Blick zu seiner Tochter hinüber. Diese hatte den Kopf auf die Stuhllehne zurückgebogen, die Füße von sich gestreckt und war in tiefes Sinnen verloren. Endlich blieb Herr Herz am Fenster stehen, schaute auf die Straße hinab und bemerkte so nebenher: »Fräulein Schank war hier.«
»Wann?« fragte Rosa scharf.
»Kurz eh’ du kamst, ging sie.«
»Dann wollte sie sich wohl über mich beklagen?«
Herr Herz wandte sich schnell um: »Nein! Siehst du, liebes Kind, beklagen – das nicht. Sie ist dir gut. Gewiss! Sie ist dir sehr gut. Nur habt ihr heute etwas miteinander gehabt. – Eine französische Fabel, nicht? – So etwas; und dann bist du fortgegangen.«
»Ich bin fortgegangen!« rief Rosa und stellte sich gerade vor ihrem Vater auf »Sie kann es nicht verlangen, dass ich bleibe, wenn sie mir solche Dinge sagt – und vor all den andern.«
»So schlimm wird es ja nicht sein«, schaltete Herr Herz ein und lächelte erschrocken. »Sie ist vielleicht heftig gewesen. Du darfst ihr das nicht anrechnen. Du selbst hattest vielleicht auch ein wenig Schuld.«
»Und weißt du, was sie mir gesagt hat?«
»Gott, ja, liebes Kind.« Herrn Herz war die Situation peinlich.
»Sie sagte«, fuhr Rosa mit steigender Entrüstung fort, »ich lebe von anderer Leute Barmherzigkeit, ich zahle nur halbes Schulgeld. Das sagt sie vor all den Mädchen, diese Alte!«
»Sie wird das wohl nicht so gesagt haben. Ich will mit ihr sprechen.« Herr Herz lachte, als handelte es sich um einen unwichtigen Gegenstand. Er streckte beide Hände aus, um Rosas Kopf zu fassen, sie aber wandte ihm den Rücken und kehrte zu ihrem Sessel zurück.
Herr Herz verbarg seine Hände in seinen Rocktaschen und sah befangen und hilflos drein. Er wandte dem Fenster den Rücken zu, und sein Haupt ward von einer hellen Lichtaureole umgeben. Die weißen Haare flimmerten und ließen unter den dünnen Silberfäden die Kopfhaut hervorschimmern, zartrosenfarben – wie ein Kinderhaupt mit einem Tüllhäubchen bedeckt.
»Ich gebe zu, liebes Kind«, hub er leise wieder an, »es ist unangenehm, sie sollte so etwas nicht sagen, und ich spreche mit ihr darüber. Aber, da sie nun darauf besteht, dass du diese Fabel lernst, so könntest du sie vielleicht auch lernen. Eine französische Fabel, nicht wahr?«
Rosa antwortete nicht. »Sie meint es gut mit dir«, fuhr Herr Herz fort. »Gott, wie sie dich verwöhnt hat, als du ganz klein warst! Stundenlang spielte sie mit dir. Um ihretwillen kannst du schon eine Fabel lernen.« Rosa schwieg noch immer und betrachtete gedankenvoll die gelbe Tapete. Da lachte Herr Herz plötzlich auf. Ein lustiger Einfall war ihm gekommen: »Weißt du, mein Kind, wir lernen beide diese Fabel. La Fontaines Fabeln habe ich früher gut gekannt. Sie sind lustig. Damals sprach ich das Französische wie ein Pariser. Wie man das alles vergisst! Gern würde ich’s auffrischen. Ah! Du wirst sehen, was für ein schlechtes Gedächtnis ich habe. Wir werden dabei lachen müssen«, und Herr Herz lachte schon jetzt. Rosas Teilnahmslosigkeit aber machte ihn mutiger, er ward ernst und väterlich. Fräulein Schank hatte nicht so ganz unrecht. Manches Wahre lag in dem, was sie gesagt hatte. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, ein Vermögen zu erwerben, und manches verdankte er der Wohltätigkeit anderer. Jetzt beklagte er das. Aber, du lieber Gott, in der Jugend, wer denkt da an so etwas! Nun war es zu spät. Drum sollte Rosa lieb und vernünftig sein; sollte es mit der guten Schank nicht verderben, die es trefflich meinte und, wenn Rosa ihr Examen bestanden, ihr eine Stelle als Lehrerin in der Töchterschule verschaffen wollte. Das war auch der Wunsch der Tante Ina gewesen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, seine Tochter in gesicherter, geachteter Stellung zu wissen, wenn er nicht mehr sein würde. Seine Stimme wurde weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der Gedanke an seinen Tod rührte ihn. »Ja – ja! Wenn man deinen alten Papa hinaustragen wird«, wiederholte er; »die Schank, ich hab’s selbst gehört, sagte zu deiner guten Tante Ina: ›Wenn die Kleine dich verlieren sollte, Ina, du weißt es, ich bin deine Freundin, ich übernehme deine Pflichten.‹ Dann küssten sich die beiden guten Frauenzimmer und weinten miteinander. Vorhin, als sie bei mir war, und sie war recht aufgebracht, sagte sie doch, sie habe gehört, du hättest ein neues Kleid nötig. Sie sei bereits bei Paltow gewesen und habe einen wohlfeilen, dauerhaften Stoff gefunden. Sie zeigte mir die Probe. Sehr hübsch! Braun, mit runden gelben Punkten, so wie Erbsen ungefähr.«
»Ah!« versetzte Rosa zerstreut, »ich kenne das. Sie hat ihrer gelähmten Mutter, der ganz alten Schank, solch ein Kleid gekauft.«
»So? Ich weiß davon nichts. Du wirst ja sehen. Mir hat es gefallen, und sie sagt, es sei wohlfeil und dauerhaft. Mein armes Kind! Teure Kleider kann ich dir ja nicht geben; das weißt du. Wenn ich könnte, ich wollte meine Rosa herausputzen! Aber du bist ja in jedem Kleide hübsch.« Die hellblauen Augen schauten zärtlich zu dem mürrisch daliegenden Mädchen hinüber, und sie wurden feucht von den Tränen, die so leicht die Augen alter Leute überfluten. Er küsste seine Tochter vorsichtig auf den Scheitel und flüsterte: »Komm! Die Agnes ist mit dem Essen fertig.« – »Ah«, meinte Rosa und legte ihren Arm in den ihres Vaters.
Während des Mahles war Herr Herz äußerst lustig, fast ausgelassen. Er stellte sich ungeschickt beim Vorschöpfen der Suppe, neckte Agnes, erzählte aus seiner Ballettänzerlaufbahn viele seltsame Geschichten, die er schon hundert Mal erzählt hatte, und um das Gespräch von vorhin vollends vergessen zu machen, fügte er ihnen kleine gewagte Ausführungen mit halber Stimme bei, wenn Agnes das Zimmer verließ, um etwas zu holen. Rosa lächelte nur matt. In diesem eigensinnigen blonden Kopf war heute die feste Überzeugung entstanden, dort – irgendwo, fern von der Heimat – läge eine schöne, ergötzliche Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um alles Schöne zu fassen. Bitteren Groll hegte Rosa heute gegen die alte, enge Stube mit ihren lächerlichen Möbeln, ihrem schläfrigen Frieden, Groll gegen die ganze widerwärtige Stadt, selbst gegen ihren Vater, der aus der großen Welt in dieses kleinliche Nest flüchten konnte, um fortan nur für den Klub, für Klappekahl und für Lanin zu schwärmen. Da stand die gute Agnes Stockmaier in ihrem weißen Kleide. So hatte dieses große weiße Gesicht immer dreingeschaut, seit Rosa denken konnte. Diese grauen Augen hatten stets so ruhig vor sich hingeblickt, als wären Augen nur auf der Welt, um zu sehen, ob Staub auf der Kommode liege oder ob das Tischtuch Falten schlüge. Oh, und diese Suppe mit ihren Fettaugen, dieser Braten mit seiner langen Sauce! Rosa hatte sie jahraus, jahrein gegessen; täglich hatten sie die Wohnung mit ihrem Duft erfüllt. Gott ja, es war unerträglich klein, gewöhnlich, lächerlich! Ein Gefühl der Rebellion, der Verachtung alles dessen, was es kannte und besaß,