hat er sich mit dem Kopf nach vorn geneigt und seine Hände haben gezittert; endlich stellte er ein Licht auf den Tisch und brach das Schreiben auf. Der Ton seines Ausrufs war so erschreckend, daß ich ihn, während er las, betrachtete; und ich sah ihn rot werden und weinen. Dann fällt er plötzlich mit dem Kopf voran hin, ich hebe ihn auf und sehe sein Gesicht ganz blau.
›Ich bin tot,‹ sagte er stammelnd und versuchte mit furchtbarer Anstrengung sich zu erheben. ›Laßt mir zur Ader, laßt mir zur Ader!‹ rief er, mich bei der Hand packend … Adrien, verbrenne den Brief hier!‹ …
Und er hielt mir den Brief hin, den ich ins Feuer warf. Ich rufe Jacquotte und Nicolle; doch nur Nicolle hört mich. Er kommt herauf und hilft mir, Monsieur Benassis auf mein kleines Feldbett zu legen, Er hörte nicht mehr, unser guter Freund! Seit diesem Augenblicke hatte er wohl die Augen offen, sah aber nichts mehr. Nicolle, der sich aufsetzte, um Monsieur Bordier, den Chirurgen, zu holen, hat im Flecken Alarm geschlagen. In einem Augenblick ist dort alles auf den Beinen gewesen. Monsieur Janvier, Monsieur Dufau, alle, die Sie kennen, sind sofort gekommen. Monsieur Benassis war beinahe tot, es gab keine Hilfe mehr. Monsieur Bordier hat ihm die Fußsohle verbrannt, ohne ein Lebenszeichen zu erhalten. Es war ein Gichtanfall und ein Gehirnschlag zugleich. Ich teile Ihnen getreulich alle diese Einzelheiten mit, weil ich weiß, lieber Vater, wie sehr Sie Monsieur Benassis lieben. Ich für meine Person bin sehr traurig und bekümmert. Ich kann Ihnen sagen, daß ich außer Ihnen niemanden mehr geliebt habe. Wenn ich abends mit dem guten Monsieur Benassis plauderte, hatte ich mehr Nutzen davon, als ich durch die ganze Gymnasiumslernerei gewann. Als am anderen Morgen sein Tod im Flecken bekannt wurde, gab es ein unglaubliches Schauspiel. Der Hof, der Garten waren gedrängt voll Menschen. Es war ein allgemeines Weinen und Schreien! Kurz, niemand hat gearbeitet, jeder erzählte, was Monsieur Benassis zu ihm gesagt hatte, als er das letztemal mit ihm gesprochen. Der Eine berichtete, was er ihm alles Gutes getan hatte; die weniger Gerührten sprachen für die anderen. Die Menge wuchs von Stunde zu Stunde, und jeder wollte ihn sehen. Die Trauernachricht hat sich schnell verbreitet, die Leute aus dem Bezirke und selbst die der Umgebung haben alle den nämlichen Gedanken gehabt: Männer, Frauen, Mädchen und Jungen sind aus zehn Meilen in der Runde nach dem Flecken gekommen. Als das Trauergeleite sich bildete, wurde der Sarg von den vier ältesten Leuten der Gemeinde in die Kirche getragen, aber unter unendlichen Mühen; denn zwischen Monsieur Benassis' Hause und der Kirche standen etwa fünftausend Menschen, von denen die meisten wie bei der Prozession niederknieten. Die Kirche konnte all die Menschen gar nicht fassen. Als der Gottesdienst begann, ist trotz der Wehklagen eine so große Stille eingetreten, daß man das Glöckchen und die Gesänge bis ans Ende der Grande-rue hören konnte. Als man die Leiche aber nach dem Friedhof tragen mußte, den Monsieur Benassis dem Flecken geschenkt hatte, ohne zu ahnen, der arme Mann, daß er dort als erster begraben werden sollte, erhob sich ein einziger Schrei des Jammers. Monsieur Janvier sprach die Gebete unter Tränen, und allen, die dort waren, standen Tränen in den Augen. Endlich ist er in die Erde gebettet worden. Am Abend hat sich die Menge zerstreut und jeder ist, Trauer und Klagen im ganzen Lande verbreitend, nach Hause gegangen. Am anderen Morgen haben sich Gondrin, Goguelat, Butifer, der Feldhüter und mehrere Leute zusammengetan, um auf dem Platze, wo Monsieur Benassis liegt, eine Art Erdpyramide zu errichten; sie soll zwanzig Fuß hoch und mit Rosen bedeckt werden, und alles will sich daran beteiligen. Das sind, mein lieber Vater, die Ereignisse, die seit drei Tagen vorgefallen sind. Monsieur Benassis' Testament ist von Monsieur Dufau ganz offen im Schreibtisch vorgefunden worden. Die Verwendung, die unser guter Freund von seinen Gütern macht, hat die Liebe, die man zu ihm hegt, und das durch seinen Tod hervorgerufene Bedauern, wenn es möglich ist, noch vermehrt. Jetzt, mein lieber Vater, erwarte ich durch Butifer, der Ihnen diesen Brief bringt, eine Antwort, in der Sie mir mein Verhalten vorschreiben. Wollen Sie mich abholen, oder soll ich zu Ihnen nach Grenoble kommen? Sagen Sie mir, was ich tun soll, und seien Sie meines vollkommenen Gehorsams gewiß.
Leben Sie wohl, mein Vater; es grüßt Sie Ihr Sie innig liebender Sohn
Adrien Genestas.«
»Auf, ich muß hin!« rief der Soldat.
Er befahl sein Pferd zu satteln und machte sich an einem jener Dezembermorgen auf den Weg, wo der Himmel mit einem grauen Schleier bedeckt, wo der Wind nicht stark genug ist, um den Nebel zu verjagen, durch den die kahlen Bäume und die feuchten Häuser ihr gewöhnliches Aussehen verlieren. Das Schweigen war trübe; denn es gibt auch strahlendes Schweigen. Bei schönem Wetter klingt das geringste Geräusch froh, bei düsterem Wetter aber ist die Natur nicht schweigsam, sie ist stumm. Der an den Bäumen haftende Nebel verdichtet sich zu Tropfen, die langsam wie Tränen auf die Blätter fielen. Oberst Genestas, dessen Herz durch Todesgedanken und tiefe Trauer bedrückt war, fühlte sich im Einklang mit dieser so traurigen Natur. Unwillkürlich verglich er den frohen Frühlingshimmel und das Tal, das er bei seiner ersten Reise so heiter gesehen hatte, mit dem melancholischen Anblick eines bleigrauen Himmels, mit den ihres grünen Schmuckes beraubten Bergen, die ihr Schneekleid, dessen Wirkungen der Anmut nicht ermangeln, noch nicht angelegt hatten. Ein nackter Erdboden ist ein schmerzlicher Anblick für einen Menschen, der zu einem Grabe geht; für ihn scheint dies Grab überall zu sein. Die schwarzen Fichten, die hier und da die Gipfel zierten, mischten Trauerbilder in alles, was des Offiziers Herz bewegte; auch konnte er jedesmal, wenn er das Tal in seiner ganzen Ausdehnung überblickte, nicht umhin, an das Unglück, das auf diesem Bezirke lastete, und an die Leere zu denken, die eines Mannes Tod dort schuf. Genestas erreichte bald die Stelle, wo er auf seiner ersten Reise eine Tasse Milch getrunken hatte. Als er den Rauch der Hütte sah, wo die Hospitalkinder aufgezogen wurden, dachte er besonders lebhaft an Benassis' wohltätigen Sinn und beschloß hineinzugehen, um in seinem Namen dem armen Weibe ein Almosen zu reichen. Nachdem er sein Pferd an einen Baum gebunden hatte, öffnete er, ohne anzuklopfen, die Haustür.
»Guten Tag, Mutter,« sagte er zu der Alten, die er am Feuerwinkel und von ihren am Boden hockenden Kindern umgeben antraf, »erkennt Ihr mich wieder?«
»Oh, sehr gut, mein lieber Herr. Sie sind an einem hübschen Frühlingstage vorbeigekommen und haben mir zwei Taler geschenkt.«
»Hier, Mutter, das ist für Euch und die Kinder.«
»Mein lieber Herr, ich danke Ihnen. Der Himmel möge Sie segnen.«
»Dankt nicht mir; Ihr verdankt dies Geld dem armen Vater Benassis.«
Die Alte hob den Kopf und blickte Genestas an.
»Ach, mein Herr, obwohl er sein Gut unserem armen Lande vermacht hat und wir alle seine Erben sind, haben wir doch unseren größten Reichtum verloren; denn er lenkte alles zum Guten hier.«
»Lebt wohl, Mutter; betet für ihn!« sagte Genestas, nachdem er den Kindern einen leichten Peitschenklaps gegeben hatte. Dann stieg er, von der ganzen kleinen Familie und der Alten begleitet, wieder zu Pferde und ritt weiter. Den Talweg verfolgend, fand er den breiten Saumpfad, der zur Fosseuse führte. Er kam auf der Rampe an, von wo aus er das Haus erblicken konnte, sah aber nicht ohne große Unruhe Türen und Fensterläden geschlossen; er kehrte also auf die Hauptstraße zurück, deren Pappeln keine Blätter mehr hatten. Beim Einbiegen bemerkte er den alten Arbeiter, der fast sonntäglich gekleidet war und langsam, ganz allein und ohne Werkzeuge, dahinging. »Guten Tag, Gevatter Moreau.«
»Ach, guten Tag, Herr … Ich erkenne Sie wieder,« fügte der Biedermann nach einem Augenblick des Schweigens hinzu. »Sie sind ein Freund unseres seligen Herrn Bürgermeisters! Ach, Herr, wäre es nicht besser, der liebe Gott nähme an seiner Statt einen armen Gichtkranken wie mich? Ich bin hier nichts, während er jedermanns Freude war.«
»Wißt Ihr, warum niemand bei der Fosseuse ist?«
Der Biedermann sah zum Himmel auf.
»Wieviel Uhr ist's, Herr? Man sieht die Sonne nicht,« sagte er.
»Es ist zehn.«
»Nun, dann ist sie in der Messe oder auf dem Friedhofe. Sie geht alle Tage hin; sie hat fünftausend Livres Rente und ihr Haus auf Lebenszeit geerbt; sie ist aber fast wahnsinnig über seinen Tod …«
»Wohin geht Ihr denn, lieber Mann?«
»Zur Beerdigung des armen kleinen Jacques, der mein Neffe ist. Der kleine Kranke ist gestern morgen gestorben. Es schien wirklich, als ob ihn der liebe Monsieur Benassis am