­ken Schü­ler­fin­gern. Rosa ließ es ge­sche­hen. Ihre Au­gen wur­den dunk­ler und hat­ten ein un­ru­hi­ges, in­ten­si­ves Licht. Plötz­lich, mit ei­ner schnel­len, ecki­gen Be­we­gung, fass­te sie nach Her­wegs Haar und ließ ihre Fin­ger durch das rote Ge­strüpp glei­ten. Bei­de wa­ren ernst und stumm. Her­weg hielt sei­nen Kopf re­gungs­los und blin­zel­te mit den Au­gen, wie eine Kat­ze, der man die Ohren krault, wäh­rend Rosa zu Bo­den schau­te. Ein bun­tes Ge­flecht von Licht und Schat­ten be­deck­te den Kies mit grau und gol­de­nen Mus­tern. Durch die Zwei­ge drang das Licht wie blan­ker Staub in die Däm­me­rung der Lau­be. »Max! Max!« er­scholl wie­der die kläg­li­che Stim­me der al­ten Dame. Has­tig zog Rosa ihre Hand zu­rück; Her­weg aber hielt sie fest, drück­te die in­ne­re Hand­flä­che auf sei­nen Mund und küss­te sie laut.

      »Also, Sie wol­len, Koll­hardt?« frag­te Rosa, sich frei ma­chend.

      »Ja, lie­be, gute Rosa!«

      »Gut denn; auf heu­te abend! Ade!« Und sie lief da­von.

      Her­weg schlen­der­te ge­mäch­lich durch den Gar­ten nach Hau­se. Er ver­such­te es, sein Ge­sicht in ru­hi­ge, erns­te Fal­ten zu le­gen, wie es ein Mann tut, der sol­che Lie­bes­tri­um­phe ge­wohnt ist. Stolz reck­te er sei­ne mäch­ti­ge Ge­stalt und schritt durch den Son­nen­schein da­hin mit der gan­zen Breit­spu­rig­keit sei­nes Schü­ler­hoch­mu­tes.

      Fünftes Kapitel

      Herr Herz emp­fing sei­ne Toch­ter heu­te be­son­ders zärt­lich; er strei­chel­te ihr die Wan­gen und be­merk­te: »Hübsch bist du heu­te, mein Kind.« Als Rosa sich mür­risch in ei­nem Ses­sel aus­streck­te, schlich er von hin­ten her­an, um