nichts. Ich werde dir nicht mehr davon sprechen, nie mehr.«
Monsieur Bergerin, der bedeutendste Arzt in Saumur, traf bald ein. Er untersuchte die Kranke und erklärte dann Grandet mit Bestimmtheit, daß seine Frau recht krank sei, daß es aber möglich sei, bei vollständiger Gemütsruhe, zärtlicher Behandlung und peinlichster Pflege den Zeitpunkt ihres Todes bis zum Spätherbst hinauszuschieben.
»Wird das viel kosten?« fragte der Biedermann. »Braucht man Arzneien?«
»Wenig Arzneien, aber viel Pflege«, erwiderte der Arzt, der sich nicht enthalten konnte zu lächeln.
»Nun also, Monsieur Bergerin«, entgegnete Grandet, »Sie sind ein Ehrenmann, nicht wahr? Ich verlasse mich auf Sie; kommen Sie nach meiner Frau sehen, sooft Sie es für nötig halten. Erhalten Sie mir mein gutes Weib. Ich habe sie sehr lieb, sehen Sie, wenn es auch nicht so aussieht – denn bei mir, sehen Sie, bleibt alles inwendig und frißt mir am Herzen. Ich habe Kummer. Der Kummer kam zu mir mit dem Tod meines Bruders, für den ich in Paris große Summen hingebe . . . die Augen aus dem Kopf sozusagen! Und das nimmt kein Ende. Adieu, Monsieur. Wenn meine Frau zu retten ist, retten Sie sie, und wenn man auch hundert oder zweihundert Francs dranwenden müßte.«
Trotz der Inbrunst, mit der Grandet die Gesundheit seiner Frau herbeiwünschte – eine Erbteilung hätte für ihn den Tod bei lebendigem Leibe bedeutet – trotz der Aufmerksamkeit, mit der er stets selbst die geringsten Wünsche von Mutter und Tochter erfüllte; trotz der zärtlichsten Pflege von Seiten Eugénies schwand Madame Grandets Kraft unheimlich schnell dahin. Tagtäglich wurde sie schwächer und welkte, wie die meisten Frauen hinwelken, wenn sie in diesem Alter von einer Krankheit ergriffen werden. Sie war matt wie sterbendes Herbstlaub. Die Strahlensonne nahender Himmelsherrlichkeit verklärte sie, wie die Sonne das Herbstlaub verklärt und vergoldet. Ihr Tod, ihr Sterben war ihres Lebens würdig, es war ein christliches Sterben, ein erhabener Tod. Im Monat Oktober 1822 strahlten all ihre Tugenden noch einmal auf: ihre engelgleiche Geduld und ihre Liebe zu ihrem Kinde; sie erlosch, ohne die geringste Klage verlauten zu lassen. Ein fleckenloses Lamm stieg sie zum Himmel auf und hatte nur ein Leidgefühl: Mitleid mit der sanften Gefährtin ihres kalten, freudlosen Daseins, der ihre letzten Blicke tausend Leiden vorauszusagen schienen. Sie zitterte davor, dies weiße Lämmchen allein zurücklassen zu müssen inmitten einer egoistischen Welt, die ihm das Fell abziehen, ihm seine Schätze rauben würde. »Mein Kind«, sagte sie, ehe sie verschied, »nur im Himmel ist das wahre Glück, eines Tages wirst du das einsehen,«
Am Tage nach ihrem Tode fühlte Eugénie sich inniger als je an dieses Haus gekettet, in dem sie geboren war, in dem sie so viel gelitten hatte, in dem nun ihre Mutter gestorben war. Sie konnte die Fensternische und den erhöhten Sessel nicht ansehen, ohne in Tränen auszubrechen.
Sie vermeinte, das Herz ihres alten Vaters verkannt zu haben, da sie sich von seiner zärtlichsten Fürsorge umgeben sah: er kam und reichte ihr den Arm, um mit ihr zum Frühstück hinunterzugehen; er sah sie stundenlang mit fast gütigen Blicken an; kurz, er hätschelte sie, als sei sie aus Gold.
Der alte Böttcher glich sich selbst so wenig, er zitterte so sehr vor seiner Tochter, daß Nanon und die Cruchotaner, die Zeugen seiner Schwäche waren, diese seinem hohen Alter zuschrieben und vermeinten, Grandets Härte und Gewinnsucht sei gebrochen. An dem Tage aber, als er und seine Tochter Trauer anlegten, zeigten sich die Gründe des Biedermanns für sein Benehmen.
Es war nach dem Diner, zu dem auch Notar Cruchot geladen war.
»Mein liebes Kind«, sagte Grandet zu seiner Tochter, nachdem der Tisch abgedeckt und die Türen geschlossen worden waren, »du bist nun die Erbin deiner Mutter, und da gibt es zwischen uns beiden allerlei zu erledigen. – Nicht wahr, Cruchot?«
»Ja.«
»Ist es denn nötig, sich schon heute damit zu befassen, Vater?«
»Ja, ja, Töchterchen. Ich kann nicht länger in der Ungewißheit bleiben, in der ich jetzt schwebe. Ich glaube doch nicht, daß du mir weh tun willst.«
»O mein Vater . . .«
»Also man muß das alles heute abend noch ordnen.«
»Was wollen Sie denn, das ich tun soll?«
»Aber, Töchterchen, das ist nicht mein Amt. – Erklären Sie ihr die Sache, Cruchot.«
»Mademoiselle, Ihr Vater möchte seine Habe weder teilen noch sie verkaufen, noch für das bare Geld, das er besitzt, ungeheure Gebühren bezahlen. Zu diesem Zwecke wäre es nötig, sich von einer Inventaraufnahme des gesamten Besitzes, der heute ja noch nicht zwischen Ihnen und Ihrem Vater geteilt ist, zu befreien . . . .«
»Cruchot, sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher, daß Sie so vor einem Kinde reden?«
»Lassen Sie mich fortfahren, Grandet.«
»Ja, ja, mein Freund; Sie und meine Tochter werden mich ja nicht ausplündern wollen. – Nicht wahr, Töchterchen?«
»Aber, Monsieur Cruchot, was soll ich denn eigentlich tun?« fragte Eugénie ungeduldig.
»Ja«, sagte der Notar, »da wäre also dieser Akt zu unterzeichnen, demzufolge Sie auf das Erbe Ihrer Frau Mutter verzichten und Ihrem Vater die Nutznießung des gesamten ungeteilten Besitzes, dessen Eigentum ohne Nutznießung er Ihnen zusichert, zusprechen würden.«
»Ich verstehe nichts von alledem, was Sie mir da sagen«, antwortete Eugénie; »geben Sie mir das Schriftstück und zeigen Sie mir, wo ich unterschreiben soll.«
Vater Grandet blickte abwechselnd auf das Papier und auf seine Tochter; seine Aufregung war so stark, daß ihm die Schweißtropfen auf die Stirn traten. »Töchterchen«, sagte er, »wie wäre es, wenn du, statt diesen Akt zu unterzeichnen, dessen Eintragung viel kosten würde – wie wäre es, wenn du klar und einfach auf die Erbfolge deiner armen verstorbenen Mutter verzichtetest und deine Zukunft mir anvertrautest? Das wäre mir lieber. Ich würde dir dann jeden Monat eine gute fette Rente von hundert Francs aussetzen. Sieh, du könntest dann für alle, die dir lieb sind, so viele Messen lesen lassen, wie du willst . . . . He! Hundert Francs im Monat?«
»Lieber Vater, ich tue alles, was Ihnen gefällt.«
»Mademoiselle«, sagte der Notar, »es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sich berauben . . .«
»Ach, mein Gott«, erwiderte sie, »was tut das?«
»Still, Cruchot; es ist zugesagt, es ist zugesagt«, rief Grandet, ergriff die Hand seiner Tochter und tätschelte sie derb.
»Eugénie, du wirst nicht widerrufen, was? Du bist ein ehrenhafter Mensch.«
»O mein Vater . . .«
Er küßte sie voll überströmender Zärtlichkeit und erdrückte sie fast in seinen Armen. »Sieh, mein Kind, du schenkst deinem Vater das Leben; aber du gibst ihm schließlich nur wieder, was er dir gegeben hat: wir sind quitt. So muß man Geschäfte machen. Das Leben ist ein Geschäft. Ich segne dich! Du bist ein tugendsames Mädchen, das seinen Papa lieb hat. Jetzt geh und tu, was du magst. – Auf morgen also, Cruchot«, sagte er zu dem verblüfften Notar. »Bereiten Sie auf der Gerichtskanzlei alles vor für den Verzichtleistungsakt.« Am andern Mittag wurde die Erklärung unterzeichnet, derzufolge Eugénie sich selber ihrer Güter beraubte.
Am Ende dieses Jahres aber hatte der alte Böttcher sein Wort noch nicht gehalten, er hatte seiner Tochter noch nicht einen Sou der ihr so feierlich zugesprochenen hundert Francs pro Monat gegeben. Als Eugénie ihn freundlich daran erinnerte, konnte er nicht umhin, rot zu werden; er stieg eilig in sein Arbeitskabinett hinauf, und als er zurückkam, hielt er ihr etwa ein Drittel der Wertsachen hin, die er seinem Neffen abgenommen hatte. »Da, Kleine«, sagte er mit ironischem Tonfall, »willst du das für deine zwölfhundert Francs?«
»O mein Vater, wirklich, geben Sie sie mir?«
»Ich werde dir nächstes Jahr ebensoviel geben«, sagte er, sie ihr in den Schoß werfend. »Auf diese Weise wirst du in Kürze all seine Schmuckstücke haben«, fügte er händereibend hinzu – glücklich, auf die Sentimentalität seiner Tochter spekulieren zu können.
Dennoch fühlte der Greis, obschon er noch rüstig war, die