wurde ihr klar, daß ihr hübsch aufgebauter Hoffnungstraum auf einer chimärischen Grundlage beruhe und daß sie nach dem kräftigen Ausdruck der sich darin offenbar auskennenden Gräfin aus diesem Mann niemals etwas herausholen würde. Wie es meist zu geschehen pflegt, ging sie in ihrer Abneigung weiter als in ihrer Freundschaft. Ihr Haß erklärte sich nicht aus gekränkter Liebe, sondern aus ihren zerstörten Hoffnungen. Wenn das menschliche Herz seine Ruhe findet, sobald es die Höhen der Zuneigung erreicht hat, so hält es selten bei dem jähen Hinabgleiten in den Abgrund des Hasses an. Aber da Goriot ihr Pensionär war, war die Witwe gezwungen, die Ausbrüche ihrer verletzten Eigenliebe zurückzuhalten, die Seufzer zu unterdrücken, die diese Enttäuschung erregte, und ihre Rachgier in sich hineinzufressen: wie ein Mönch, der von seinem Abt ungerecht gequält wird. Kleine Geister befriedigen ihre guten oder schlechten Empfindungen durch fortdauernde Kleinlichkeiten. Die Witwe verwandte ihre ganze weibliche Bosheit darauf, heimliche Quälereien gegen ihre Opfer zu erfinden. Sie begann damit, alles Überflüssige ihrer Pension einzuschränken.
»Keine Pfeffergurken und keine Anchovis mehr, das ist bloß dummes Zeug«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, als sie ihren alten Küchenzettel wieder in Kraft setzte.
Herr Goriot war recht genügsam. Die Sparsamkeit, welche für Leute, die ihr Vermögen selbst erwerben wollen, notwendig ist, war bei ihm zur Gewohnheit geworden. Suppe, ein Stück Fleisch und etwas Gemüse waren immer seine Lieblingsspeisen gewesen und waren es geblieben. Es war daher für Madame Vauquer sehr schwer, ihren Pensionär zu quälen, denn er nahm mit allem vorlieb. Verzweifelt darüber, einen unverwundbaren Gegner vor sich zu haben, suchte sie ihn verächtlich zu machen. Sie übertrug ihre Abneigung gegen Herrn Goriot auf ihre Pensionäre, die zu ihrer eigenen Belustigung die Rachsucht der Witwe unterstützten. Gegen Ende des ersten Jahres war die Witwe Goriot gegenüber so mißtrauisch geworden, daß sie sich fragte, warum dieser reiche Kaufmann mit seinen 7000 bis 8000 Francs Rente, mit seinem reichen Silberschatz und mit Schmuckstücken, die einer Mätresse Ehre machen konnten, bei ihr für einen Pensionspreis wohnte, der in so gar keinem Verhältnis zu seinem Vermögen stand. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot öfter ein- oder zweimal in der Woche auswärts diniert. Allmählich aber kam es dazu, daß er nur noch zweimal monatlich auswärts aß. Diese kleinen Partien Goriots entsprachen zu sehr den Interessen der Madame Vauquer, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit unzufrieden werden konnte, mit der er seine Mahlzeiten bei ihr einnahm. Diese Veränderungen schrieb man ebensosehr einer langsamen Vermögensminderung Goriots zu wie seinem Wunsch, die Wirtin zu ärgern.
Es ist eine der abscheulichsten Gewohnheiten dieser kleinen Geister, ihre eigene Kleinlichkeit auch bei anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot dieses Gerede gegen Ende des zweiten Jahres, indem er auf die zweite Etage zog und nur noch 900 Francs Pension zahlte. Er schränkte sich so sehr ein, daß er den Winter über nicht mehr heizen ließ. Frau Vauquer wollte nun im voraus bezahlt werden. Hierauf ging Monsieur Goriot, den Madame Vauquer von nun an Vater Goriot nannte, ein. Man konnte sich die Gründe für diesen Abstieg nicht erklären. Wie die falsche Gräfin so richtig bemerkt hatte, war Vater Goriot ein Heimlichtuer und Schweiger. Nach der Logik der Leute mit leeren Köpfen, die alle redselig sind, weil sie nur Nichtigkeiten zu erzählen haben, muß es um die Leute, die nichts von ihren Geschäften erzählen, schlecht stehen. So wurde der angesehene Kaufmann zu einem Lumpen, der Lebemann zum alten Eigenbrötler. Bald war nach Ansicht Vautrins, der um diese Zeit in das Haus Vauquer einzog, der Vater Goriot ein Mann, der an der Börse spielte und der nunmehr im kleinen arbeitete, nachdem er sich früher ruiniert hatte. Bald war er einer von den kleinen Spielern, die jeden Abend ihre 10 Francs im Hasard riskieren und gewinnen, bald machte man aus ihm einen Spitzel der Geheimpolizei; aber Vautrin behauptete, daß er nicht schlau genug sei, um »dazu zu gehören«. Schließlich wurde Vater Goriot zu einem Wucherer und zum Lotteriespieler. Man machte aus ihm alles, was nur Laster, Schande und Erbärmlichkeit an geheimnisvollen Früchten hervorbringen können. Aber so gemein auch sein Benehmen und seine Laster sein sollten, die Abneigung gegen ihn reichte nicht aus, um ihn zu verbannen: Er zahlte seine Pension pünktlich. Und schließlich war er ja auch nützlich, denn jeder ließ an ihm mit Spöttereien und kleinen Rippenstößen seine guten oder schlechten Launen aus. Die wahrscheinlichste Ansicht über ihn, die schließlich auch allgemein angenommen wurde, war die der Madame Vauquer. Wenn sie recht hatte, war dieser noch rüstige Mann, der so gesund wie ein Fisch im Wasser war und der einer Frau noch viel Vergnügen bereiten konnte, ein Wüstling mit fremdartigen Gelüsten. Und dies sind die Tatsachen, auf die die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen stützte. Einige Monate nach dem Verschwinden der falschen Gräfin, die es verstanden hatte, sechs Monate auf ihre Kosten zu leben, hörte Madame Vauquer eines Morgens vor dem Aufstehen auf der Treppe das Rauschen eines seidenen Kleides und den leichten Schritt einer jungen Dame, die in Goriots Zimmer, dessen Tür sich wie in stillem Einverständnis öffnete, verschwand. Sofort erschien die dicke Sylvia, um ihrer Herrin mitzuteilen, daß ein junges Mädchen, zu hübsch, um anständig zu sein, »gekleidet wie eine Göttin«, in zierlichen hauchzarten Schühchen, sich wie ein Aal von der Straße zur Küche geschlichen habe, um nach der Wohnung Goriots zu fragen. Madame Vauquer und ihre Köchin zogen auf Horchposten. Sie konnten feststellen, wie während des Besuches, der geraume Zeit dauerte, zarte Worte gewechselt wurden. Als Goriot »seine Dame« hinausbegleitete, ergriff die dicke Sylvia sofort ihren Korb, um angeblich zum Markt zu gehen, in Wirklichkeit aber, um dem Liebespaar zu folgen.
»Madame«, sagte sie bei der Rückkehr, »Goriot muß verflucht reich sein, wenn er seine Geliebte auf solchem Fuß leben läßt. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Rue Estrapade eine herrliche Kutsche stand, in die ›sie‹ eingestiegen ist.«
Während des Mittagessens stand Madame Vauquer auf und zog den Vorhang zu, um Goriot vor einem Sonnenstrahl zu schützen, der ihm in die Augen fiel.
»Sie werden von schönen Frauen geliebt, Herr Goriot, die Sonne sucht Sie!« sagte sie, um auf den Besuch anzuspielen. »Zum Teufel! Sie haben einen guten Geschmack, die war wirklich hübsch.«
»Das war meine Tochter«, erwiderte er mit einer Art von Stolz; die Pensionäre sahen in seiner Antwort nur die Geckenhaftigkeit eines Greises, der das äußere Dekorum wahren will.
Einen Monat nach diesem Besuch erschien wieder eine Dame bei Goriot. Seine Tochter, die das erstemal in Morgentoilette gekommen war, kam jetzt nach dem Mittagessen und zum Ausgehen angezogen. Die Pensionäre, die im Salon plauderten, bekamen eine hübsche blonde Dame von zarter Figur zu sehen, viel zu vornehm, um die Tochter des alten Goriot zu sein.
»Nr. 2«, sagte die dicke Sylvia, die die Besucherin nicht wiedererkannte.
Einige Tage später verlangte ein anderes junges Mädchen, groß und hübsch, eine Brünette mit schwarzen Haaren und lebhaftem Blick, Monsieur Goriot zu sprechen.
»Nr. 3«, sagte Sylvia.
Diese zweite junge Dame, die gleichfalls zuerst am Morgen gekommen war, um ihren Vater zu besuchen, kam einige Tage später am Abend wieder, mit Equipage und in Balltoilette.
»Das ist Nr. 4«, sagten Madame Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser großen Dame das einfach gekleidete junge Mädchen nicht wiedererkannten, das den Besuch am Morgen gemacht hatte.
Goriot zahlte damals immer noch 1200 Francs Pension. Madame Vauquer hielt es für ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Geliebte habe, und fand es sogar sehr schlau, sie für seine Töchter auszugeben. Sie erhob auch keine Einwände dagegen, daß diese Besuche im Hause Vauquer stattfanden. Da ihr aber nun die Besuche den Gleichmut erklärlich machten, den Goriot ihr gegenüber an den Tag legte, so erlaubte sie sich, ihn zu Beginn des zweiten Jahres einen »alten Kater« zu nennen. Endlich, als ihr Pensionär auf 900 Francs herabgestiegen war, fragte sie ihn in barschem Ton, was er aus ihrem anständigen Haus zu machen gedenke, als sie wieder eine der Damen absteigen sah. Vater Goriot erwiderte, diese Dame sei seine älteste Tochter.
»Sie haben wohl 36 von der Sorte«, erwiderte Madame Vauquer schnippisch.
»Ich habe nur zwei«, war die Antwort des Pensionärs, die mit der ganzen Sanftmut eines ruinierten Mannes erteilt wurde, den das Unglück bescheiden macht.
Gegen Ende des dritten Jahres schränkte sich Vater Goriot noch mehr ein, indem er auf die dritte