in der dritten Etage. Hier war es bedeutend ruhiger als auf den Etagen, wo billige Massenartikel angeboten wurden. Auf langen Rollständern hing die Herrenoberbekleidung. Die Verkäufer waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Sie waren von der Direktion angewiesen, sich im Hintergrund zu halten. Die Kunden sollten möglichst unbelästigt bleiben und in aller Ruhe aussuchen und wählen können.
Josuah Parker, den Regenschirm über den linken Unterarm gehängt, schritt an den dichtgefüllten Kleiderständern entlang. Sein Ziel war die Wäscheabteilung, die sich im Hintergrund befand. Hier herrschte schon ein etwas stärkerer Publikumsandrang.
Plötzlich entdeckte Parker ein Beinpaar.
Es ragte hinter einem Anzugständer hervor. Die tadellos gepflegten Schuhe, die dezenten Fesselsocken und die Hosenbeine deuteten an, daß der Besitzer dieser Dinge nicht gerade Durchschnitt war.
Parker fiel aber auch auf, daß die Füße in diesen Schuhen auf seltsame Art und Weise eingedreht waren. Sie schienen kein Körpergewicht tragen zu müssen.
Josuah Parker ließ sich natürlich nichts anmerken. Sein Pokergesicht veränderte sich nicht. Er ging weiter, als habe er nichts gesehen. Er schien das am Boden schleifende Beinpaar bereits wieder vergessen zu haben. Dann aber bog der Butler scharf ab, teilte die Anzüge und entdeckte den Mann, dessen Kopf an der verchromten Querstange angebunden zu sein schien.
Seine Augen verengten sich etwas. Parker vermied jedes Aufsehen. Er faßte sofort nach den Wangen des Erhängten, dessen Augen ihn selbst noch im Tode entsetzt ansahen.
Die schlaffen Wangen des etwa 50-jährigen Toten wiesen normale Körpertemperatur auf. Der Mann schien erst vor wenigen Minuten erhängt worden zu sein. Ein Selbstmord schied aus. Das zeigte schon die Schwellung an der rechten Schläfenseite. Vor dem Erhängen mußte der Mann niedergeschlagen worden sein.
Josuah Parker sah sich verstohlen um.
Eine Leiche im ›Jackson‹! Das war genau das, was nicht bekannt werden durfte. Auf eine Reklame dieser Art konnte die Direktion des Warenhauses gern verzichten. Jetzt galt es schnell zu handeln. Vielleicht hielt der Mörder sich noch im Warenhaus auf.
Doch wie ihn finden? Ein aussichtsloses Unternehmen. Selbst für einen Josuah Parker …
*
Der Mörder verhielt sich genauso ruhig wie Josuah Parker.
Er hatte die Rolltreppen benutzt und erreichte nun das Erdgeschoß. Er wollte den riesigen Bau verlassen. Der Mörder war ein dunkelgrau gekleideter Mann, der etwa 38 Jahre alt sein mochte. Freundliche Augen blitzten hinter Brillengläsern, die blau eingefärbt waren. Dieser Mann hätte hinter jedem Bankschalter Figur gemacht. Er war der Typ Mann, den man gern nach dem Weg fragt oder um Feuer bittet.
Er hatte den Südausgang des ›Jackson‹ bereits erreicht und wollte hinaus auf die Straße treten, als er plötzlich stehenblieb, sich umwandte und zurück in das Warenhaus ging.
Er schien etwas vergessen zu haben. Es mußte etwas sehr Wichtiges sein, sonst wäre er als Mörder bestimmt nicht in das Haus zurückgekehrt, in dem er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte. Nun, die Lösung für sein Verhalten war mehr als simpel. Der Mörder wollte sich Zigaretten kaufen. Es zeugte für seine Selbstsicherheit und Frechheit, daß er diesen belanglosen Kauf nicht aufschob. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher.
Vor dem Tabakstand gleich rechts vom Ausgang mußte er ein paar Sekunden warten. Er ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Er beobachtete das schlanke Zigarettenmädchen, das ihn freundlich, aber seelenlos anlächelte.
Der Mörder merkte nicht, daß er das Opfer eines raffinierten Taschendiebes wurde. Er wurde von dem Zigarettenmädchen zu sehr abgelenkt. Der Taschendieb, ein schmaler Bursche, etwa 24 Jahre alt, flink wie ein Wiesel und mit den schwarzen Knopfaugen eines Frettchens, fiel gegen den Mörder und schob ihn etwas zur Seite.
Im gleichen Moment schlitzte eine Rasierklinge den Anzugstoff über der Brieftasche auf. Mit schnellem Griff fingerte der Taschendieb nach der Brieftasche, die erstaunlich gut gefüllt war und vor Papieren und Briefen förmlich überquoll.
Das alles geschah innerhalb einer knappen Sekunde!
Der Taschendieb entschuldigte sich, ließ die Brieftasche verschwinden und wandte sich ab.
Der Mörder hatte noch nichts bemerkt. Er beantwortete das mechanische Lächeln der Zigarettenverkäuferin und sah sie verständnislos an, als sie zusammenschreckte und auf seinen Anzug deutete.
Synchron mit dieser Bewegung hörte er neben sich eine halblaute, aber harte Stimme.
»Bleiben Sie stehen, Mann, wir haben alles gesehen!«
Der Mörder wußte nicht, daß der Taschendieb entdeckt und gestellt worden war. Er glaubte, angesprochen worden zu sein. Und er wußte schließlich, daß er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte.
Der Mörder war kein Anfänger. Er glaubte zu wissen, daß ein paar Revolvermündungen auf ihn gerichtet waren. Er blieb unbeweglich stehen. Seine Gedanken schossen wie Ratten hin und her. Wie konnte er sich durchschlagen?
Neben ihm entstand ein heftiger Wortwechsel. Eine schrille, noch junge Stimme protestierte gegen eine Festnahme. Der Mörder riskierte es, den Kopf herumzunehmen.
Er schluckte, brauchte einige Zeit, bis er den Schrecken verdaut hatte.
Dann sah er seine Brieftasche. Sie befand sich in der Hand eines unauffällig gekleideten Mannes. Die Brieftasche verschwand in der Jackettasche dieses Mannes, der den Arm eines jungen Mannes mit einem Polizeigriff festhielt.
»Meine Brieftasche …!« hörte sich der Mörder sagen. Seine Stimme klang belegt, war heiser. Schließlich wußte er sehr genau, welchen Wert diese Brieftasche für ihn hatte. Dafür hatte er einen Mord begangen.
»Sie haben nichts gemerkt?« fragte ihn der Mann, der die Brieftasche nun besaß. »Ich bin Hausdetektiv Porch, Sir.«
»Mein Kompliment«, sagte der Mörder, dessen Stimme schon wieder normal klang. »Sie haben gut aufgepaßt.«
»Er schlitzte Ihr Jackett auf«, sagte Detektiv Porch.
»Verdammt …!« stieß der Mann hervor. Er holte unwillkürlich zu einem Fausthieb aus. Der junge Taschendieb mit der schrillen Stimme duckte sich ängstlich.
»Ich schlage vor, wir vermeiden jedes Aufsehen«, sagte Detektiv Porch. »Darf ich Sie höflichst bitten, mit in mein bescheidenes Büro zu kommen, Sir?«
»Ich bin in Eile«, antwortete der Mörder. »Geben Sie mir die Brieftasche zurück! Ich werde keine Anklage gegen diesen Strolch erheben.«
»Tut mir leid, die Brieftasche kann ich Ihnen erst aushändigen, wenn ich genau weiß, daß Sie der Besitzer sind.«
»Mann, das sehen Sie doch«, fuhr der Mörder den Hausdetektiv scharf an. Er deutete auf sein zerschlitztes Jackett. »Brauchen Sie noch bessere Beweise?«
»Ich brauche vor allen Dingen Ihre Unterschrift unter das Protokoll«, gab der Hausdetektiv lächelnd zurück. »In wenigen Minuten können Sie dann schon gehen.«
Der Mörder überlegte blitzschnell.
Auf einen Wortwechsel wollte er es nicht ankommen lassen. Nur kein Aufsehen erregen, war seine Devise. Auf der anderen Seite konnte er nicht an die Brieftasche heran, wenn er sich dem Wunsch des Hausdetektivs nicht beugte. Er nickte.
»Schön, bringen wir es hinter uns«, meinte er mit versöhnlicher Stimme und rang sich ein breites Lächeln ab. Dabei überlegte er, ob der Erhängte am Kleiderständer wohl schon entdeckt worden war.
Der junge Taschendieb ließ sich ohne Schwierigkeiten abführen. Er war sehr kleinlaut geworden. Hinter Hausdetektiv Porch und dem Dieb ging der Mörder. Seine rechte Hand hatte er in die Tasche gesteckt. Die Finger umspannten den kurzen Kolben einer flachen, automatischen Waffe. Er brauchte nur die Sicherung umzulegen, dann konnte er alle kommenden Schwierigkeiten mit einem Schuß beenden.
Noch