antreten können. Wir schulden uns unsern Kindern.
Sie sehen, liebe Cousine, wie vertrauensvoll ich Ihnen den Zustand meines Herzens, meiner Hoffnungen, meines Vermögens offenbare. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie Ihrerseits nach sieben Jahren der Trennung unsere Kindereien vergessen haben; aber ich habe weder Ihre Güte noch meine Worte vergessen: ich gedenke ihrer aller, selbst der flüchtig hingeworfenen, deren sich ein weniger gewissenhafter junger Mann mit einem weniger jungen und aufrichtigen Herzen gewiß nicht mehr erinnern würde.
Wenn ich Ihnen sage, daß ich nur eine Konvenienzehe einzugehen gedenke und daß ich mich unserer Jugendliebe gar wohl erinnere, überantworte ich mich also voll und ganz Ihrer Diskretion, mache Sie zur Herrin meines Schicksals und werde, wenn es nötig sein sollte, meinen ehrgeizigen Plänen entsagen und mich willig mit dem schlichten und reinen Glück begnügen, das Sie mir seinerzeit so rührend auszumalen wußten . . .‹
›Ta ta ta – ta ta ti – ti ta ta – tü! – Tü ta ti – ti ta ta . . .‹ hatte Charles Grandet nach der Melodie von ›Non più andrai‹ gesungen, als er sich unterzeichnete:
›Donnerwetter! Das nenne ich Lebensart‹, hatte er sich gesagt. Dann hatte er die Anweisung geholt und dem Brief noch folgendes angefügt:
›P. S. Ich füge meinem Brief eine Anweisung auf das Bankhaus des Grassins bei; sie beläuft sich auf achttausend Francs, zahlbar in Gold, und umfaßt Kapital und Zinsen der Summe, die Sie seinerzeit die Güte hatten mir zu leihen. Ich erwarte aus Bordeaux einen Koffer, der einige Gaben enthält, die ich bitte Ihnen als Zeichen meiner ewigen Dankbarkeit anbieten zu dürfen. Mein kleines Necessaire senden Sie mir bitte mit der Post an das Palais d'Aubrion, Rue Hillerin-Bertin.‹ –
»Mit der Post!« sagte Eugénie. »Eine Sache, für die ich tausendmal mein Leben hingegeben hätte!«
Entsetzliche, vollkommene Verzweiflung! Das Schiff barst und sank und ließ auf dem weiten Meer der Hoffnung nicht eine Planke, nicht eine rettende Leine zurück.
Es gibt Frauen, die den treulosen Geliebten den Armen der Rivalin entreißen, die sie töten, – und flüchten ans Ende der Welt, aufs Schafott, ins Grab. Das ist sicherlich schön; der Beweggrund des Verbrechens ist hier eine erhabene Leidenschaft, die der menschlichen Gerechtigkeit spottet. Andere Frauen lassen den Kopf sinken und dulden schweigend; entsagungsvoll erwarten sie den Tod, weinen und verzeihen, beten und leben bis zum letzten Seufzer von der Erinnerung. Das ist die Liebe, die wahre Liebe, die Liebe der Engel, die verzehrende Liebe, die sich von ihren Schmerzen nährt und an ihnen zugrunde geht. Das war die Liebe Eugénies, nachdem sie den entsetzlichen Brief gelesen hatte. Sie erhob den Blick zum Himmel und gedachte der letzten Worte ihrer Mutter, die damals auf dem Totenbett die Zukunft zu durchschauen schien. Eugénie gedachte des Sterbens, des prophetischen Blicks der Mutter und umfaßte mit einem Blick ihr ganzes Schicksal, ihre Bestimmung: sie hatte nur noch die Schwingen zu entfalten, dem Himmel zuzustreben und bis zum Tage ihrer Erlösung in Trauer und Gebet zu leben.
»Meine Mutter hatte recht«, sagte sie weinend »Leiden und sterben!«
Mit langsamen Schritten verließ sie den Garten und begab sich in den Saal. Den dunklen Flur, den ihre Liebe geweiht hatte, mied sie nun. Im grauen Saal aber redete alles zu ihr von ihrem Cousin. Da war der Kamin, und auf seinem Sims stand eine gewisse Untertasse, die ihr jeden Morgen beim Frühstück diente, wie auch die alte Zuckerdose aus Sèvres-Porzellan.
Dieser Morgen sollte ernst und ereignisvoll werden – auch noch in anderer Hinsicht.
Nanon verkündete den Besuch des Pfarrers. Der Pfarrer war ein Verwandter der Cruchots und war mit dem Präsidenten de Bonfons im Einverständnis. Vor einigen Tagen hatte der alte Abbé ihn zu bestimmen gewußt, Mademoiselle Grandet aus religiösen Gründen von der Notwendigkeit einer Ehe zu überzeugen.
Als Eugénie den Pfarrer erblickte, glaubte sie, er wolle die tausend Francs holen, die sie monatlich den Armen spendete, und trug Nanon auf, das Geld herbeizubringen; aber der Pfarrer lächelte: »Heute, Mademoiselle, will ich Ihnen von einem armen Mädchen sprechen, an dem ganz Saumur Anteil nimmt und das nicht christlich lebt – aus Mangel an Mitleid mit sich selbst.«
»Ach Gott! Monsieur le Curé, Sie kommen in einem Augenblick, wo es mir unmöglich ist, an meinen Nächsten zu denken, ich habe mit mir selbst zu tun. Ich bin sehr unglücklich. Meine einzige Zuflucht ist die Kirche; sie hat Raum genug, all unsere Schmerzen zu fassen, und sie hat Mitgefühl genug, daß alle davon trinken können, ohne es zu erschöpfen.«
»Nun also, Mademoiselle, wenn wir von diesem Mädchen sprechen, befassen wir uns ja mit Ihnen. Hören Sie zu! Es gibt für Sie nur zwei Wege, die zum Heile führen: entweder Abschied nehmen von der Welt – oder ihren Gesetzen folgen; gehorsam sein der irdischen Bestimmung oder dem himmlischen Streben.«
»Oh! Ihre Stimme spricht zu mir, da ich nach einer Stimme lechzte. Ja, Gott hat Sie hergesandt, Monsieur. Ich werde der Welt Lebewohl sagen und allein für Gott leben – in Stille und Einsamkeit.«
»Eine solche Entschließung erfordert reifliches Überlegen, meine Tochter. Die Ehe ist Leben, der Schleier ist Tod.«
»Gut, gut! Der Tod, gerade ihn suche ich, Monsieur le Curé!« erwiderte sie lebhaft.
»Den Tod? Aber Sie haben Verpflichtungen gegen die menschliche Gesellschaft! Sind Sie nicht die Mutter der Armen, denen Sie Kleidung geben, Holz im Winter und Arbeit im Sommer? Ihr großes Vermögen ist ein Darlehen, das Sie zurückzahlen müssen, und Sie haben bisher fromm danach gehandelt. Sich in ein Kloster zurückziehen, wäre Egoismus; Sie dürfen überhaupt nicht ledig bleiben. Zunächst: wie sollten Sie Ihr ungeheures Vermögen allein aufzehren können? Sie würden es vielleicht verlieren. Sie würden bald tausend Prozesse am Halse haben und hätten mit den verwickeltsten Schwierigkeiten zu kämpfen. Glauben Sie Ihrem Pfarrer: ein Gatte ist Ihnen nötig; Sie müssen behüten, was Gott Ihnen anvertraut hat. Ich spreche zu Ihnen als meinem lieben Beichtkinde. Sie sind dem Willen Gottes innig ergeben – suchen Sie Ihr Heil inmitten der Welt, der Menschen, deren schönste Zierde Sie sind und denen Sie ein erhabenes Beispiel geben."
In diesem Augenblick ließ Madame des Grassins sich melden. Befriedigte Rache und große Verzweiflung führten sie her.
»Mademoiselle Grandet . . .« sagte sie. – »Ah! Monsieur le Curé; ich ziehe mich zurück. Ich wollte von geschäftlichen Dingen reden und finde Sie anscheinend in ernster Unterredung.«
»Madame«, sagte der Pfarrer, »ich räume Ihnen das Feld.«
»O Monsieur le Curé«, sagte Eugénie, »kommen Sie in ein paar Minuten wieder; ich bedarf gegenwärtig sehr Ihres Zuspruchs.«
»Jawohl, mein armes Kind«, sagte Madame des Grassins.
»Wie meinen Sie das?« fragten Mademoiselle Grandet und der Pfarrer.
»Ich weiß von der Rückkehr Ihres Cousins, von seiner Heirat mit Mademoiselle d'Aubrion . . . O ja, eine Frau ist nie auf den Kopf gefallen.«
Eugénie errötete und blieb stumm. Aber sie nahm sich vor, künftighin den undurchdringlichen Gleichmut zu bewahren, den ihr Vater zur Schau zu tragen wußte.
»Dann, Madame, muß ich doch wohl auf den Kopf gefallen sein«, sagte sie ironisch lächelnd; »ich verstehe Sie nicht. Reden Sie, reden Sie getrost vor Monsieur le Curé, Sie wissen ja, er ist mein Beichtvater.«
»So lesen Sie also, Mademoiselle, was des Grassins mir schreibt; hier, bitte.« Eugénie las folgenden Brief:
›Meine liebe Frau!
Charles Grandet ist aus Indien zurückgekehrt; seit einem Monat ist er in Paris . . .‹
›Seit einem Monat!‹ dachte Eugénie und ließ den Brief sinken. Nach einer Weile nahm sie die Lektüre wieder auf.
›. . . Ich habe zweimal vergeblich vorsprechen müssen; ehe ich den künftigen Comte d'Aubrion zu sehen bekam. Obgleich ganz Paris von seinen Heiratsabsichten spricht und das Aufgebot schon erfolgt ist . . .‹
›Er schrieb mir also, als schon das . . .?‹ sagte sich Eugénie. Sie dachte den Satz