werden Sie erst zu ihrem Sahnekaffee sagen?« rief Benassis.
»Lieber möcht' ich unsere hübsche Wirtin hören!«
»Ei, was ist mir das für ein Benehmen, Genestas?« sagte Benassis. – »Höre, mein Kind,« fuhr der Arzt, sich an die Fosseuse wendend, fort, »der Offizier, den du hier bei dir siehst, verbirgt ein ausgezeichnetes Herz unter einer strengen Außenseite, und du kannst hier nach deinem Belieben reden. Sprich oder schweig, wir wollen dir nicht lästig fallen. Wenn du aber je angehört und verstanden werden kannst, armes Kind, so gewißlich von den drei Leuten, mit denen du im Augenblick zusammen bist. Erzähle nur deine früheren Liebesgeschichten, dann wirst du deinen augenblicklichen Herzensgeheimnissen nichts entziehen.«
»Da bringt uns Mariette den Kaffee,« antwortete sie. »Wenn Sie sich alle bedient haben, will ich Ihnen gern meine Liebesgeschichten erzählen. – Doch der Herr Major wird auch sein Versprechen nicht vergessen?« fuhr sie fort und warf Genestas einen gleichzeitig bescheidenen und herausfordernden Blick zu.
»Dessen bin ich unfähig, mein Fräulein,« antwortete Genestas respektvoll.
»Mit sechzehn Jahren«, sagte die Fosseuse, »sah ich mich, obgleich ich schwächlich war, genötigt, mein Brot auf den Straßen Savoyens zu erbetteln. Ich schlief in Échelles, in einer großen, mit Stroh angefüllten Krippe. Der Gastwirt, der mich dort hausen ließ, war ein guter Mann, seine Frau aber konnte mich nicht ausstehen und beschimpfte mich stets. Das bereitete mir große Not; denn ich war kein schlechtes Bettelweib. Abends und morgens betete ich zu Gott, stahl nicht, ging auf des Himmels Geheiß und bat um etwas Essen, weil ich nichts tun konnte; denn ich war wirklich krank und gänzlich unfähig, eine Hacke aufzuheben oder Wolle abzuspulen. Nun, ich wurde um eines Hundes willen aus der Wirtschaft weggejagt. Seit meiner Geburt ohne Eltern und ohne Freunde, hatten mich niemals Blicke getroffen, die mir wohlgetan hätten. Die gute Frau Morin, die mich aufgezogen hatte, war tot; sie war recht gut zu mir gewesen, aber an ihre Liebkosungen erinnere ich mich kaum mehr. Die arme Alte verrichtete Landarbeit wie ein Mann; und wenn sie mich auch hätschelte, so kriegte ich doch Hiebe mit der Schöpfkelle auf die Finger, wenn ich allzu schnell unsere Suppe aus ihrem Napfe löffelte. Arme Alte! Es vergeht nicht ein Tag, wo ich sie nicht in meine Gebete mit einschließe! Möge der liebe Gott ihr da droben ein glücklicheres Leben als hienieden verleihen, vor allem ein besseres Bett; denn sie beklagte sich stets über die schlechte Matratze, auf der wir zusammen schliefen. Sie können es sich nicht vorstellen, meine lieben Herren, wie einem das die Seele verwundet, wenn man nichts wie Beleidigungen, barsche Abweisungen und Blicke erntet, die einem das Herz durchbohren, wie wenn man Messerstiche versetzt bekäme. Häufig bin ich armen alten Leuten begegnet, denen das alles nichts mehr ausmachte, doch ich war für einen solchen Beruf nicht geboren worden. Ein Nein hat mich immer weinen gemacht. Jeden Abend kam ich trauriger zurück und tröstete mich erst, wenn ich meine Gebete gesprochen hatte. Kurz, in der ganzen Schöpfung Gottes gab's nicht ein einziges Herz, dem ich das meine anvertrauen konnte. Nur das Blau des Himmels hatte ich zum Freunde. Wenn der Wind die Wolken fortgefegt, legte ich mich in eine Felsenecke und blickte in den Himmel. Dann träumte mir, ich wäre eine feine Dame. Vom vielen Hinsehen glaubte ich mich in jenem Blau gebadet; in Gedanken lebte ich dort oben, fühlte nichts Drückendes mehr, ich stieg, stieg und wurde ganz froh. Um auf meine Liebesgeschichten zurückzukommen, muß ich Ihnen sagen, daß der Gastwirt von seiner Hündin einen kleinen Hund gekriegt hatte, der artig wie ein Menschenwesen, und weiß und an den Pfötchen schwarzgefleckt war. Ich seh' ihn noch immer, den reizenden kleinen Kerl! Dieser arme Kleine ist das einzige Geschöpf, das mir in jenen Zeiten freundschaftliche Blicke zugeworfen hat; ich hob ihm meine besten Bissen auf, er kannte mich, lief mir des Abends entgegen, schämte sich meines Unglücks nicht, sprang an mir hoch und leckte meine Füße. Er hatte in seinen Augen etwas so Gutes, so Dankbares, daß ich oft weinte, wenn ich ihn ansah.
›Das ist also das einzige Wesen, das mich herzlich lieb hat!‹ sagte ich.
Im Winter schlief er zu meinen Füßen. Ich litt so sehr, wenn ich sah, daß man ihn prügelte, daß ich ihn daran gewöhnt hatte, nicht mehr in die Häuser zu laufen, um dort Knochen zu stehlen, und er begnügte sich mit meinem Brote. War ich traurig, setzte er sich vor mich hin, blickte mir in die Augen und schien mir zu sagen:
›Du bist also traurig, meine arme Fosseuse?‹
Wenn Reisende mir Sous hinwarfen, hob er sie aus dem Staube auf und brachte sie mir, der gute Pudel! Wenn ich diesen Freund behalten hätte, war' ich weniger unglücklich gewesen. Jeden Tag legte ich ein paar Sous beiseite, um fünfzig Franken zusammenzubekommen, damit ich ihn Vater Manseau abkaufen könnte. Als seine Frau eines Tages sah, daß der Hund mich liebte, tat sie, als ob sie in ihn vernarrt wäre. Denken Sie sich, der Hund konnte sie nicht leiden. Diese Tiere wittern die Seele! Sie sehen sofort, ob man sie liebhat. Ich hatte ein Zwanzigfrankenstück oben in meinen Unterrock eingenäht; da sagte ich denn zu Monsieur Manseau:
›Mein lieber Herr, ich rechnete damit, Ihnen meine Jahresersparnisse für Ihren Hund anbieten zu können, doch, ehe Ihre Frau ihn für sich haben will, obwohl sie sich kaum um ihn kümmert, verkaufen Sie ihn mir doch für zwanzig Franken; sehen Sie, hier sind sie!‹
›Nein, mein Kleinchen,‹ sagte er zu mir, ›behaltet Eure zwanzig Franken. Der Himmel bewahre mich davor, der Armen Geld zu nehmen! Behaltet den Hund. Wenn meine Frau zu sehr schreit, dann geht Ihr eben fort.‹
Seine Frau machte ihm des Hundes wegen einen Auftritt. Ach, mein Gott, man hätte meinen mögen, das Haus stände in Brand. Und können Sie sich denken, was sie aussann? Als sie sah, daß der Hund an mir hing, daß sie ihn niemals haben könnte, ließ sie ihn vergiften. Mein armer Pudel ist in meinen Armen gestorben … Ich hab' ihn beweint, wie wenn er mein Kind gewesen wäre, und hab' ihn unter einer Fichte begraben. Sie können sich nicht vorstellen, was ich alles in dieses Grab gelegt habe! Ich sagte mir, wenn ich mich dort hinsetzte, daß ich also immer allein auf Erden sein, daß mir nichts gelingen, daß ich jetzt wieder sein würde, wie ich vorher gewesen war: ohne ein Lebewesen auf Erden, und daß ich in keinem Blicke Freundschaft für mich lesen würde. Eine ganze Nacht bin ich dort unter dem schönen Sternenhimmel geblieben und habe zu Gott gebetet, er möge Mitleid mit mir haben. Als ich auf die Straße zurückkam, sah ich einen armen Kleinen von zehn Jahren, der keine Hände hatte.
›Der liebe Gott hat mich erhört!‹ dachte ich. – Nie hatte ich so gebetet, wie ich es in jener Nacht getan. – Ich will für diesen armen Kleinen sorgen, wir werden zusammen betteln und ich will seine Mutter sein. Zu zweit muß man mehr Erfolg haben, für ihn werd' ich vielleicht mehr Mut haben, als ich für mich allein besitze! Zuerst schien mir der Kleine zufrieden; es wäre ihm auch recht schwer gefallen, es nicht zu sein; denn ich tat alles, was er wollte, gab ihm das Beste, was ich hatte, kurz ich war sein Sklave und er tyrannisierte mich; doch das schien mir immer noch besser, als allein zu sein. Bah! sobald der kleine Trunkenbold wußte, daß ich oben in meinem Kleide zwanzig Franken hatte, hat er es aufgetrennt und mir mein Goldstück, den Preis für meinen armen Pudel, gestohlen. Ich wollte Messen dafür lesen lassen … Ein Kind ohne Hände! Das machte mich zittern. Dieser Diebstahl nahm mir den Lebensmut. Ich konnte also nichts lieben, alles verdarb mir unter den Händen! Eines Tages sah ich eine hübsche französische Kalesche kommen, welche die Steigung nach les Échelles hinauffuhr. Darinnen befand sich eine junge Dame, hübsch wie eine Jungfrau Maria, und ein ihr ähnlich sehender junger Mann.
›Sieh doch das hübsche Mädchen!‹ sagte der junge Mann und warf mir ein Geldstück zu.
Sie allein, Monsieur Benassis, können sich das Glück ausmalen, das mir dieses Kompliment bereitete, das einzige, das ich jemals gehört habe; doch der Herr hätte mir auch kein Geld hinwerfen sollen. Durch tausend unbekannte Gedanken, die mir den Kopf verdrehten, getrieben, fing ich sofort an, die Abkürzungspfade hinaufzulaufen, und da hatte ich in den Felsen von les Échelles bald den Wagen überholt, der ganz sacht hinauffuhr. Ich hab' den jungen Mann wiedersehen können; er ist ganz überrascht gewesen, mich wiederzufinden, und ich, ich war so froh, daß mir das Herz bis in die Kehle schlug; eine Art Instinkt zog mich zu ihm hin. Als er mich wiedererkannt hatte, hub ich von neuem zu laufen an, da ich mir wohl denken konnte, daß die junge Dame und er verweilen würden, um den Wasserfall von Couz zu sehen. Als sie heruntergekommen sind, haben sie mich nochmals unter den Nußbäumen des Weges