zum Aufstehen bewegen, sie nahm seine Hände, um sie zu küssen, aber er zog sie zurück. Ist das nicht ein Verbrechen? Sein großer Schlaks von Sohn kam ins Zimmer, ohne seine Schwester auch nur zu grüßen.«
»Das sind ja die reinsten Ungeheuer«, sagte Vater Goriot.
»Und dann«, fuhr Madame Couture fort, ohne auf den Ausruf des Alten zu achten, »gingen Vater und Sohn fort, indem sie sich verabschiedeten und mich baten, sie zu entschuldigen. Sie hätten dringende Geschäfte. Das ist unser Besuch! Wenigstens hat er seine Tochter gesehen. Ich verstehe nicht, wie er sie verstoßen kann; sie gleicht ihm wie ein Tropfen Wasser dem anderen!«
Pensionäre und Tischgäste kamen jetzt einer nach dem anderen an, sich gegenseitig begrüßend. Sie sagten sich die Nichtigkeiten, die bei gewissen Klassen der Pariser Bevölkerung für Humor gelten, ein Humor, der zum wesentlichen aus Dummheiten besteht und bei dem der ganze Witz in Gesten oder auf der Aussprache beruht. Diese Art des Jargons ändert sich dauernd, und die Witzelei, die dabei die Grundlage ausmacht, dauert niemals länger als einen Monat.
Ein politisches Ereignis, eine Schwurgerichtsverhandlung, ein Gassenhauer, die Späße eines Schauspielers, alles dient dazu, um dieses Unterhaltungsspiel zu nähren, bei dem man sich die Ideen und die Worte wie Federbälle zuwirft. Die damals neue Erfindung des Dioramas, das eine stärkere optische Illusion als das Panorama hervorrief, hatte in einigen Malerateliers die Mode aufkommen lassen, nur noch in »Rama« zu sprechen. Ein junger Maler, der in der Pension verkehrte, hatte diese Mode hierher verpflanzt.
»Nun, Monsieur Poiret«, sagte der Museumsbeamte, »was macht das werte kleine Befindorama?«
Dann, ohne die Antwort abzuwarten, zu Madame Couture und Victorine gewandt: »Meine Damen, Sie haben Kummer?«
»Gibt es was zu essen?« rief Horace Bianchon, ein Student der Medizin und Freund Rastignacs. »Mein armer Magen hängt mir bis auf die Pedes.«
»Ein verfluchtes Kältorama«, rief Vautrin. »Machen Sie ein bißchen Platz, Vater Goriot! Teufel auch, Sie nehmen mit Ihren Beinen den ganzen Ofen für sich in Anspruch.«
»Verehrter Herr Vautrin«, sagte Bianchon, »warum sagen Sie Kältorama, das ist falsch, es muß doch heißen Kaltorama!«
»Nein«, sagte der Museumsbeamte, »es heißt Kältorama, denn man sagt doch auch, ich habe mich erkältet!«
»Ah, ah!«
»Hier kommt seine Exzellenz Marquis de Rastignac, Magister der Rechtsverdrehung!« rief Bianchon, der Eugen um den Hals fiel und ihn zum Ersticken drückte.
Mademoiselle Michonneau trat leise ein, grüßte wortlos die Tischgenossen und nahm bei den drei Frauen Platz.
»Wenn ich die alte Fledermaus sehe, bekomme ich immer eine Gänsehaut«, sagte Bianchon leise zu Vautrin, indem er auf Mademoiselle Michonneau wies.
»Ich studiere jetzt das System Galls und finde, daß sie Judashöcker hat.«
»Sie kennen sie wohl näher?« fragte Vautrin.
»Wer ist der nicht schon begegnet?« erwiderte Bianchon. »Auf mein Ehrenwort, diese bleiche alte Jungfer erinnert an einen länglichen Holzwurm, einen von der Sorte, die schließlich einen Balken zernagen.«
»Das stimmt, junger Mann«, sagte Vautrin und streichelte seinen Backenbart.
»Die Rose lebt wie alle Rosen Nur einen Morgen …«
»Aha, da kommt ein herrliches Supporama«, sagte Poiret, als Christoph feierlich mit der Suppenschüssel erschien.
»Verzeihen Sie«, sagte Madame Vauquer, »das ist eine Soupe aux choux, kein Supporama!«
Die jungen Leute platzten vor Lachen los: »Hereingefallen, Poiret; Poirrrrette ist hereingefallen!«
»Madame Vauquer einen rauf!« rief Vautrin.
»Hat jemand auf den Nebel heute morgen geachtet?« fragte der Museumsbeamte.
Bianchon erwiderte: »Das war ein beispielloser, frenetischer Nebel, ein melancholischer, grüner, dampfender Nebel, ein Nebel à la Goriot.«
»Ein Goriorama«, sagte der Maler, »denn man konnte nichts mehr sehen.«
»He, Mylord Goriotte, hören Sie doch ein wenig zu, please!«
Vater Goriot, der am Ende der Tafel saß, in der Nähe der Tür, durch die aufgetragen wurde, hob eben den Kopf. Er schnupperte an dem Stück Brot, das unter seiner Serviette lag, nach einer alten Berufsgewohnheit, die ab und zu zum Durchbruch kam.
Madame Vauquer rief ärgerlich, mit einer Stimme, die das Geräusch der Unterhaltung und des Löffelklapperns übertönte: »Na, finden Sie mein Brot etwa nicht gut?«
»Im Gegenteil, Madame, es ist aus einem Mehl von erster Qualität, aus dem Mehl von Étampes gebacken.«
»Woran erkennen Sie das?« fragte Eugen.
»An der weißen Farbe und am Geschmack!«
»Sagen Sie lieber an Ihrer eigenen Nase, da Sie daran schnüffeln«, sagte Madame Vauquer. »Sie werden so sparsam, daß Sie schließlich noch ein Mittel erfinden, sich vom Küchendunst zu ernähren.«
»Darauf müssen Sie ein Patent nehmen!« rief der Museumsbeamte, »damit kann man viel Geld verdienen.«
»Laßt ihn doch, er tut das nur, um uns zu überzeugen, daß er wirklich Nudelfabrikant gewesen ist«, sagte der Maler.
»Ihre Nase scheint sich auf chemische Dinge sehr gut zu verstehen und eine Art Retorte zu sein«, meinte der Museumsbeamte. Diese Bemerkung rief eine Unmenge von Witzeleien über die Nase des Vaters Goriot hervor, die sich die Tischgenossen von einem Ende der Tafel zum anderen zuwarfen. Vater Goriot sah verständnislos drein, wie ein Mann, der eine ihm unbekannte Sprache zu verstehen sucht. Schließlich wandte er sich an Vautrin, der neben ihm saß, und bat ihn um Aufklärung über eines der Witzworte, die gefallen waren. Statt aller Antwort gab Vautrin Vater Goriot einen Schlag auf den Kopf, der ihm seine Mütze bis auf die Augen herunterdrückte. Der arme Greis, den dieser plötzliche Überfall überraschte, blieb einen Augenblick unbeweglich. Christoph nahm den Teller des Alten fort, weil er glaubte, daß er mit seiner Suppe fertig sei. Als Vater Goriot, nachdem er seine Mütze zurückgeschoben hatte, zum Löffel griff, um weiterzuessen, traf er damit den leeren Tisch. Die Tischgesellschaft brach in ein unbändiges Lachen aus.
»Sie sind ein übler Spaßvogel«, sagte Goriot zu Vautrin, »und wenn Sie sich noch einmal derartige Dinge erlauben …«
»Nun, was dann, Papa?« fragte Vautrin, ihn unterbrechend.
»Sie werden mir das eines Tages sehr teuer bezahlen.«
»In der Hölle, nicht wahr?« rief der Maler, »in diesem schwarzen Loch, wohin die bösen Kinder kommen.«
»Aber Mademoiselle«, sagte Vautrin zu Victorine, »Sie essen ja nicht. Der Papa hat sich also wieder einmal widerspenstig gezeigt.«
»Ein Scheusal«, rief Madame Couture.
»Man muß ihn zur Vernunft bringen«, erwiderte Vautrin.
Rastignac flüsterte Bianchon, der neben ihm saß, zu: »Das Fräulein kann eigentlich eine Alimentationsklage anstrengen, da sie durch ihren Vater vom Essen abgehalten wird. Oh, sehen Sie nur, wie Vater Goriot Mademoiselle Victorine anstiert.«
Der Greis aß in der Tat nicht weiter und sah unverwandt das arme junge Mädchen an, in dessen Zügen ein echter Schmerz zum Ausdruck kam, der Schmerz des verstoßenen Kindes, das seinen Vater liebt. –
»Mein Lieber«, sagte Rastignac leise zu Bianchon, »wir haben uns in Vater Goriot getäuscht, er ist weder ein Dummkopf noch ein Mensch ohne Gefühl. Untersuche ihn einmal nach dem System Gall und sag mir, was du über ihn denkst. Ich sah ihn heute nacht, wie er eine Silberplatte zusammenpreßte, als wäre sie Wachs, und sein Gesichtsausdruck verriet dabei ganz außerordentliche Empfindungen. Sein Leben scheint mir zu rätselhaft zu sein, als daß man es nicht studieren müßte. O ja, Bianchon, du hast gut lachen, ich scherze nicht.«
»Der Mann ist wirklich ein medizinisches Problem«, sagte Bianchon zustimmend. »Wenn