he! Neunundneunzig!« sagte der Biedermann, als er den Notar bis zur Straße geleitete.
Da er von alledem, was er soeben gehört hatte, viel zu aufgeregt war, als daß er hätte daheim bleiben können, stieg er zu seiner Frau hinauf und sagte: »Also, Mutter, du kannst den Tag mit deiner Tochter verbringen, ich gehe nach Froidfond. Seid fröhlich alle beide! Heute ist unser Hochzeitstag, mein gutes Weib; da, hier hast du zehn Taler für deinen Altar zum Fronleichnamsfest. Du hast ja schon lange einen haben wollen. Also vergnügt euch, seid glücklich, unterhaltet euch gut. Es lebe die Freude!« Er warf seiner Frau zehn Sechsfrancsstücke aufs Bett, nahm ihren Kopf in die Hände und küßte sie auf die Stirn: »Gutes Weib, es geht dir besser, nicht wahr?«
»Wie können Sie denken, in Ihrem Hause den gütigen Gott zu empfangen, solange Sie Ihre Tochter aus Ihrem Herzen verbannen? fragte sie bewegt.
»Ta ta ta ta!« sagte der Vater mit milder Stimme, »wir werden sehen.«
»Gütiger Himmel! Eugénie!« rief die Mutter und errötete vor Freude, »komm, umarme deinen Vater, er verzeiht dir!« Aber der Biedermann war verschwunden. Er eilte, so schnell er konnte, seinen Meierhöfen zu und versuchte Klarheit in seine verworrenen Gedanken zu bringen.
Grandet begann damals sein sechsundsiebzigstes Jahr. Seit zwei Jahren hatte sein Geiz sich besonders verschlimmert, wie alle Leidenschaften im Alter heftiger werden. Wie man dies bei Geizhälsen, bei Ehrgeizigen, überhaupt bei allen Menschen, die ihr Leben ganz einer einzigen, alles beherrschenden Idee hingeben, stets beobachten kann, hatte sich auch sein Gefühl eigentlich nur an ein Sinnbild seiner Begierde gekettet. Gold betrachten, Gold besitzen, das war seine Manie. Auch seine Herrschsucht war mit dem Alter schlimmer geworden; und daß der Tod seiner Frau ihn der freien Verfügung über seinen Besitz – und sei es auch nur über einen Teil seines Vermögens – berauben könne, das erschien ihm geradezu als widernatürlich. Seiner Tochter Rechenschaft ablegen über seine Vermögensverhältnisse, seine gesamte bewegliche und unbewegliche Habe zwecks Aufteilung abschätzen? . . . »Das hieße, sich selber die Gurgel abschneiden«, sagte er ganz laut inmitten seiner Weingärten, als er die Rebstöcke prüfte.
Endlich faßte er seinen Entschluß. Er traf zur Essenszeit wieder in Saumur ein, mit der festen Absicht, sich vor Eugénie zu beugen und ihr zu schmeicheln, um als König sterben zu können und bis zum letzten Seufzer seine Million in der Hand zu halten.
Der Biedermann, der zufällig seinen Hausschlüssel mitgenommen hatte, schlich mit unhörbaren Schritten die Treppe hinauf. Gerade als er zu seiner Frau ins Zimmer trat, hatte Eugénie ihrer Mutter das goldene Necessaire ans Bett gebracht. Alle beide erfreuten sich in Grandets Abwesenheit daran, das Bild von Charles' Mutter zu betrachten und darin seinen Zügen nachzuforschen.
»Das ist ganz seine Stirn und sein Mund«, sagte Eugénie, gerade als der Weinbauer die Tür öffnete.
Bei dem Blick, den ihr Mann auf das Gold warf, schrie Madame Grandet auf: »Mein Gott, haben Sie Erbarmen mit uns!«
Der Alte fiel über das Necessaire her, wie ein Tiger über ein schlummerndes Kind. »Was ist denn das hier?« fragte er und ging mit dem Kästchen ans Fenster. – »Gutes Gold! Gold!« rief er. »Viel Gold! Das wiegt seine zwei Pfund. – Aha, Charles hat dir das wohl für deine Goldstücke gegeben, wie? Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt? Das ist ja ein gutes Geschäft, Töchterchen! Du bist also doch meine Tochter daran erkenne ich dich.« Eugénie zitterte an allen Gliedern. »Nicht wahr, das gehört doch Charles?« fuhr der Biedermann fort.
»Ja, mein Vater, es ist nicht mein. Es ist ein heiliges Vermächtnis.«
»Ta ta ta ta! Er hat dein Vermögen genommen; man muß deinen kleinen Schatz wieder füllen.«
»Mein Vater! . . .«
Der Geizhals wollte sein Messer nehmen, um eine Goldplatte abzuheben, und war dadurch genötigt, das Necessaire auf einen Stuhl zu stellen. Eugénie näherte sich, um es wieder an sich zu nehmen; aber der Böttcher, der sowohl seine Tochter als auch das Köfferchen fest im Auge behielt, stieß sie heftig zurück, so daß sie auf das Bett ihrer Mutter sank.
»O Monsieur, Monsieur!« rief die Mutter, sich im Bett aufrichtend.
Grandet hatte sein Messer gezogen und machte sich daran, das Gold abzubrechen.
»Mein Vater«, schrie Eugénie und warf sich auf die Knie und rutschte mit erhobenen Händen auf ihn zu, »mein Vater, im Namen aller Heiligen und der heiligen Jungfrau, im Namen Christi, der für uns am Kreuz gestorben ist, bei unserer ewigen Seligkeit, mein Vater, bei meinem Leben, lassen Sie die Hände davon! Dies Necessaire gehört weder mir noch Ihnen; es gehört einem unglücklichen Verwandten, der es mir anvertraut hat, und ich muß es ihm unverletzt zurückgeben.«
»Weshalb hast du es dir denn angeschaut, wenn es hinterlegtes Gut ist? Ansehen ist schlimmer als anrühren.«
»Vater, zerstören Sie es nicht! Sie würden mich ehrlos machen! Mein Vater, hören Sie mich?«
»Monsieur, Erbarmen!« flehte die Mutter.
»Mein Vater!« schrie Eugénie mit so gellender Stimme, daß Nanon entsetzt heraufeilte. Eugénie ergriff mit wildem Sprung ein Messer, das ihr erreichbar war, und bewaffnete sich damit.
»Nun, was soll das?« fragte Grandet ruhig und lächelte kalt.
»Monsieur, Monsieur, Sie töten mich!« sagte die Mutter.
»Mein Vater, wenn Ihr Messer auch nur das kleinste Goldteilchen beschädigt, so ersteche ich mich. Sie haben schon meine Mutter todkrank gemacht, Sie werden auch noch Ihr Kind töten. Nur zu, Wunde um Wunde!«
Grandet, der das Messer schon angesetzt hatte, zögerte und blickte seine Tochter an. »Wärst du wirklich dazu fähig, Eugénie?« fragte er.
»Ja, Monsieur«, sagte die Mutter.
»Sie wird tun, was sie gesagt hat«, schrie Nanon.
»Seien Sie doch vernünftig, Monsieur, wenigstens einmal in Ihrem Leben!« Der Böttcher blickte abwechselnd auf das Gold und auf die Tochter. Madame Grandet wurde ohnmächtig. »Da sehen Sie, Monsieur, die Frau stirbt!« rief Nanon.
»Hier, mein Kind, zanken wir uns nicht um eine Schachtel. Da, nimm!« rief der Böttcher erregt und warf das Necessaire aufs Bett. – »Nanon, geh und hole Monsieur Bergerin. – Vorwärts, Mutter«, sagte er und küßte seiner Frau die Hand, »es ist ja nichts; höre: wir haben Frieden geschlossen. – Nicht wahr, Töchterchen? Kein trocken Brot mehr, du kannst essen, was dir beliebt . . . Ah! sie öffnet die Augen. – Nun, Mutter, Mütterchen, komm, komm! Sieh, da – ich küsse Eugénie. Sie liebt ihren Cousin, sie mag ihn heiraten, wenn sie will; sie wird ihm das Köfferchen verwahren. Aber bleib du am Leben, mein armes Weib. Komm, rühr dich doch! Hör zu: du sollst den prächtigsten kleinen Altar bekommen, der je in Saumur gemacht worden ist.«
»Mein Gott, wie können Sie Frau und Kind so behandeln!« sagte Madame Grandet mit schwacher Stimme.
»Ich werde es nie wieder tun, nie!« schrie der Böttcher, »du sollst sehen, mein armes Weib.«
Er ging in sein Kabinett und kam mit einer Handvoll Louisdore zurück, die er aufs Bett ausstreute. »Da, Eugénie, da, liebe Frau, das ist für euch«, sagte er und ließ das Gold tanzen. »Komm, Frau, ermuntere dich; laß dir's gut gehen, es soll dir an nichts fehlen; Eugénie ebensowenig. Da sind hundert Louis in Gold für sie. Du wirst sie nicht verschenken, die da, Eugénie, wie?«
Madame Grandet und ihre Tochter sahen einander erstaunt an. »Nehmen Sie sie nur wieder, Vater; was wir bedürfen, ist Ihre Liebe.«
»Schön, schön, auch recht«, sagte er, die Louis wieder einsteckend. »Leben wir als gute Freunde. Kommt, wir wollen alle zum Essen hinuntergehen in den Saal, wollen alle Abende Lotto spielen, zu zwei Sous die Partie. Laßt's euch wohl sein! Scherz und Spiel – wie, liebe Frau?«
»Ach!« sagte die Sterbende, »gern, wenn es Ihnen Freude macht, aber ich kann nicht aufstehen.«
»Arme Mutter!« sagte der Böttcher, »du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe. – Und dich, mein Kind!« Er schloß sie in die Arme und küßte sie. »Oh, wie gut das