Greg F. Gifune

JUDAS GOAT


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Ein riesiger Mahagoni-Schreibtisch, eine Couch mit passenden Stühlen und eine voll ausgestattete Bar befanden sich darin. Mehrere gerahmte Diplome und Auszeichnungen hingen an den Wänden, die Jalousien an den beiden großen Fenstern, die auf die Hauptstraße hinausgingen, waren zwar heruntergelassen, sperrten die Morgensonne aber nicht komplett aus.

      Während Kinney sich auf einem Drehstuhl aus feinstem Leder niedergelassen hatte und sich damit zu einem Aktenschrank herumdrehte, saß Lenny auf einem der passenden Stühle vor dem Schreibtisch und hielt seinen Kaffeebecher mit beiden Händen fest. Da seine Hand noch immer von dem irrsinnig festen Händedruck schmerzte, tat die Wärme gut, die von dem Becher ausstrahlte.

      Kinney nahm nun einen Aktenordner aus dem Schrank heraus, drehte sich zurück zu seinem Schreibtisch und rollte näher heran. Der Anwalt entsprach überhaupt nicht dem Bild, das Lenny sich von ihm bei ihrem Telefonat gemacht hatte. Er hatte ein „Landei“ erwartet, was Kinney aber nicht im Entferntesten war. Er war groß, schlank und stattlich, trug teuren Schmuck, war fachmännisch manikürt und hatte ordentlich gekämmtes silbergraues Haar und dazu noch einen passenden bleistiftdünnen Schnurrbart. »Ich weiß, dass dies keine angenehme Situation für Sie ist«, sagte er nun, »aber die Angelegenheit kann schnell und sauber abgewickelt werden. Nach der Testamentseröffnung geht jetzt alles automatisch auf Sie über. Ich benötige nur Ihre Unterschrift auf mehreren Standardformularen, danach können Sie schon wieder gehen. Der ganze Papierkram der Stadt, wie Steuerbescheide und dergleichen, liegt der Akte bei. Diese nehmen Sie nachher einfach mit und dann können Sie sich alles in Ruhe durchlesen. Haben Sie sich schon entschieden, was Sie mit der Immobilie machen werden?«

      »Noch nicht.«

      »Wenn Sie einen Makler brauchen, sagen Sie mir einfach Bescheid, dann kann ich für Sie den Kontakt zu einem wirklich guten herstellen.« Er öffnete den Ordner und breitete ihn auf seinem Schreibtisch aus. »Das Haus ist ungefähr zehn Minuten von hier entfernt. Es hat keine Zentralheizung, dafür aber einen Holzofen.«

      »Gibt es dort Strom?«

      »Aber natürlich! Er wurde aber, ebenso wie das Telefon, kurz nach Mrs. McElroys Tod abgestellt. Wenn Sie vorhaben, ein Weilchen dortzubleiben, kann dieses Problemchen aber ganz schnell durch einen Anruf beim Elektrizitätswerk und dem Telefonanbieter behoben werden. Oder Sie besorgen sich als Alternative erst einmal einige Kerzen oder eine schöne Öllampe. Bei Harrys Hardware ein paar Häuser weiter werden Sie gut beraten und haben eine große Auswahl.«

      Lenny konnte sich nicht entscheiden, ob er Alec Kinney mochte oder nicht.

      Er widmete sich wieder den Papieren. »Auf jeden Fall hat das Haus zwei Etagen, ein Schlafzimmer mit einem großen Bad, einen unfertigen Keller und steht auf einem drei Hektar großen Grundstück.«

      Im Vergleich zu den als Appartement deklarierten Besenkammern, in denen er über die Jahre hinweg gelebt hatte, klang diese Immobilie nahezu palastartig. »Ich habe noch ein paar Fragen zu Sheena und hoffe, dass Sie mir diese beantworten können.«

      »Ich will es gern versuchen, aber ich kannte sie nicht wirklich gut. Wir haben uns nur zwei Mal getroffen.«

      »Wie lang hat sie denn in Trapper Woods gewohnt?«

      »Nur etwas weniger als ein Jahr, nachdem sie von Massachusetts hierher gezogen ist. Sie hat das Grundstück aus dem Vermögen des ursprünglichen Eigentümers erworben, einem älteren Ortsansässigen, der wenige Monate vor ihrer Ankunft gestorben war. Da Mrs. McElroy in bar bezahlt hat, gab es bei ihrem Tod auch nichts in puncto Hypotheken zu regeln. Als ihr Vermögensverwalter kann ich Ihnen sagen, dass ihr nach dem Tod ihres Ehemanns eine ziemlich hohe Versicherungssumme ausgezahlt worden war.«

      Ehemann?, dachte Lenny verwirrt. Er hatte zwar vermutet, dass sie verheiratet gewesen war und Kinder gehabt hatte, sich aber nie tiefere Gedanken dazu gemacht. Zum ersten Mal war es mehr als nur eine reine Idee – es war die Realität. Zahlreiche Bilder liefen daraufhin vor seinem geistigen Auge ab. Wer war ihr Ehemann gewesen? Wie war er? Waren sie glücklich gewesen? Obwohl er wusste, dass solche Gefühle vollkommen absurd waren, empfand er plötzlich eine seltsame Eifersucht.

      »Er starb anscheinend bei einem Betriebsunfall«, fuhr Kinney fort, »und sie erhielt daraufhin eine beträchtliche Summe Geld aus seiner Lebensversicherungspolice. Da sie und ihr Ehemann allerdings einen beachtlichen Schuldenberg angehäuft hatten, hat sie diesen mit einem Großteil aus der Versicherung abbezahlt. Außerdem hat sie hohe Beträge für das Häuschen ausgegeben und danach vom restlichen Geld gelebt. Soviel ich weiß, ist sie nicht berufstätig gewesen. Zum Zeitpunkt ihres Todes belief sich ihr Guthaben nur noch auf bescheidene vierzigtausend Dollar. Nachdem ein paar Rechnungen und Ausgaben von ihr sowie mein Honorar und die Kosten für die von ihr gewünschte Überführung ihres Leichnams nach Massachusetts beglichen worden waren, wurden zwanzigtausend Dollar an ein Tierheim in Manchester gespendet und ihr Auto einer Veteranengruppe in Concord vermacht. Das verbliebene Geld in Höhe von fast fünfzehntausend Dollar wurde Ihnen zusammen mit dem Haus und seiner Einrichtung vererbt.«

      Obwohl Lenny die meiste Zeit seines Lebens nur von einer Gehaltsabrechnung zur nächsten gelebt und zu keiner Zeit mehr als ein paar hundert Dollar auf seinem Girokonto gehabt hatte, versuchte er, jetzt nicht an das Geld oder den monetären Wert des Hauses zu denken. »Wissen Sie vielleicht, warum sie hierher gezogen ist?«

      »Vielleicht wollte sie einen Ort haben, an dem sie niemand kannte und sie ganz in Ruhe um den Verlust ihres Ehemannes trauern konnte. Sie schien eine nette Frau zu sein, war aber verständlicherweise bekümmert und sehr traurig.«

      »Ich versuche nur herauszufinden, warum sie gerade mir alles vermacht hat. Ich habe sie zwanzig Jahre lang weder gesprochen noch gesehen.«

      »Das haben Sie mir schon am Telefon erzählt.«

      »Hatten sie und ihr Mann denn keine Familie?«

      »Sie hat mir erzählt, dass sie keine Kinder hatten.«

      »Das klingt gar nicht nach ihr. Sie wollte immer Kinder haben.« Kinney schwieg. »Aber warum gerade ich? Es muss doch jemand anderen in ihrem Leben gegeben haben, einen Freund oder jemand, der ihr nahestand.«

      »Ich habe schon viel seltsamere Dinge erlebt in meiner Berufslaufbahn.« Er kicherte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte einmal eine Klientin, die hat versucht, den Vögeln in ihrem Hof ihr Haus zu vermachen. Menschen sind manchmal sehr seltsam, Mr. Cates. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es weder eine Familie noch nahe Verwandte gab.«

      »Ich weiß, dass sie keinen Kontakt zu ihrem Vater hatte«, sagte Lenny. »Sie ist bei ihrer Mutter aufgewachsen und hatte auch noch eine ältere Schwester.«

      »Diese sind leider beide schon verstorben. Als sie ihr Testament gemacht hat, hat sie mir erzählt, dass ihre Mutter ein paar Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben war. Ihre Schwester war schon vor mehr als zehn Jahren an Krebs gestorben. Sie hatte auch betont, dass es ihrem Wissen nach keine weiteren lebenden Verwandten gäbe. Meinem Anschein nach war sie sehr einsam. Offensichtlich war die arme Frau eine Zeit lang von einer dunklen Wolke verfolgt worden. Und dann auch noch so einen sinnlosen und tragischen Tod zu sterben … das hat dem Ganzen ein wirklich trauriges Ende bereitet.«

      Eine vage Erinnerung an Sheenas Mutter und ihre Schwester tauchte nun vor Lennys geistigem Auge auf. Er hatte beide nur ein einziges Mal getroffen.

      »Sie sagten am Telefon, dass sie an den Folgen eines Sturzes gestorben ist.«

      »Ja, offensichtlich hat sie ihr Gleichgewicht verloren und ist gefallen. Sie wurde in der Küche unten an der Treppe gefunden.«

      Lenny wurde ganz heiß im Gesicht. »Sie ist in dem Haus gestorben?«

      »Die Treppen im Haus sind zwar nicht besonders lang, aber dafür ziemlich steil. Mrs. McElroy ist offenbar ganz unglücklich gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Der Rechtsmediziner sagte, dass sie sofort tot gewesen ist.«

      »Ich wusste gar nicht, dass sie in dem Haus gestorben ist.«

      »Sind Sie etwa abergläubisch, Mr. Cates?«

      »Nicht besonders, aber es ist dennoch