erschien, ließ seine Wirtin beim Anblick der Farbe seiner Haare einen Ausruf der Überraschung vernehmen. Die Haare waren von einem grünlich-schmutzigen Grau; das Gesicht des Vaters Goriot, das ein geheimer Kummer von Tag zu Tag unmerklich trauriger gemacht hatte, war jetzt das trostloseste von allen denen, die den Tisch umgaben. Es konnte keinen Zweifel mehr geben: Vater Goriot war ein alter Wüstling, dessen Augen nur durch die Geschicklichkeit eines Arztes vor dem unheilvollen Einfluß der Mittel bewahrt worden waren, mit denen er seine Krankheit kurieren mußte. Die widerliche Farbe seiner Haare war eine Folge seiner Ausschweifungen und der Drogen, die er zu sich genommen hatte, um sie fortzusetzen. Der gesamte physische und moralische Zustand des Alten gab Anlaß zu diesen Redereien. Als sein Wäschevorrat verbraucht war, kaufte er Kattun für 14 Sous die Elle, um ihn zu ersetzen. Seine Diamanten, seine goldene Tabatiere, seine Uhrkette und seine Schmuckstücke verschwanden nacheinander. Er trug nicht mehr seinen kornblumenblauen Rock und seine sonstigen guten Kleider, er ging Sommer wie Winter in einem Überrock aus grobem braunem Tuch, einer Weste aus Ziegenleder und einer grauen Hose aus Buckskin. Er wurde zusehends magerer, seine Waden verloren ihre Fülle, sein Gesicht, das früher eine bürgerliche Zufriedenheit ausstrahlte, war von Falten übersät, die Backenknochen traten hervor, und die Stirn wurde runzlig.
Als er das vierte Jahr in der Rue Neuve-Ste-Geneviève wohnte, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Der gutgenährte Nudelfabrikant von 62 Jahren, der aussah wie ein Vierziger, der dicke Bürger mit seiner gutmütigen Miene, dessen fröhliches Wesen jedem Vergnügen machte, der beim Lächeln wirklich jung zu werden schien, wurde zu einem stumpfen, gebrochenen, fahlen, siebzigjährigen Greis. Seine so lebhaften blauen Augen nahmen eine müde graue Färbung an, sie schienen blasser zu werden, tränten nicht mehr, und ihr roter Rand schien Blut zu weinen. Bei den einen erregte er Abscheu, bei den anderen Mitleid. Junge Studenten der Medizin, die sich lange mit ihm beschäftigten, ohne aus ihm etwas herausholen zu können, erklärten auf Grund seiner herabhängenden Unterlippe und nach Messung seines Schädelwinkels, er sei von Kretinismus befallen. –
Eines Abends nach dem Essen fragte ihn Madame Vauquer spöttisch: »Ihre Töchter kommen wohl nicht mehr auf Besuch zu Ihnen?«
Sie wollte damit seine Vaterschaft in Zweifel ziehen. Vater Goriot fuhr zusammen, als hätte man ihn mit einem glühenden Eisen gezwickt, und antwortete: »Sie kommen noch gelegentlich.«
»Ah, doch noch hin und wieder?« riefen die Studenten. »Bravo, Vater Goriot!«
Aber der Greis hörte nicht auf die Spötteleien, die ihm seine Antwort zuzog, er war wieder in sein Nachdenken zurückgesunken, das oberflächliche Beobachter für greisenhaften Stumpfsinn hielten. Hätten sie ihn besser gekannt, so würden sie sich vielleicht für das Problem seines physischen und moralischen Zustandes interessiert haben. Aber es war sehr schwierig, Vater Goriot zu kennen. Wohl konnte man leicht feststellen, ob er wirklich Nudelfabrikant gewesen war und wieviel er besaß. Aber die alten Tischgenossen, deren Neugier rege geworden war, verließen das Stadtviertel nicht und lebten in der Pension wie Austern auf ihrem Felsen. Die jüngeren ließ das lebhafte Pariser Leben den alten Mann, an dem sie ihren Spott geübt hatten, vergessen, sobald sie die Rue Neuve-Ste-Geneviève hinter sich hatten. Für jene beschränkten Geister wie für die sorglosen jungen Leute schien das graue Elend des Vaters Goriot und sein Stumpfsinn unvereinbar mit größerem Vermögen und irgendwelchen Fähigkeiten. Über die Frauen, die er seine Töchter nannte, teilten alle die Ansicht der Madame Vauquer, die mit der banalen Logik, mit der Schwätzerinnen Verdächtigungen ausstreuen, erklärte:
»Wenn Vater Goriot Töchter hätte, die so reich sind, wie die Damen es wohl sein müssen, die ihn besucht haben, so würde er nicht im dritten Stock meines Hauses wohnen, für 45 Francs im Monat, und er würde nicht wie ein Bettler gekleidet herumlaufen.«
Nichts konnte diese Argumentation entkräften, und so hatte gegen Ende November 1819, zur Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, jeder in der Pension seine feststehenden Vorstellungen von dem armen Greis. Er hatte niemals eine Tochter oder eine Frau gehabt; seine Ausschweifungen hatten ihn zu einem schneckenartigen Wesen gemacht, zu einem Wesen, halb Mensch, halb Molluske – wie sich ein Beamter des naturwissenschaftlichen Museums ausdrückte, der auf das Diner abonniert war. Poiret war ein Adler, ein Gentleman neben Goriot! Poiret plauderte, äußerte Meinungen, antwortete! In Wirklichkeit sagte er freilich nichts, denn er hatte die Gewohnheit, in anderen Wendungen das zu wiederholen, was sein Gegenüber bereits gesagt hatte. Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebendig und schien Gefühle zu haben, während Vater Goriot, wie sich derselbe Museumsbeamte ausdrückte, ständig auf null Grad Reaumur stand.
Eugen de Rastignac war aus seinen Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bei jungen, höher veranlagten Menschen recht häufig ist und die sich auch bei denen findet, denen eine zeitweilig schwierige Lage die Eigenschaften der Elitemenschen verleiht. Während seines ersten Jahres in Paris hatte das geringe Maß von Arbeit, das für die Anfangsexamen der juristischen Fakultät erforderlich ist, ihm die Freiheit gelassen, die sichtbaren Reize der großen Stadt kennenzulernen. Ein Student hat nicht allzuviel Zeit, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters kennen, wenn er das Labyrinth von Paris studieren, wenn er die besonderen Gebräuche und den Jargon der Hauptstadt lernen und sich an deren spezielle Vergnügungen gewöhnen will. Er muß gute und schlechte Lokale kennen, amüsante Vorlesungen hören und sich unter den Schätzen der Museen umsehen. Ein Student pflegt sich im allgemeinen für Torheiten zu begeistern, die ihm gleichwohl großartig vorkommen. Er hat seinen großen Mann – vielleicht einen Professor des Collège de France –, der dafür bezahlt wird, daß er sich auf der geistigen Höhe seines Auditoriums hält. Er zupft an seiner Krawatte und wirft sich für die Damen auf dem ersten Rang der Opéra Comique in Positur. Bei diesen Bemühungen wird er allmählich zu einem neuen Menschen, er erweitert seinen Horizont und lernt schließlich die Schichtungen der menschlichen Gesellschaft verstehen. Wenn er zunächst noch die Equipagen auf den Champs-Élysées an einem schönen Sommertag bewundert, so wird er bald ihre Insassen beneiden.
Eugen hatte diese Lehrzeit unbewußt absolviert, als er nach seinem Bakkalaureat in die Ferien fuhr. Seine Kindheitsillusionen, seine Provinzideen waren dahin. Sein geschärfter Blick, sein gesteigerter Ehrgeiz öffneten ihm vollends die Augen, als er sich auf seinem väterlichen Gut im Schoße seiner Familie wiederfand. Auf der kleinen Besitzung der Rastignacs lebten sein Vater, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine beiden Schwestern und eine Tante, die eine kleine Pension bezog. Die Besitzung warf ein Einkommen von etwa 3000 Francs ab, aber da das Geld zum größten Teil aus dem Weinbau hereinkam, waren die Einnahmen schwankend. Und doch mußten jedes Jahr 1200 Francs für ihn aufgebracht werden. Der Anblick dieser ständigen Not, die man ihm voller Großmut niemals eingestanden hatte, der Vergleich zwischen seinen Schwestern, die ihm in seiner Jugend so schön vorgekommen waren, mit den Frauen von Paris, die die Gestalten seiner Träume verwirklichten, die ungewisse Zukunft seiner großen Familie, die von ihm abhing, die ängstliche Sparsamkeit, zu der seine Angehörigen gezwungen waren, die sich ihren Haustrank selbst aus den Überresten der Kelter herstellten – kurz, eine ganze Reihe anderer Umstände, die aufzuzählen unmöglich ist, entwickelten in ihm den Drang, vorwärtszukommen und sich auszuzeichnen. Wie alle großen Naturen wollte er alles nur seinem eigenen Verdienst verdanken, aber er war ein richtiger Südfranzose. Wenn es zu handeln galt, war er Hemmungen ausgesetzt, die junge Menschen so oft befallen, wenn sie sich gleichsam auf offenem Meer befinden und nicht wissen, wohin sie steuern, wohin, sie ihre Segel stellen sollen. Wenn er sich anfangs verzweifelt in die Arbeit stürzte, so sah er bald ein, daß er Verbindungen nötig habe. Er erkannte den Einfluß der Frauen auf das soziale Leben, und er beschloß, die große Gesellschaft aufzusuchen, um Protektion zu finden. Wie konnte sie einem kühnen, geistreichen jungen Mann fehlen, dessen feuriger Sinn durch ein elegantes Auftreten und durch eine Art nervöser Schönheit unterstützt wurde, der die Frauen so leicht zum Opfer fallen!
Diese Gedanken beschäftigten ihn oft, wenn er lange Spaziergänge mit seinen Schwestern machte. Die Mädchen fanden ihn sehr verändert. Seine Tante, Madame de Marcillac, die früher am Hofe verkehrte, hatte noch einige Bekanntschaften unter dem hohen Adel. Mit einem Schlage erkannte der ehrgeizige junge Mann in diesen Erinnerungen seiner Tante die Grundlagen für zukünftige Eroberungen in der Gesellschaft, die mindestens ebenso bedeutend werden konnten wie die, die er sich für die Universität vornahm. Er unterzog jetzt die alte Dame einem Kreuzverhör