Greg F. Gifune

JUDAS GOAT


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kannte diese Szene und erinnerte sich nur zu gut an sie. Er wusste zum Beispiel, dass er nähergekommen war und die von ihm geworfenen Schatten letzten Endes ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. Er erinnerte sich auch noch daran, dass sie mit einem schüchternen Lächeln zu ihm hochgeblickt hatte. Dieses Lächeln … so absolut unschuldig mit einem Hauch von Schalkhaftigkeit … ergriff ihn sofort und ließ ihn im Unklaren darüber, was er sagen sollte. Ihm fiel nichts anderes ein, als ihr zuzublinzeln, so als teilten sie ein tiefgründiges Geheimnis.

       Sheena blinzelte zurück. Sein Geheimnis war also bei ihr sicher.

       Er hockte vor ihr, als sie in ihre Jackentasche fasste und einen Kugelschreiber herauszog. Ihre Augen blieben die ganze Zeit über aufeinander gerichtet … selbst als sich ihr Lächeln in etwas schrecklich Dämonisches verwandelte … selbst als sie lässig ihren Handteller nach oben drehte und den Kuli in ihren freigelegten Unterarm stach. Sie hatte den Unterarm entblößt, nur um den Stift immer und immer wieder in das geschundene Fleisch zu rammen … selbst als Blut aus ihren Wunden floss und auf ihren Nacken und ihr Gesicht spritzte.

      Ein kompliziertes Netz aus Geflüster und Getuschel lockte ihn von den Traumbildern zurück in die Dunkelheit des Motelzimmers …

       »All deine Idole sind zu Sand geworden.«

      Das Gemurmel der Schatten neben dem Bett klang wie zahllose Stimmen, die sich wie ein gruseliges Echo üblen Geflüsters übereinanderlegten. Als eine Stimme verstummte, huschte eine andere vorbei; tausende Schlangen zischten aus einem nahegelegenen Nest, die Seufzer alter Dämonen heiß an seinem Gesicht.

      Schuld … Bedauern … Trauer … Angst … Wut … Tränen … sie wurden nur noch stärker.

      Abgesehen von Lennys gebeugtem Rücken war er wie gelähmt; die Arme ausgestreckt, die Beine steif – als wäre er von irgendetwas in Beschlag genommen worden. Er sabberte mit geöffnetem Mund, seine weit aufgerissenen Augen waren blutunterlaufen und glitzerten in der Dunkelheit.

       Gott, hilf mir! Bitte, ich … ich kann nicht atmen, ich kann nicht …

      »Deine Götter sind falsch.« Ein Geräusch knirschte leise in seinen Ohren. Wie Blätter, die von irgendwelchen Füßen zermalmt werden, dachte Lenny. »Keine Blätter«, flüsterte der Unsichtbare. »Knochen

      ***

      Nach einer Nacht, in der er aufgrund höllischer Albträume nur zeitweise geschlafen hatte, war Lenny sehr erleichtert, endlich die Anzeichen des nahenden Morgens zu erkennen. Sein Körper schmerzte, als hätte er die ganze Nacht über Gräber ausgegraben. Vielleicht hatte er das ja tatsächlich getan. Ein leichter Kopfschmerz war immer noch an seinen Schläfen zu spüren. Obwohl eine heiße Dusche den Muskelschmerz schließlich bezwang, half sie nur wenig bei der Linderung seiner Kopfschmerzen. Die seltsamen Träume hatten sich mittlerweile auf einzelne Einblendungen reduziert – Stücke und Teile eines größeren, verlorenen Ganzen. Trotzdem hatte er viele der Bilder noch genau in Erinnerung; Überbleibsel von einem anderen Ort und aus einer anderen Zeit.

      Die Erinnerungen an Sheena waren immer ein Teil seines Lebens gewesen, aber im Allgemeinen hatte er es geschafft, sie zu unterdrücken und sie im Hintergrund zu halten. Diese letzte Flut an Erinnerungen und Träumen, die er oft nicht voneinander unterscheiden konnte – hatte vor sechs Monaten begonnen, als Lenny zum ersten Mal von Sheenas Tod erfahren hatte. In der letzten Zeit waren sie zwar intensiver geworden, aber er hatte nie etwas Derartiges wie in der vergangenen Nacht erlebt. Es schien so, als würden sie immer stärker und verzerrter werden, je mehr er sich dem Ort näherte, an dem Sheena gelebt hatte.

      Kurz nach Sonnenaufgang war er schließlich wieder auf der Straße unterwegs.

      -3-

      Lenny flitzte die kurvenreiche Landstraße entlang, und hielt nach Straßenschildern Ausschau, aber Meile für Meile sah er lediglich dichte Wälder, die auf beiden Seiten in die Höhe ragten. Er war seiner Wegbeschreibung zur richtigen Ausfahrt nach Trapper Woods gefolgt, hatte aber bisher weder ein anderes Auto noch irgendwelche Anzeichen von Zivilisation gesehen. Er wollte sich gerade erneut seiner Wegbeschreibung widmen, als er auf einmal ein uraltes Schild auf der Seite erblickte, auf der eine Straße vor ihm aus dem Wald auftauchte.

      TRAPPER WOODS, gegründet 1782.

      Lenny verlangsamte seine Fahrt. Nach einer Kurve erblickte er endlich die Anfänge einer Stadt. Er hielt sich rechts, folgte einem anderen Schild – dieses Mal für die Hauptstraße – und fuhr direkt auf einen reizenden kleinen Boulevard zu. Malerisch wie eine Postkarte, mit unfassbar sauberen Bürgersteigen und sorgfältig erhaltenen Gebäuden. Anstelle von Handelsketten, gewöhnlicher Architektur oder Fast Food-Restaurants bestand das Geschäftsviertel von Trapper Woods aus bescheidenen Häusern, die alle in einer Reihe auf quadratischen, sehr gepflegten Rasenflächen standen. Hier waren vor allem kleine Einzelhandelsgeschäfte zu finden; direkt dahinter lag ein einladender Stadtplatz mit Bänken, einem öffentlichen Park und einem kleinen Brunnen. In dessen Mitte befand sich die Statue eines grauhaarigen Grenzers, der eine Flinte in seinen Händen und eine Waschbär-Mütze auf seinem Kopf trug, und förmlich einem Roman von James Fenimore Cooper entsprungen zu sein schien.

      Auf einer nahegelegenen Straße, die auf einem großen Hügel in der Ferne lag, erkannte er eine Poststation, das Rathaus und eine Bücherei. Sie alle glichen historischen Gemäuern aus einer anderen Ära, die im Laufe der Jahre sorgfältig restauriert und saniert worden waren. Sollte Trapper Woods eine eigene Polizeistation und eine Feuerwehr haben, befanden sich diese offensichtlich irgendwo anders in der Stadt, da Lenny von ihnen nicht das Geringste sah.

      Er lenkte den Wagen nun in eine leere Parklücke und betrachtete einen Moment lang seine Umgebung. Es gab so gut wie keinen Verkehr; und er zählte nur drei Personen, die die Straße entlangschlenderten. Dieser Platz war das absolute Gegenteil zum stockenden lauten Verkehr und den über Manhattans Bürgersteige strömenden Menschenmassen, an die er so sehr gewöhnt war. Aber in Anbetracht aller Dinge war dies vielleicht gar keine schlechte Sache.

      Lenny stieg jetzt aus dem Auto in die brutale Kälte hinaus und überquerte eilig die Straße zu einer Rechtsanwaltskanzlei an der Ecke.

      Kaum war er durch die Tür getreten, befand er sich auch schon in einem nüchternen Empfangsbereich.

      Eine Frau mittleren Alters hinter einem Schreibtisch, schaute ihn jetzt über ihre halben Brillengläser hinweg an und lächelte. »Guten Morgen! Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

      »Guten Morgen«, sagte Lenny und bemerkte, dass sie, obwohl sie drinnen arbeitete, lange weiße Handschuhe trug. Er versuchte, nicht auf ihre Hände zu starren; vielleicht litt sie ja an einer Hautkrankheit oder etwas Ähnlichem. »Mein Name ist Leonard Cates, ich würde gern Mr. Kinney sprechen.«

      Die Frau nahm nun ihre Brille ab, legte die Papiere, mit denen sie beschäftigt gewesen war, zur Seite und griff zum Telefon, das an der Ecke ihres Schreibtisches stand. »Einen Augenblick, bitte.« Sie gab die Information telefonisch weiter, legte auf und wies auf drei bequeme Stühle an der Seitenwand. »Mr. Kinney wird gleich bei Ihnen sein.«

      »Danke.« Er zog seine Handschuhe aus und nahm den Schal ab.

      Sie zeigte jetzt auf einen langen Tisch an der Rückwand, auf dem eine Kanne Kaffee, Styroporbecher, Papierservietten und eine Schachtel mit Donuts standen. »Bedienen Sie sich ruhig.«

      Lenny goss sich daraufhin einen Becher Kaffee ein und wollte sich gerade einen Schokoladen-Donut aus der Schachtel nehmen, als ein ungefähr sechzig Jahre alter, äußerst gepflegter Mann in einem teuren maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug aus seinem Büro trat. »Mr. Cates?« Mit zwei schnellen Schritten kam er auf Lenny zu und reichte ihm die Hand. »Alec Kinney.«

      Lenny schüttelte die Hand des Mannes, die sich wie ein Schraubstock um seine eigene schloss. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte er ein wenig gequält.

      Mr. Kinney ließ ihn los und zeigte zu seinem Büro. »Kommen