Umstand nicht aus den Augen – dieser Vorrat also – sei zu Ende. Warum? Sagen Sie nur, warum?«
Herr Lanin lächelte und schaute Lurch scharf an.
»Ja, Herr Prinzipal, er ist aber doch zu Ende«, antwortete Lurch sentimental. Herr Lanin lachte wieder; er war seiner Sache zu gewiss. Er setzte sich zurecht, nahm den Kneifer von der Nase, drückte die Augen zusammen, als gelte es, scharf zu denken: »Sagen Sie das doch nicht! Gehen wir systematisch vor. Wollen Sie so gut sein und auf meine Fragen antworten, nur das, Lurch; so kommen wir am schnellsten ins reine. Eine Partie echten Schweizer Käses – eine Partie inländischen Käses niederer Qualität und eine erster Qualität langten vor vier Wochen an. Gut! Kann der echte Schweizer Käse jetzt schon alle sein? Darauf kommt es an!«
»Herr Prinzipal brauchen nur die Posten durchzusehen. Es stimmt«, entgegnete Lurch mit halsstarriger Freundlichkeit.
»Posten? Lassen Sie das. Meine Frage, Lurch; nichts weiter.«
»Der Käse ist alle, der Baron Poddor hat sehr viel holen lassen; bei Kollhardts hat man viel verbraucht. Überhaupt weiß ich nicht, was die Leute in letzter Zeit mit dem echten Schweizer Käse machen. Vom inländischen erster Qualität ist noch die ganze Partie da.«
»Zur Sache!« drängte Herr Lanin.
»Ja – mehr – Herr Prinzipal – –«
»Sancta simplicitas! Sie verstehen mich nicht. Warten Sie, ich will es aus Ihnen heraus entwickeln. Sie sprechen von Kollhardt, vom Poddor – was will das sagen. Merken Sie auf. Ich nehme an: Verlangt wird x und z – verstehen Sie, nur x und z. Ich lasse gleiche Quantitäten von x, von z und noch von y kommen, das fast so gut wie z ist. Also – sagen Sie mir, warum lasse ich auch y – immer noch die Annahme – kommen?«
Lurch blickte vor sich nieder.
»x, y und z –« wiederholte der Prinzipal und lächelte. – »Nehmen Sie sich Zeit.«
»z?« fragte Lurch.
»Ja; x, y und z.«
Lurch bewegte lautlos die Lippen; endlich stieß er ein heiseres »Ja« aus.
»Haben Sie’s?« fragte Herr Lanin.
»Ja – ich meine«, begann Lurch vorsichtig. »Wenn jemand käme und verlangte y – –«
»Ei, ei!« unterbrach ihn Herr Lanin. »Was machen Sie für Sachen! Es ist nicht zu glauben.«
Lurch senkte wieder den Kopf und rechnete. Er hätte die Lösung schwerlich gefunden, und es war ihm lieb, dass die Türe stürmisch aufgerissen wurde und Fräulein Sally in sehr hoher Stimmlage in das Zimmer hineinrief: »Papa! Er ist da.«
»Wer?« fragte Herr Lanin verstimmt.
»Komische Frage! Der Neue natürlich«, erwiderte seine Tochter.
»Ah!« Herr Lanin erhob sich.
»Gehen Sie, Lurch. Ich muss fort. Sie werden nie rechnen lernen.«
Mit diesen Worten eilte er auf den Flur hinaus. Dort fand er seinen Neffen, der dem kleinen Dienstmädchen mit sehr lauter Stimme Befehle wegen des Hereinschaffens der Koffer gab. Als er Herrn Lanin erblickte, ging er auf ihn zu und rief, ein wenig durch die Nase: »Ah! Sie sind wohl der Onkel?«
»Allerdings! Allerdings!« erwiderte Herr Lanin und streckte dem jungen Mann mit einem feinen, geistreichen Lächeln beide Hände hin: »Du erkennst mich nicht? Natürlich! Es ist lange her, seit ich bei euch war. Warte! – Es sind fünfzehn Jahre – ganz recht – fünfzehn Jahre. Ha ha! Eine hübsche Zeit. Wie geht es zu Hause?«
»Ich danke, der Alte hat mir Grüße für Sie und die Frau Tante aufgetragen. Mütterchen kränkelt ein wenig.«
»So – so! Lege nur ab, dann stelle ich dich meiner Familie vor.«
Die Familie stand an der halb angelehnten Türe und musterte den Ankömmling. Als Ambrosius Tellerat und Herr Lanin sich anschickten, in das Wohnzimmer einzutreten, stürzte die Familie an das andere Ende des Gemaches und griff nach gleichgültigen Dingen.
»Da bringe ich euch den neuen Vetter«, sagte Herr Lanin und schlug seinem Neffen jovial auf den Rücken.
»Willkommen, willkommen«, rief Frau Lanin, und das breite, weiche Gesicht, der zahnlose, elastische Mund drückten viel süße Freundlichkeit aus.
»Hm – Frau Tante – viele Grüße«, begann der junge Mann, aber Herr Lanin unterbrach ihn: »Meine Tochter«, sagte er und deutete auf Fräulein Sally, die mit gesenkten Wimpern an ihrem Arbeitstische stand. Ambrosius stieß wiederum ein heftiges »Hm« aus, wippte zweimal auf seinen Füßen auf und ab und machte eine tiefe Verbeugung. Fräulein Sally verbeugte sich auch ihrerseits, schlug die Augen auf und sagte: »Mein Herr« – ganz wie die Salondame im Lustspiel für Liebhabertheater.
»So!« versetzte Herr Lanin. »Also – nochmals willkommen!« Onkel und Neffe schüttelten sich verbindlich die Hände; dann meinte Herr Lanin, die Damen würden dem Reisenden wohl eine Erfrischung anbieten wollen. Fräulein Sally ergriff auch, in netter Wirtschaftlichkeit, eine weiße Schürze und suchte nach Schlüsseln. Die andern setzten sich an einen runden Tisch, mit dem Entschluss, sich zu unterhalten. Ambrosius legte ein Bein über das andere, räusperte sich und beugte sich leicht vor, als wollte er etwas Angenehmes sagen. Obgleich er nichts Ungewöhnliches tat, so hatten seine Bewegungen doch etwas Gesuchtes, aber gewiss nichts vergeblich Gesuchtes. Ambrosius war ein hübscher junger Mann mit einer schlanken, gutgebauten Gestalt, der ein dunkler Anzug nach der letzten Mode gut ließ. Seine Züge waren regelmäßig, die Nase scharf geschnitten, die Lippen leuchtend rot und zu einem angenehm jugendlichen Lächeln bereit, die Augen hart braun und sehr glänzend. Über der hohen Stirn türmte sich gelocktes, dunkelblondes Haar, sorgfältig über den ganzen Kopf gescheitelt und wohlriechend.
»Ambrosius wird sich hier hoffentlich glücklich fühlen«, begann Frau Lanin, »hoffentlich.« Sie blickte dabei ihren Gemahl, dann Ambrosius an. Die ganze gewichtige Gestalt der alten Dame, die langsamen Bewegungen, die Augen, die Nase, der Mund, die Fülle weichen, schlaffen Fleisches, die leise Stimme – alles atmete Milde, alles an ihr war sanft wie Fett, süß wie Honig.
»Gewiss, o gewiss!« erwiderte Herr Lanin und zerteilte die Luft mit der Hand in gleichmäßige Stücke. »Wenn das Leben hier auch ein wenig still, das heißt ernst ist, so ist es doch mit Arbeit und Wissenschaft angefüllt.«
»Hm – ja«, meinte Ambrosius, »dem Fleißigen wird die Zeit nie lang.«
»Es gibt doch auch kleine Zerstreuungen«,