und mehrfach besohlte Stiefel.
Den Übergang von diesen beiden Personen zu den übrigen bildete Vautrin, der Mann von 40 Jahren mit dem gefärbten Backenbart. Er war einer von den Leuten, von denen das Volk sagt: Das ist einmal ein lustiger Bursche! Er hatte kräftige Schultern, einen breiten Brustkasten, starke Muskeln, dicke, breite Hände, die an den Fingergelenken mit Büscheln brennend roter Haare besetzt waren. Sein vorzeitig gerunzeltes Gesicht zeigte Züge einer Charakterhärte, welche seine gefälligen Manieren Lügen strafte. Seine Baßstimme, die gut zu seiner derben Lustigkeit paßte, mißfiel keineswegs, er war gefällig und stets zu Späßen aufgelegt. Wenn irgendein Schloß im Hause nicht mehr funktionierte, so hatte er es bald ausgebessert, geölt und wieder in Ordnung gebracht. Und dabei sagte er dann: Auf so etwas verstehe ich mich! Übrigens kannte er alles, Schiffe und Meere, Frankreich, das Ausland, alle Geschäfte, Menschen und Ereignisse, er wußte mit Gesetzen, Hotels und Gefängnissen Bescheid. Wenn jemand allzu sehr klagte, bot er ihm sogleich seine Dienste an. Er hatte Madame Vauquer und einigen Pensionären mehrmals Geld geliehen. Aber seine Schuldner wären lieber gestorben, als nicht zurückzuzahlen, soviel Furcht erweckte sein tiefer, entschlossener Blick, trotz seines sonstigen gutmütigen Gehabens. An der Art, wie er spuckte, konnte man seine unerschütterliche Kaltblütigkeit erkennen, die sicher nicht vor einem Verbrechen zurückschreckte, um aus einer gefährlichen Situation herauszukommen. Sein Auge schien wie ein unerbittlicher Richter allen Fragen, allen Gewissen und allen Gefühlen auf den Grund zu dringen. Er pflegte nach dem Frühstück auszugehen, zum Mittagessen zurückzukehren und dann den ganzen Abend fortzubleiben; gegen Mitternacht kehrte er mit Hilfe eines Hausschlüssels zurück, den ihm Madame Vauquer anvertraut hatte. Er allein erfreute sich dieser Gunst. Aber er stand sich auch am besten mit der Witwe, die er oft »Mama« nannte und um die Taille faßte, eine Schmeichelei, die nicht ganz gewürdigt wurde. Denn die gute Frau glaubte, die Umarmung sei eine leichte Sache, doch hatte nur Vautrin allein Arme, die lang genug waren, um ihren gewaltigen Umfang umspannen zu können. Zu seinen Charakterzügen gehörte, daß er in großzügiger Weise jeden Monat fünfzehn Francs für seine »Gloria« bezahlte, die er zum Nachtisch zu nehmen pflegte. Weniger oberflächliche Menschen, als es die jungen Leute waren, die der Strudel des Pariser Lebens beschäftigte, und die Greise, die gleichgültig gegen alles waren, was sie nicht direkt anging, hätten sich vielleicht nicht mit dem bloßen zweifelhaften Eindruck begnügt, den Vautrin machte. Er kannte oder ahnte die Angelegenheiten aller Menschen in seiner Umgebung, während niemand in seine eigenen Gedanken und Beschäftigungen einzudringen vermochte. Obwohl er seine scheinbare Gutmütigkeit, seine ständige Gefälligkeit und gute Laune als eine Schranke zwischen sich und den anderen errichtet hatte, ließ er doch oft die furchtbare Tiefe seines Charakters durchblicken. Oft konnte man an einem bitteren Ausspruch, der eines Juvenal würdig war und mit dem er die Gesetze in den Staub zu ziehen und die hohe Gesellschaft wegen ihrer Inkonsequenz zu geißeln schien, erkennen, daß er mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zerfallen war und daß es am Grunde seines Lebens ein sorgsam verborgenes Geheimnis gab.
Vielleicht ohne ihr Wissen, durch die Kraft des einen und die Schönheit des anderen angezogen, teilte Mademoiselle Taillefer ihre flüchtigen Blicke und ihre geheimen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten. Aber beide schienen nicht an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tag zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Übrigens gaben sich alle diese Personen nicht die Mühe festzustellen, ob die Schicksalsschläge, von denen die anderen erzählten, wahr oder erdichtet seien. Alle brachten sie einander eine mit Mißtrauen gemischte Gleichgültigkeit entgegen, die sich aus ihrer eigenen Situation ergab. Sie wußten sich unfähig, die Leiden der anderen zu erleichtern, und mit dem Anhören der Unglücksberichte war immer auch schon ihr Mitleid erschöpft. Wie alte Eheleute hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Zwischen ihnen blieb daher nichts als die Beziehungen eines mechanisch ablaufenden Zusammenlebens, das Spiel eines schlecht geölten Räderwerkes. Alle konnten sie auf der Straße ungerührt an einem Blinden vorübergehen, ohne Erregung den Bericht eines Unglücks entgegennehmen. Sie erblickten in jedem Todesfall die Lösung eines Jammerproblems, das sie auch angesichts der schrecklichsten Agonie kalt ließ.
Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war immer noch Madame Vauquer, die Herrscherin dieses freien Hospizes. Für sie allein war der kleine Garten, den die Hitze und die Kälte, den Trockenheit und Feuchtigkeit wüst wie eine Steppe ließen, ein lachender Lustgarten. Für sie allein hatte dieses gelbe freudlose Haus, das nach dem Schimmel eines Krämerladens roch, seine Reize: Diese Gefangenenzellen gehörten ihr! Sie ernährte ihre auf Lebenszeit verurteilten Sträflinge und herrschte über sie mit unbestrittener Autorität. Wo hätten diese armen Wesen in Paris zum gleichen Preise eine gesunde, ausreichende Nahrung gefunden und eine Wohnung, die sie selbst, wenn auch nicht elegant und bequem, so doch wenigstens sauber und luftig finden konnten? Selbst wenn sich Madame Vauquer eine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, das Opfer hätte sie klaglos ertragen.
Eine solche Vereinigung von menschlichen Wesen mußte im kleinen die Elemente eines vollständigen Gesellschaftskörpers darbieten. Und so war es auch. Unter den 18 Tischgenossen fand sich wie in allen Schulen, wie in der Welt überhaupt, ein armes verstoßenes Geschöpf, eine Zielscheibe für alle Spöttereien. Zu Beginn seines zweiten Studienjahres wurde diese Figur für Eugen de Rastignac die bemerkenswerteste unter all denen, mit denen zu leben er noch für zwei Jahre gezwungen war. Dieser Prügelknabe war der ehemalige Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Haupt ein Maler das ganze Licht konzentriert hätte, so wie auch wir es tun müssen. Wie aber kam es, daß eine solche beinahe haßerfüllte Verachtung, eine solche mit Mitleid gemischte Verfolgungswut, daß eine solche Nichtachtung des Unglücks gerade diesen, den ältesten Pensionär traf? Hatte er selbst durch Lächerlichkeiten und Bizarrerien, die man weniger verzeiht als Laster, Anlaß dazu gegeben? Diese Fragen kann man bei mancher sozialen Ungerechtigkeit aufwerfen. Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur, gerade dem alles aufzubürden, der alles aus Demut, aus Schwäche oder Gleichgültigkeit trägt. Lieben wir es nicht alle, unsere Kraft auf Kosten eines anderen zu beweisen? Das schwächste Geschöpf, der Pariser Straßenjunge, läutet an allen Türen, wenn es draußen gefroren hat, oder er klettert auf ein Denkmal, um auf ihm seinen Namen zu verewigen.
Der Vater Goriot, ein Greis von etwa 69 Jahren, war im Jahre 1813 zu Madame Vauquer gezogen, nachdem er sein Geschäft aufgegeben hatte. Er bewohnte zunächst das Appartement, das jetzt Madame Couture innehatte, und er bezahlte damals 1200 Francs Pension, als ein Mann, für den 5 Louisdor mehr oder weniger eine Bagatelle sind. Madame Vauquer hatte die drei Zimmer des Appartements mit Hilfe einer von Vater Goriot im voraus gezahlten Entschädigung instand gesetzt. Das dürftige Inventar bestand aus Vorhängen von gelbem Kattun, aus lackierten Stühlen, die mit Utrechter Samt bezogen waren, aus einigen bunten Drucken und aus Tapeten, die man in Vorstadtkneipen zurückgewiesen hätte. Vielleicht ließ die sorglose Großzügigkeit des Vaters Goriot, den man zu dieser Zeit noch respektvoll Monsieur Goriot nannte, ihn als einen Dummkopf erscheinen, der nichts von Geldangelegenheiten versteht. Goriot zog mit einer reichen Garderobe ein, mit der ganzen Ausstattung eines Kaufmanns, der sich nichts abgehen läßt, wenn er sich zur Ruhe setzt. Madame Vauquer hatte 18 Hemden aus holländischem Batist bewundert, deren Feinheit um so bemerkenswerter war, als der Nudelfabrikant auf seinem Spitzentuch zwei durch ein Kettchen verbundene Nadeln trug, die beide je einen dicken Diamanten faßten. Gewöhnlich trug er einen kornblumenblauen Rock. Jeden Tag nahm er eine frische Weste aus weißem Pikee, unter der sich sein stattlicher Spitzbauch wölbte, auf dem eine dicke Goldkette mit Anhängsein baumelte. Seine goldene Tabakdose zeigte ein Medaillon, das eine Haarlocke barg und ihn einiger Liebschaften verdächtig machte. Als seine Wirtin einmal behauptete, er sei ein Lebemann, ließ er um seine Lippen das zufriedene Lächeln des Bourgeois spielen, dem man schmeichelt. Seine Schränke waren voll von reichlichem Silberzeug aus seinem früheren Haushalt. Die Augen der Witwe leuchteten auf, als sie ihm beim Aus- und Einpacken der silbernen Löffel, der Bestecke und Soßennäpfe half. Auch verschiedene Silberplatten, ein Frühstücksgeschirr, alles in allem im Gewichte von mehreren Pfund Silber, hatte Goriot mitgebracht. Es waren Geschenke, die ihn an die freudigen Ereignisse seines Familienlebens erinnerten.
»Dies hier«, sagte er zu Madame Vauquer, indem er ihr eine Platte und ein Kännchen zeigte, auf dessen Deckel sich zwei Tauben schnäbelten, »ist das Geschenk, das mir meine Frau an unserem ersten Hochzeitstage machte. Das gute Wesen!