Оноре де Бальзак

Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band


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keinem bösen Hauch zu kränken. Eine absolute Freudigkeit vibriert in ihnen, die unberührter ist von der Finsternis des Themas, wie die göttliche Freudigkeit der Töne in einer Beethovenschen Symphonie in keinem Moment von der Furchtbarkeit des musikalischen Ausdruckes verstört werden kann.

1909

      Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie

      Wenn ich einem Werk, das vor nun bald dreizehn Jahren begonnen wurde, den Titel der »Menschlichen Komödie« gebe, so wird es nötig sein, daß ich seine Idee angebe, von seiner Entstehung berichte und in Kürze seinen Plan auseinandersetze; und zwar muß ich versuchen, von diesen Dingen zu sprechen, als sei ich an ihnen ganz unbeteiligt. Das ist nicht so schwierig, wie der Leser vielleicht glaubt. Ein Werk, auf das wenig Arbeit verwandt wurde, leistet oft der Eitelkeit Vorschub, andauernde Arbeit aber macht unendlich bescheiden. Diese Beobachtung erklärt die Durchprüfung, der Corneille, Molière und andere große Autoren ihre Werke unterzogen: wenn es unmöglich ist, ihnen in ihren schönen Eingebungen gleichzukommen, so kann man sich wenigstens in dieser Empfindung mit ihnen berühren.

      Die erste Idee der »Menschlichen Komödie« tauchte mir wie ein Traum auf, wie einer jener ungeheuren Pläne, denen man liebevoll nachhängt und die man entfliegen läßt; wie eine Schimäre, die lächelt, die ihr Frauengesicht zeigt, und die alsbald ihre Flügel entfaltet, um in einen phantastischen Himmel zurückzukehren. Aber die Schimäre wandelt sich wie viele Schimären zur Wirklichkeit; sie übt eine Herrschaft und eine Tyrannei aus, der man gehorchen muß. Die vorliegende Idee entsprang einem Vergleich zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Es wäre ein Irrtum, wollte man glauben, der große Streit, der sich vor einiger Zeit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire entspann, habe auf einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung beruht. Der Gedanke der ›Einheit in der Vielheit‹ hatte unter anderen Namen schon die größten Geister der beiden vorhergehenden Jahrhunderte beschäftigt. Wenn man die so außerordentlichen Werke der mystischen Schriftsteller durchliest, die sich mit den Wissenschaften in ihren Beziehungen zum Unendlichen befassen, wie etwa Swedenborg, Saint-Martin und andere, und ferner die Schriften der großen naturwissenschaftlichen Genies, wie die eines Leibniz, eines Buffon, eines Charles Bonnet usw., so findet man in den Monaden des Leibniz, in den organischen Molekülen Buffons, in der vegetativen Kraft Needhams, in der ›Einschachtelung‹ der ähnlichen Teile bei Charles Bonnet, der kühn genug war, schon 1760 zu schreiben: »Das Tier vegetiert wie die Pflanze«: dort, sage ich, findet man die Keime des schönen Gesetzes vom Selbst an und für sich, auf dem die »Einheit in der Vielheit« beruht. Es gibt nur ein Tier. Der Schöpfer hat sich für alle organischen Wesen nur eines einzigen Musters bedient. Das Tier ist ein Grundwesen, das seine äußere Gestalt oder, genauer, die Unterschiede seiner Gestalt in den Umgebungen annimmt, in denen es sich zu entwickeln berufen wird. Aus diesen Unterschieden ergeben sich die zoologischen Arten. Dieses System, das übrigens mit unseren Begriffen von der göttlichen Macht im Einklang steht, verkündet und vertreten zu haben, wird ewig ein Ehrentitel Geoffroy Saint-Hilaires bleiben, der in dieser Streitfrage der Wissenschaft über Cuvier siegte und dessen Triumph durch den letzten Aufsatz begrüßt wurde, den der große Goethe schrieb.

      Da ich von diesem System durchdrungen war, längst ehe es zu all den Streitigkeiten Anlaß gab, so erkannte ich, daß die Gesellschaft in dieser Hinsicht der Natur glich. Macht nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach den Umgebungen, in denen sein Handeln sich entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es in der Zoologie Variationen gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwaltungsbeamten, einem Advokaten, einem Müßggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Kaufmann, einem Seemann, einem Dichter, einem Bettler und einem Priester sind, wenn auch schwieriger zu definieren, so doch nicht minder beträchtlich als jene, die den Wolf, den Löwen, den Esel, die Krähe, den Hai, die Meerkuh, das Schaf und andere unterscheiden. Es hat also ewig soziale Gattungen gegeben und wird ihrer ewig geben, wie es zoologische Gattungen gibt. Wenn Buffon ein prachtvolles Werk schrieb, als er versuchte, das Gesamtbild der Zoologie in einem Buche darzustellen, war da nicht auch ein gleiches Werk über die Gesellschaft zu schaffen? Aber die Natur hat den tierischen Variationen Grenzen gesetzt, in denen sich die Gesellschaft nicht halten sollte. Wenn Buffon den Löwen geschildert hatte, so war er mit der Löwin nach ein paar Sätzen fertig; in der Gesellschaft dagegen zeigt sich die Frau nicht immer als das Weibchen des Männchens. Es können in einer Ehegemeinschaft zwei gründlich verschiedene Wesen zusammenleben. Die Frau eines Händlers verdient bisweilen die eines Fürsten zu sein; und oft ist die eines Fürsten nicht so viel wert wie die eines Künstlers. Die soziale Stellung ist Zufällen unterworfen, wie die Natur sie sich nicht erlaubt, denn sie ergibt sich aus der Natur plus der Gesellschaft. Die Schilderung der sozialen Arten umfaßte also zum mindesten das Doppelte der tierischen Arten, wenn man nämlich auch nur auf die beiden Geschlechter Rücksicht nahm. Schließlich spielen sich zwischen den Tieren wenig Dramen ab; nie gerät Verwirrung unter sie; sie stellen sich gegenseitig nach, das ist alles. Auch die Menschen stellen sich freilich gegenseitig nach, aber ihre mehr oder minder große Intelligenz macht den Kampf ganz bedeutend komplizierter. Wenn einige Gelehrte immer noch nicht zugeben, daß das Tierische in einem ungeheuren Lebensstrom hinüberspielt ins Menschliche, so steht es fest, daß der Krämer manchmal Pair von Frankreich wird, während der Adlige zuweilen in die letzte soziale Reihe zurücksinkt. Dann fand Buffon das Leben bei den Tieren äußerst einfach. Das Tier hat nur wenig Mobiliar, es kennt keine Künste und Wissenschaften; der Mensch dagegen strebt auf Grund eines noch zu erforschenden Gesetzes danach, seinen Sitten, seinem Denken und seinem Leben in all dem Ausdruck zu verschaffen, was er seinen Bedürfnissen anpaßt. Wenn auch Leuwenhoek, Swammerdam, Spalanzani, Réaumur, Charles Bonnet, Müller, Haller und andere geduldige Zoographen nachgewiesen haben, wie interessant die Sitten der Tiere sind, so bleiben doch die Gewohnheiten eines jeden einzelnen Tieres, wenigstens in unseren Augen, stets sich selber gleich, während die Gewohnheiten, die Kleidung, die Worte, die Wohnsitze eines Fürsten, eines Bankiers, eines Bürgers, eines Priesters und eines Bettlers völlig verschieden sind und sich je nach der Zivilisation wandeln müssen.

      Daher mußte das Werk, das zu schaffen war, eine dreifache Gestalt haben: je nach den Männern, den Frauen und den Dingen, d.h. den Menschen und der äußeren Form, die sie ihrem Denken geben; kurz, nach dem Menschen und dem Leben.

      Wer hat nicht bemerkt, wenn er den trockenen und abstoßenden Wortschatz der sogenannten historischen Berichte las, daß die Geschichtsschreiber zu allen Zeiten, in Ägypten wie in Persien, in Griechenland wie in Rom, vergessen haben, uns die Geschichte der Sitten zu geben? Das Fragment des Petron über das Privatleben der Römer reizt unsere Neugier mehr, als daß es sie befriedigt. Als der Abbé Barthélemy bemerkt hatte, welche ungeheure Lücke hier auf dem Felde der Geschichte klaffte, widmete er sein ganzes Leben dem Wiederaufbau der griechischen Sitten in seinem »Anacharsis«.

      Aber wie sollte man das Drama mit drei- bis viertausend handelnden Personen, wie eine Gesellschaft es darstellt, interessant machen? Wie sollte man zugleich dem Dichter, dem Philosophen und der Masse gefallen, die die Poesie und die Philosophie unter packenden Bildern verlangt? Waren mir die Bedeutung und die Poesie einer solchen Geschichte des menschlichen Herzens klar, so sah ich kein Mittel, sie auszuführen; denn bis auf unsere Zeit hatten die berühmtesten Erzähler ihr ganzes Talent darauf verwandt, eine oder zwei typische Gestalten zu schaffen, eine Seite des Lebens darzustellen. Mit diesem Gedanken las ich die Werke Walter Scotts. Walter Scott, dieser moderne »Finder« (Troubadour), verlieh einer Dichtungsgattung, die man zu Unrecht zweitrangig nennt, etwas Riesenhaftes. Ist es nicht in Wahrheit schwieriger, mit der Wirklichkeit durch Schöpfungen zu wetteifern, wie es Daphnis und Chloe, Roland, Amadis, Panurg, Don Quixote, Manon Lescaut, Clarisse, Lovelace, Robinson Crusoe, Gil Blas, Ossian, Julie d'Etanges, Mein Onkel Tobias, Werther, René, Corinna, Adolphe, Paul und Virginie, Jeane Dean, Claverhouse, Ivanhoe, Manfred und Mignon sind, als Tatsachen aufzureihen, die bei fast allen Nationen die gleichen bleiben, nach dem Geist verschollener Gesetze zu forschen, Theorien aufzustellen, die die Völker in die Irre führen, oder wie gewisse Metaphysiker zu erklären, was ist? Zunächst leben all jene handelnden Personen, deren Dasein dauernder, verbürgter wird als das der Generationen, in deren Mitte man sie geboren werden läßt, nur unter der Bedingung, daß sie ein großes Gemälde der Gegenwart sind. Sie sind dem innersten Wesen ihres Jahrhunderts abgelauscht, und also regt sich unter ihrer Hülle das ganze menschliche Herz; es versteckt sich in ihnen