Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke


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Blick zu sei­ner Toch­ter hin­über. Die­se hat­te den Kopf auf die Stuhl­leh­ne zu­rück­ge­bo­gen, die Füße von sich ge­streckt und war in tie­fes Sin­nen ver­lo­ren. End­lich blieb Herr Herz am Fens­ter ste­hen, schau­te auf die Stra­ße hin­ab und be­merk­te so ne­ben­her: »Fräu­lein Schank war hier.«

      »Wann?« frag­te Rosa scharf.

      »Kurz eh’ du kamst, ging sie.«

      »Dann woll­te sie sich wohl über mich be­kla­gen?«

      Herr Herz wand­te sich schnell um: »Nein! Siehst du, lie­bes Kind, be­kla­gen – das nicht. Sie ist dir gut. Ge­wiss! Sie ist dir sehr gut. Nur habt ihr heu­te et­was mit­ein­an­der ge­habt. – Eine fran­zö­si­sche Fa­bel, nicht? – So et­was; und dann bist du fort­ge­gan­gen.«

      »Ich bin fort­ge­gan­gen!« rief Rosa und stell­te sich ge­ra­de vor ih­rem Va­ter auf »Sie kann es nicht ver­lan­gen, dass ich blei­be, wenn sie mir sol­che Din­ge sagt – und vor all den an­dern.«

      »So schlimm wird es ja nicht sein«, schal­te­te Herr Herz ein und lä­chel­te er­schro­cken. »Sie ist viel­leicht hef­tig ge­we­sen. Du darfst ihr das nicht an­rech­nen. Du selbst hat­test viel­leicht auch ein we­nig Schuld.«

      »Und weißt du, was sie mir ge­sagt hat?«

      »Gott, ja, lie­bes Kind.« Herrn Herz war die Si­tua­ti­on pein­lich.

      »Sie sag­te«, fuhr Rosa mit stei­gen­der Ent­rüs­tung fort, »ich lebe von an­de­rer Leu­te Barm­her­zig­keit, ich zah­le nur hal­b­es Schul­geld. Das sagt sie vor all den Mäd­chen, die­se Alte!«

      »Sie wird das wohl nicht so ge­sagt ha­ben. Ich will mit ihr spre­chen.« Herr Herz lach­te, als han­del­te es sich um einen un­wich­ti­gen Ge­gen­stand. Er streck­te bei­de Hän­de aus, um Ro­sas Kopf zu fas­sen, sie aber wand­te ihm den Rücken und kehr­te zu ih­rem Ses­sel zu­rück.

      Herr Herz ver­barg sei­ne Hän­de in sei­nen Rock­ta­schen und sah be­fan­gen und hilf­los drein. Er wand­te dem Fens­ter den Rücken zu, und sein Haupt ward von ei­ner hel­len Lichtau­reo­le um­ge­ben. Die wei­ßen Haa­re flim­mer­ten und lie­ßen un­ter den dün­nen Sil­ber­fä­den die Kopf­haut her­vor­schim­mern, zar­tro­sen­far­ben – wie ein Kin­der­haupt mit ei­nem Tüll­häub­chen be­deckt.

      »Ich gebe zu, lie­bes Kind«, hub er lei­se wie­der an, »es ist un­an­ge­nehm, sie soll­te so et­was nicht sa­gen, und ich spre­che mit ihr dar­über. Aber, da sie nun dar­auf be­steht, dass du die­se Fa­bel lernst, so könn­test du sie viel­leicht auch ler­nen. Eine fran­zö­si­sche Fa­bel, nicht wahr?«

      Rosa ant­wor­te­te nicht. »Sie meint es gut mit dir«, fuhr Herr Herz fort. »Gott, wie sie dich ver­wöhnt hat, als du ganz klein warst! Stun­den­lang spiel­te sie mit dir. Um ih­ret­wil­len kannst du schon eine Fa­bel ler­nen.« Rosa schwieg noch im­mer und be­trach­te­te ge­dan­ken­voll die gel­be Ta­pe­te. Da lach­te Herr Herz plötz­lich auf. Ein lus­ti­ger Ein­fall war ihm ge­kom­men: »Weißt du, mein Kind, wir ler­nen bei­de die­se Fa­bel. La Fon­tai­nes Fa­beln habe ich frü­her gut ge­kannt. Sie sind lus­tig. Da­mals sprach ich das Fran­zö­si­sche wie ein Pa­ri­ser. Wie man das al­les ver­gisst! Gern wür­de ich’s auf­fri­schen. Ah! Du wirst se­hen, was für ein schlech­tes Ge­dächt­nis ich habe. Wir wer­den da­bei la­chen müs­sen«, und Herr Herz lach­te schon jetzt. Ro­sas Teil­nahms­lo­sig­keit aber mach­te ihn mu­ti­ger, er ward ernst und vä­ter­lich. Fräu­lein Schank hat­te nicht so ganz un­recht. Man­ches Wah­re lag in dem, was sie ge­sagt hat­te. Es war ihm nicht ver­gönnt ge­we­sen, ein Ver­mö­gen zu er­wer­ben, und man­ches ver­dank­te er der Wohl­tä­tig­keit an­de­rer. Jetzt be­klag­te er das. Aber, du lie­ber Gott, in der Ju­gend, wer denkt da an so et­was! Nun war es zu spät. Drum soll­te Rosa lieb und ver­nünf­tig sein; soll­te es mit der gu­ten Schank nicht ver­der­ben, die es treff­lich mein­te und, wenn Rosa ihr Ex­amen be­stan­den, ihr eine Stel­le als Leh­re­rin in der Töchter­schu­le ver­schaf­fen woll­te. Das war auch der Wunsch der Tan­te Ina ge­we­sen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, sei­ne Toch­ter in ge­si­cher­ter, ge­ach­te­ter Stel­lung zu wis­sen, wenn er nicht mehr sein wür­de. Sei­ne Stim­me wur­de weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Au­gen. Der Ge­dan­ke an sei­nen Tod rühr­te ihn. »Ja – ja! Wenn man dei­nen al­ten Papa hin­aus­tra­gen wird«, wie­der­hol­te er; »die Schank, ich hab’s selbst ge­hört, sag­te zu dei­ner gu­ten Tan­te Ina: ›Wenn die Klei­ne dich ver­lie­ren soll­te, Ina, du weißt es, ich bin dei­ne Freun­din, ich über­neh­me dei­ne Pf­lich­ten.‹ Dann küss­ten sich die bei­den gu­ten Frau­en­zim­mer und wein­ten mit­ein­an­der. Vor­hin, als sie bei mir war, und sie war recht auf­ge­bracht, sag­te sie doch, sie habe ge­hört, du hät­test ein neu­es Kleid nö­tig. Sie sei be­reits bei Pal­tow ge­we­sen und habe einen wohl­fei­len, dau­er­haf­ten Stoff ge­fun­den. Sie zeig­te mir die Pro­be. Sehr hübsch! Braun, mit run­den gel­ben Punk­ten, so wie Erb­sen un­ge­fähr.«

      »Ah!« ver­setz­te Rosa zer­streut, »ich ken­ne das. Sie hat ih­rer ge­lähm­ten Mut­ter, der ganz al­ten Schank, solch ein Kleid ge­kauft.«

      »So? Ich weiß da­von nichts. Du wirst ja se­hen. Mir hat es ge­fal­len, und sie sagt, es sei wohl­feil und dau­er­haft. Mein ar­mes Kind! Teu­re Klei­der kann ich dir ja nicht ge­ben; das weißt du. Wenn ich könn­te, ich woll­te mei­ne Rosa her­aus­put­zen! Aber du bist ja in je­dem Klei­de hübsch.« Die hell­blau­en Au­gen schau­ten zärt­lich zu dem mür­risch da­lie­gen­den Mäd­chen hin­über, und sie wur­den feucht von den Trä­nen, die so leicht die Au­gen al­ter Leu­te über­flu­ten. Er küss­te sei­ne Toch­ter vor­sich­tig auf den Schei­tel und flüs­ter­te: »Komm! Die Ag­nes ist mit dem Es­sen fer­tig.« – »Ah«, mein­te Rosa und leg­te ih­ren Arm in den ih­res Va­ters.

      Wäh­rend des Mah­les war Herr Herz äu­ßerst lus­tig, fast aus­ge­las­sen. Er stell­te sich un­ge­schickt beim Vor­schöp­fen der Sup­pe, neck­te Ag­nes, er­zähl­te aus sei­ner Bal­let­tän­zer­lauf­bahn vie­le selt­sa­me Ge­schich­ten, die er schon hun­dert Mal er­zählt hat­te, und um das Ge­spräch von vor­hin vollends ver­ges­sen zu ma­chen, füg­te er ih­nen klei­ne ge­wag­te Aus­füh­run­gen mit hal­ber Stim­me bei, wenn Ag­nes das Zim­mer ver­ließ, um et­was zu ho­len. Rosa lä­chel­te nur matt. In die­sem ei­gen­sin­ni­gen blon­den Kopf war heu­te die fes­te Über­zeu­gung ent­stan­den, dort – ir­gend­wo, fern von der Hei­mat – läge eine schö­ne, er­götz­li­che Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauch­te nur die Hand aus­zu­stre­cken, um al­les Schö­ne zu fas­sen. Bit­te­ren Groll heg­te Rosa heu­te ge­gen die alte, enge Stu­be mit ih­ren lä­cher­li­chen Mö­beln, ih­rem schläf­ri­gen Frie­den, Groll ge­gen die gan­ze wi­der­wär­ti­ge Stadt, selbst ge­gen ih­ren Va­ter, der aus der großen Welt in die­ses klein­li­che Nest flüch­ten konn­te, um fort­an nur für den Klub, für Klappe­kahl und für La­nin zu schwär­men. Da stand die gute Ag­nes Stock­mai­er in ih­rem wei­ßen Klei­de. So hat­te die­ses große wei­ße Ge­sicht im­mer drein­ge­schaut, seit Rosa den­ken konn­te. Die­se grau­en Au­gen hat­ten stets so ru­hig vor sich hin­ge­blickt, als wä­ren Au­gen nur auf der Welt, um zu se­hen, ob Staub auf der Kom­mo­de lie­ge oder ob das Tisch­tuch Fal­ten schlü­ge. Oh, und die­se Sup­pe mit ih­ren Fet­tau­gen, die­ser Bra­ten mit sei­ner lan­gen Sau­ce! Rosa hat­te sie jahraus, jahrein ge­ges­sen; täg­lich hat­ten sie die Woh­nung mit ih­rem Duft er­füllt. Gott ja, es war un­er­träg­lich klein, ge­wöhn­lich, lä­cher­lich! Ein Ge­fühl der Re­bel­li­on, der Ver­ach­tung al­les des­sen, was es kann­te und be­saß,