Оноре де Бальзак

Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band


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Gesetze, die Ideen. Auf das Dauernde im Wechsel heftete er den Blick der Seele. So sehen wir sein Gesicht, so hat sich die Maske des betrachtenden Magiers geformt. Balzacs Gesicht sehen wir nicht als eine olympische Maske, über seinen Werken thronend. Nur in seinen Werken glauben wir es manchmal auftauchen zu sehen, visionär, hervorgestoßen von chaotischen Dunkelheiten, wirbelnden Massen. Aber wir vermögen nicht, es festzuhalten. Jede Generation wird es anders sehen, eine jede wird es als ein titanisches Gesicht sehen und wird auf ihre Weise daraus ein Symbol unaussprechlicher innerer Vorgänge machen. Wir wundern uns, daß wir es nicht von der Hand dessen besitzen, der das »Gemetzel auf Chios« und die »Barke des Dante« schuf. Er hätte den dreißigjährigen Balzac als den Titanen gemalt, der er war, als einen Dämon des Lebens, oder sein Gesicht als ein Schlachtfeld behandelt. Es ist eine überraschende Lücke, daß uns die Maske des Fünfzigjährigen dann nicht von Daumier überliefert ist. Sein wunderbarer Stift und sein gleich wunderbarer Pinsel hätten das grandios Faunische des Mannes aus dem Dunkel springen lassen und es mit der wilden Einsamkeit des Genies geadelt. Aber vielleicht waren ihm diese Generationen zu nahe, und es bedurfte der Distanz, die wir um ihn haben, damit etwas wie das Gebilde Rodins entstehen konnte, dieses völlig symbolgewordene, übermenschliche Gesicht, in welchem eine furchtbare Wucht der Materie sich mit einem namenlosen Etwas paart, einer dumpfen, schweren Dämonie, die nicht von dieser Welt ist, ein Gesicht, in dem die Synthese ganz verschiedener Welten vollzogen ist: das immerhin an einen gefallenen Engel erinnert und zugleich an die maßlos dumpfe Traurigkeit uralt griechischer Erde- und Meeresdämonen.

      Jede Generation, die in sich selber aus dem Umgang mit dem Werk Balzacs die Vision dieses Gesichtes hervorbringt, wird darin eine ähnliche Synthese vollziehen zwischen der ganzen Lebensschwere in sich und dem geheimsten Drang nach Bewältigung dieser Schwere, nach Erlösung, nach Aufschwung. Das Dazugehören zur dumpfen, wuchtenden Masse des Lebens, die ewig sich selber befruchtet, und zugleich das Darüberhinauswollen, der tiefste Drang des Geistes nach Geist: das ist die Signatur dieses großen tragischen Gesichtes, das nicht wie Goethes Maske über uns hin ins Ewige zu schauen scheint, sondern durch uns hindurch, mitten durch die Schwere des Lebens. Diese ungeheure Welt, aufgebaut aus unserem Leben, dem Leben der Begierden, der Selbstsucht, der Irrtümer, der Grotesken, erhabenen und lächerlichen Leidenschaften, diese Welt, in deren Gemenge die Begriffe »Komödie« und »Tragödie« ebenso aufgelöst sind wie »Tugend« und »Laster«, diese Welt ist im Tiefsten ganz Bewegung, ganz Drang, ganz Liebe, ganz Mysterium. Dieser scheinbare Materialist ist ein leidenschaftlicher Ahnender, ein Ekstatiker. Die Essenz seiner Figuren ist Aspiration. Alle Dulderkräfte, Liebeskräfte, Künstleranspannungen, Monomanien, diese Titanenkräfte, die großen Motoren seiner Welt, sind Aspiration: alle zielen sie auf ein Höchstes, Unnennbares. Vautrin, das Genie als Verbrecher, und Stenbock, das Genie als Künstler, Goriot der Vater, Eugénie Grandet die Jungfrau, Frenhofer der Schöpfer, alle sind sie eingestellt auf ein Absolutes, das sich offenbaren wird, wie die vom nächtlichen Sturm umhergeworfenen Schiffe eingestellt sind auf das Dasein des Polarsternes, wenngleich Finsternis ihn verhüllt. In den Tiefen ihres Zynismus, in den Wirbeln ihrer Qualen, in den Abgründen der Entsagung suchen und finden sie Gott, ob sie ihn beim Namen nennen oder nicht.

      Alle diese so körperhaften Figuren sind doch nichts als vorübergehende Verkörperungen einer namenlosen Kraft. Durch diese unendlichen Relativitäten bricht ein Absolutes; aus diesen Menschen blicken Engel und Dämonen. Jede Mythologie, selbst die letzte, zäheste, die der Worte, ist hier aufgelöst: aber eine neue, geheimnisvolle, höchst persönliche ist an die Stelle dieser anderen getreten. Ihre Konzeption ist großartig und in einer solchen Weise bestimmt und doch vag, daß Hunderttausende sie annehmen und sich aus ihr etwas wie den Mythos des modernen Lebens machen können. Alle diese Gestalten, die sich der Phantasie so sehr als »wirkliche« aufdrängen, erscheinen unter einem gewissen geisterhaften Licht, das von den Gipfeln dieses Werkes herabfällt, als gute und böse Genien, Wesen, in denen die irdischen Triebe vorübergehend inkarniert sind. Aber nichts an dieser Konzeption ist schematisch. Hier sind keine Dogmen statuiert, sondern Visionen. Taine, der genau vor einem halben Jahrhundert seinen großen Essay über Balzac schrieb, legt an diese Intuitionen, diese schwebenden Wahrheiten, die alle nur für einen Augenblick wahr sind und nur an der eine Stelle, wo sie stehen, einen Maßstab, den sie nicht vertragen. Einem Dichter kann man nichts einzelnes entwinden. Alles, was innerhalb einer Welt Wahrheit ist, ja mehr als Wahrheit – schrankenlose Ahnung –, wird eine mißgeborene Phantasmagorie, wenn man es aus dem Zusammenhang herausreißt. Es handelt sich um Formen des Sehens. Der Denker sieht Prinzipien, Abstraktionen, Formeln, wo der Dichter die Gestalt erblickt, den Menschen, den Dämon.

      Immerhin ist hier, auch mit kaltem Blick betrachtet, die ungeheuerste Synthese vollzogen. Hier begegnet sich wirklich Novalis, der Magier, mit den titanischen Anfängen eines wahren Naturalismus; hier ist die Verbindung zwischen Swedenborg und Goethe oder Lamarck. Hier ist, in gemessenem Sinn, das letzte Wort des Katholizismus, und zugleich dringt die Ahnung der Entdeckungen Robert Mayers sternenhaft aus dem Nebel. Die Gewalt, die noch mehr als eine Generation unterjochen wird, liegt in der wundervollen Durchdringung dessen, was die Wirklichkeit des Lebens ist, der vraie vérité, bis herab zu den trivialsten Miseren des Lebens, mit Geist. Die Geistigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, diese ganz ungeheure synthetische Geistigkeit, ist hier in die Materie des Lebens hineingepreßt wie ein alle Fasern durchdringender, glühender Dampf. Wo die Niederschläge dieses Dampfes sich stark und deutlich kristallisieren, wie in dem »Louis Lambert«, in der »Recherche de l'absolu«, im »Chef d'œuvre inconnu«, dort ergeben sich Ketten von Gedanken, Ahnungen, Aphorismen, die sich mit nichts vergleichen lassen als mit den »Fragmenten« des Novalis. Aber diese Kristallisationen, die bei Novalis fast alles sind, was uns in den Händen geblieben ist, sind hier nur ein Nebenprodukt dieser geistig-organischen Vorgänge. Viel bewundernswerter noch ist das Phänomen, welches sich ergibt, wenn die eingepreßte Gewalt dieser Geistigkeit die lebende Materie vorwärts treibt, wenn Figuren entstehen, deren Getriebenheit uns das Walten des Geistigen mitten im Herzen des Lebens spüren läßt: so ist Claes, der rastlose Sucher des Unbedingten, so ist Louis Lambert, so ist Seraphita. Und so ist, über allem einzelnen, Balzacs Konzeption der Liebe. Seine »Liebe« ist die unvergleichlichste und individuellste Schöpfung. Sie ist ganz Aspiration und zugleich das Medium der geheimnisvollsten Synthese zwischen Geistigem und Sinnlichem. Sie ist ein geheimnisvolles Phänomen, das ich mit Worten nicht auflösen möchte. Sie nimmt keinen meßbar großen Raum ein in diesem wuchtigen Werk. Und dennoch scheint sie mir das, was wärmt und leuchtet, und ich könnte diese schwere Masse, diese dunkle Menschenwelt, ohne sie mir nicht anders als furchtbar denken.

      Hier ist eine Welt, wimmelnd von Gestalten. Es ist keine darunter, so gewaltig empfangen, so vollständig in sich selber, daß sie, gelöst von ihrem Hintergrunde, für sich allein zu bestehen vermöchte, in der unvergänglichen Vollständigkeit ihrer Geste, wie Don Quixote, wie der König Lear, wie Odysseus. Die Materie ist brüchiger, die Vision ist nicht von so strahlender Klarheit, daß Gestalten aus ihr hervorgehen könnten, so modelliert im reinsten, stärksten Licht, wie der Homerische Achilles, wie Nausikaa, oder im zartesten Halblicht, wie Mignon und Ottilie. Alles hängt zusammen, alles bedingt sich. Es ist ihm so unmöglich, das einzelne herauszulösen, als aus einem Gemälde von Rembrandt oder von Delacroix. Hier wie dort liegt das Großartige in einem stupenden Reichtum der Tonwerte, der ab und auf, infinitis modis, wie die Natur selber, eine lückenlose Skala ergibt. Jene Gestalten dort scheinen gelöste schreitende Götter; wie sie entstanden sein mögen, ist undurchdringliches Geheimnis; diese hier sind einzelne Noten einer titanischen Symphonie. Ihre Entstehung scheint uns begreiflicher, wir glauben in unserem Blut die Elemente zu tragen, aus denen ihre finsteren Herzen gebildet sind, und mit der Lust der großen Städte sie einzusaugen. Aber auch hier waltet ein Letztes, Höheres. Wie die Skala von Finsternis zur Helligkeit auf einem Rembrandt nur darin dem irdischen Licht und der irdischen Finsternis gleicht, daß sie lückenlos, überzeugend, absolut richtig ist: aber darüber hinaus ein Namenloses in ihr wirksam ist, das Walten einer großen Seele, die in jenen Visionen selber sich einem höchsten Wesen hingibt, so vibriert hier in den Myriaden kleiner Züge, mit denen eine wimmelnde Welt hingemalt ist, ein kaum zu nennendes Letztes: die Plastik dieser Welt geht bis zum Überschweren, ihre Finsternis bis zum Nihilismus, die Weltlichkeit in der Behandlung bis zum Zynischen: aber die Farben, mit denen dies gemalt ist, sind rein. Mit nicht reinerem Pinsel ist ein Engelschor des Fra Angelico gemalt als die Figuren in »Cousine Bette«. Diesen Farben, den eigentlichen