»Ihr Gesundheitszustand erscheint mir geradezu beunruhigend. In ihrem Alter muß man ungemein vorsichtig sein, Papa Grandet.«
»So, wir wollen sehen«, erwiderte der Weinbauer zerstreut.
Man verabschiedete sich. Als die Cruchots auf der Straße waren, sagte Madame des Grassins zu ihnen: »Da ist irgend etwas los bei den Grandets. Die Mutter ist sehr krank, mehr vielleicht, als sie selbst denkt. Die Tochter hat rotgeweinte Augen. Hat man sie vielleicht gegen ihren Willen verheiraten wollen?«
Als der Weinbauer zu Bett gegangen war, kam Nanon auf Strümpfen zu Eugénie geschlichen und brachte ihr eine prächtige Pastete. »Hier, Mademoiselle«, sagte das gute Weib; »Cornoiller hat mir einen Hasen gebracht. Sie essen ja so wenig, daß diese Pastete für acht Tage ausreichen wird, und bei dem Frost wird sie auch nicht verderben. Wenigstens sind Sie doch nicht auf trocken Brot angewiesen; denn das ist gar nicht gesund.«
»Gute Nanon!« sagte Eugénie und drückte ihr die Hand.
»Ich habe sie sehr gut zubereitet, und er hat nichts gemerkt. Fett und Lorbeer – alles habe ich von meinem Sechsfrancsstück gekauft; ich war eigenmächtig wie eine Hausfrau.« Dann flüsterte die Magd, denn sie glaubte, Grandet kommen zu hören.
Während mehrerer Monate erschien nun Grandet zu den verschiedensten Tageszeiten bei seiner Frau; nie nannte er den Namen seiner Tochter, nie sah er sie, nie fragte er nach ihr. Madame Grandet verließ ihr Zimmer nicht mehr, und von Tag zu Tag verschlimmerte sich ihr Zustand. Nichts stimmte den alten Böttchermeister nachgiebig. Er blieb kalt, hart und unerschütterlich wie ein Granitfelsen. Er kam und ging und machte Geschäfte wie immer. Aber er stotterte nicht mehr, plauderte weniger und zeigte sich beim Handel härter, als er je gewesen war. Oft passierte ihm jetzt bei seinen Berechnungen ein Irrtum.
»Bei den Grandets hat sich etwas ereignet«, sagten die Cruchotaner und Grassinisten. »Was ist nur vorgefallen im Hause Grandet?« war eine ständige Frage beim abendlichen Stadtklatsch in Saumur.
Eugénie ging unter Nanons Schutz zur Kirche. Wenn Madame des Grassins auf dem Nachhauseweg sie ansprach und neugierige Fragen stellte, so antwortete sie ausweichend. Dessenungeachtet war zwei Monate später sowohl den drei Cruchots wie Madame des Grassins das Geheimnis von Eugénies Verbannung bekannt. Es kam ein Augenblick, wo die Gründe, die ihr Fernbleiben rechtfertigen sollten, unzureichend waren. Dann – ohne daß man wußte, wer das Geheimnis verbreitet hatte – erfuhr die ganze Stadt, daß Mademoiselle Grandet seit dem Neujahrstag auf Befehl ihres Vaters Stubenarrest habe, bei Wasser und Brot und ohne Heizung, daß Nanon ihr Leckerbissen bereitete, die sie ihr des Nachts zutrug; und man wußte sogar, daß das junge Mädchen ihre Mutter nur dann sehen und pflegen konnte, wenn ihr Vater das Haus verlassen hatte.
Grandets Betragen wurde sehr streng verurteilt. Die ganze Stadt erklärte ihn sozusagen für vogelfrei, erinnerte sich seiner Verrätereien, seiner Härte und schloß ihn aus der Gesellschaft aus. Wenn er des Weges kam, so tuschelten die Leute. Schritt seine Tochter in Begleitung Nanons die gewundene Straße hinunter, um zur Messe oder Vesper zu gehen, so traten die Leute ans Fenster, um voller Neugierde Haltung und Miene der reichen Erbin zu betrachten, deren Antlitz eine engelhafte Sanftheit und Trauer zeigte.
Ihre Gefangenschaft, die Ungnade ihres Vaters, das alles focht sie wenig an. Hatte sie nicht ihre Weltkarte, konnte sie nicht die kleine Bank im Garten sehen, den Nußbaum, die alte Mauer, und fühlte sie nicht auf ihren Lippen den Honig, den die Küsse der Liebe darauf zurückgelassen hatten?
Eine Zeitlang beachtete sie nicht die Stadtgespräche, deren Gegenstand sie war, ebensowenig wie ihr Vater sie beachtete. Fromm und rein fühlte sie sich vor Gott, und ihre Liebe half ihr, den väterlichen Zorn, die väterliche Rache geduldig hinzunehmen. Aber ein tiefer Schmerz brachte allen andern Kummer zum Schweigen: ihre Mutter, dieses sanfte und zarte Geschöpf, deren Seele der nahe Tod verklärte, der auch ihr Antlitz verschönte – ihre Mutter schwand hin von Tag zu Tag. Oft machte Eugénie sich Vorwürfe, daß sie selbst die Ursache dieser grausamen, schleichenden Krankheit sei, die die Mutter vernichtete. Diese Gewissensbisse ketteten sie noch inniger an ihre Liebe.
Jeden Morgen, sobald ihr Vater ausgegangen war, kam sie ans Bett der Mutter; hierher brachte ihr Nanon das Frühstück. Aber die arme Eugénie war so traurig, litt so die Leiden ihrer Mutter mit, daß sie für Nanon nur eine stumme Bewegung hatte; sie weinte und wagte nicht, von ihrem Cousin zu sprechen. Madame Grandet mußte als erste von ihm sprechen. »Wo ist er?« sagte sie; »warum schreibt er nicht?«
Mutter und Tochter rechneten beide nicht mit den Entfernungen.
»Denken wir an ihn, liebe Mutter«, antwortete Eugénie, »wozu von ihm sprechen? Ihr Leiden bekümmert mich jetzt mehr als alles.«
›Alles‹ – das war ›er‹.
»Mein Kind«, sagte Madame Grandet, »ich frage nichts mehr nach dem Leben. Gott hat mir dazu verholfen, das Ende meiner Leiden freudig zu erwarten.«
Die Reden dieser Frau waren immer sanft und christlich. Wenn ihr Mann ihr Zimmer betrat, um hier das Frühstück einzunehmen, so hatte sie monatelang dieselben Worte, die sie mit engelhafter Sanftmut wiederholte, aber auch mit der Festigkeit eines Menschen, dem der nahe Tod den Mut gab, der ihm im Leben gefehlt hatte.
»Ich danke Ihnen, Monsieur; für Ihre Teilnahme«, erwiderte sie ihm auf die banalste aller Fragen; »wenn Sie aber die Bitternis meiner letzten Augenblicke versüßen wollen und meine Schmerzen erleichtern, so haben Sie Erbarmen mit unserer Tochter; zeigen Sie sich als Christ, als Gatte und Vater.«
Wenn Grandet diese Worte hörte, so setzte er sich neben das Bett und benahm sich wie einer, der sich bei einem nahenden Regenguß still und abwartend in einen Torweg stellt; er hörte seiner Frau schweigend zu und antwortete nichts. Hatten sich dann die rührendsten, die innigsten, die frömmsten Bitten über ihn ergossen, so sagte er: »Du bist heute etwas bläßlich, arme Frau.«
Auf seiner steinernen Stirn, auf seinen zusammengekniffenen Lippen war all seine starre Verleugnung der Tochter zu lesen. Nicht einmal die Tränen rührten ihn, die seine spärlichen, sich fast immer gleichbleibenden Antworten den müden Augen seiner Frau entlockten.
»Möge Gott Ihnen verzeihen, Monsieur, wie ich Ihnen verzeihe«, sagte sie. »Eines Tages werden Sie Nachsicht nötig haben.«
Seit der Krankheit seiner Frau hatte er nicht mehr gewagt, sich seines schrecklichen ›Ta ta ta ta‹ zu bedienen, aber ebensowenig vermochte dieser Engel an Sanftmut seinen grausamen Eigenwillen zu entwaffnen. Und Frau Grandets Häßlichkeit verschwand von Tag zu Tag mehr und mehr unter dem Ausdruck sittlicher Größe, der jetzt auf ihrem Antlitz erblühte. Sie war ganz Seele. Der Geist des Gebets schien die groben Züge ihres Antlitzes zu veredeln und breitete seinen reinen Abglanz über ihr Gesicht.
Wer hätte nicht schon das Wunder solcher Verwandlung wahrgenommen? Gibt es doch heilige Gesichter, deren rohe Konturen die edle Seele zur Schönheit umschuf, indem sie ihnen den besondern Ausdruck verlieh, den nur der Geistesadel, die Reinheit erhabener Gedanken zu geben vermag.
Der Anblick solcher Umwandlung, verbunden mit den Schmerzen, die den Körper dieser Frau aufzehrten, war auch bei dem alten Böttchermeister nicht ohne Wirkung – wenngleich sein Herz verhärtet blieb. Seine Rede war nicht mehr wegwerfend und verachtungsvoll, aber sie hatte einem unerschütterlichen Schweigen Platz gemacht, mit dem er seine Würde als Familienoberhaupt zu erhalten suchte.
Erschien seine treue Nanon auf dem Markt, sogleich raunte man ihr einen schlechten Witz über Grandet, eine böse Anschuldigung gegen ihren Herrn in die Ohren; wie sehr aber auch die öffentliche Meinung den Vater Grandet verurteilte, die Magd verteidigte ihn aus Familienstolz, denn sie fühlte sich eins mit der Familie Grandet.
»Wie!« sagte sie zu den Verleumdern, »werden wir nicht alle im Alter streng und bitter? Warum soll gerade dieser Mann sich nicht verhärten? Schweigt also mit euern Anschuldigungen. Unsere Mademoiselle lebt wie eine Königin. Sie ist allein – nun ja, das ist so ihr Geschmack. Und übrigens hat meine Herrschaft wichtige Gründe für das, was sie tut.«
Eines Abends endlich, an einem späten Frühlingstag, bekannte Madame Grandet ihre geheimen Schmerzen den Cruchots. Der Kummer hatte – mehr noch als die Krankheit – ihre Kräfte aufgezehrt,