einiger Jahre im Christentum erzogen worden, und manchmal schien es ihm, als hätte dies einen Eindruck zurückgelassen. Sie hatte ein altes Gebetbuch, »Seelengarten«, das sie gern bei sich trug, obwohl sie immer mit einem Anschein von Geringschätzung protestierte, es sei nur Unsinn. Und doch wäre es Oliver lieber gewesen, sie hätte es verbrannt. Aberglaube ist ein verzweifeltes Ding, an das sich das entfliehende Leben klammert, und das mit zunehmender Gehirnschwäche sich begreiflicherweise wieder geltend macht. Das Christentum, so sagte er sich, war roh und albern; roh, wegen seiner in die Augen springenden Groteskheit und Unmöglichkeit; und albern, weil es sich so absolut fremd gegenüber dem herzerfreuenden Strome des menschlichen Lebens verhielt. Es schlich unansehnlich umher, wie er wusste, in kleinen, dunklen, da und dort verstreuten Kirchen; es rief mit hysterischer Sentimentalität zum Himmel in der Westminster-Kathedrale, in die er einmal eingetreten war und auf die er mit einer Art angewiderter Wut blickte; es schwätzte sinnloses, unwahres Zeug seinen urteilslosen Anhängern, den alten Weibern und geistig nicht ganz Zurechnungsfähigen, vor. Zu schrecklich wäre es ihm aber, wenn seine eigene Mutter es noch mit wohlwollenden Augen betrachtete.
Oliver selbst war, soweit er nur zurückdenken konnte, stets ein heftiger Gegner aller Zugeständnisse an Rom und Irland gewesen. Es war unerträglich, dass diese beiden Gebiete endgültig jenen Narrheiten, jenem hinterlistigen Blödsinn preisgegeben sein sollten; waren sie doch Pflanzstätten des Aufruhrs, Pestbeulen auf dem Angesichte der Menschheit. Nie war er mit jenen einverstanden, welche meinten, es sei besser, dass all das Gift des Westens sich an einem Orte vereinigt finde, als dass es überall verstreut sei. Auf jeden Fall war es nun einmal da. Rom war gänzlich jenem alten Manne im weißen Talar überlassen und hatte dafür sämtliche Pfarrkirchen und Kathedralen Italiens in Tausch gegeben, und es galt als ausgemacht, dass mittelalterliche Finsternis dort unumschränkt herrschte. Und Irland hatte, nachdem es vor dreißig Jahren sich selbst zur eigenen Verwaltung überlassen worden war, sich für den Katholizismus erklärt und seine Arme dem Individualismus in seiner bösartigsten Form geöffnet. England hatte lachend seine Einwilligung gegeben; war es doch durch die unmittelbare Übersiedelung der Hälfte seiner katholischen Bevölkerung nach jener Insel befreit von einer beträchtlichen Quantität Gärungsstoffes; es hatte sogar im Einverständnis mit der kommunistischen Kolonialpolizei dem Individualismus dort jede Erleichterung gewährt, um ihn sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben zu lassen. Komische Dinge aller Art ereigneten sich dort. Oliver hatte, belustigt und zugleich erbittert, von dort erfolgten, neueren Erscheinungen einer in Blau gekleideten Frau gelesen, und dass, wo ihr Fuß geruht hatte, Kapellen errichtet worden waren. Einen weniger belustigenden Eindruck machte auf ihn Rom, denn durch Verlegung der italienischen Regierung nach Turin hatte die Republik beträchtlich an Gefühlswert verloren und dem alten Religionsschwindel neuerdings zu dem ganzen verlockenden Nimbus einer historischen Erscheinung verholfen. Immerhin, das war unverkennbar, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein; die Welt hatte endlich angefangen, zur Einsicht zu kommen.
Einige Augenblicke noch, nachdem seine Frau weggegangen war, stand er an der Türe, Beruhigung schöpfend aus dem herrlichen Anblick dessen, was die Herrschaft gesunder Vernunft hier geschaffen und vor ihm niedergelegt hatte: die endlosen Dächerreihen, die hohen Glaskuppeln der öffentlichen Badeanstalten und Turnhallen, die mit Spitztürmen versehenen Schulen, in denen jeden Morgen das Bürgerrecht gelehrt wurde, die spinnenartigen Kräne und die Gerüste, die da und dort sich erhoben; selbst die wenigen Kirchtürme störten ihn in diesem Augenblick nicht. Da wogte er hin, im grauen Dunste Londons entschwindend, ein Bild wahrhaftiger Schönheit, dieser unermessliche Strom von Männern und Frauen, die endlich die Grundlehre des Evangeliums begriffen hatten: Es gibt keinen Gott außer dem Menschen, keinen anderen Priester als den Politiker, keinen anderen Propheten als den Schulmeister …
Dann machte er sich wieder an die Ausarbeitung seiner Rede. —
Auch Mabel war ein wenig nachdenklich, als sie mit ihrer Zeitung auf den Knien im Zuge nach Brighton saß. Diese Nachrichten aus dem Osten hatten sie mehr beunruhigt, als sie es vor ihrem Gatten hatte merken lassen; und doch schien es unglaublich, dass von einer wirklichen Gefahr einer Invasion die Rede sein könne. Hier im Westen war das Leben so vernünftig und ruhig; endlich hatte der Mensch sich hier auf festen Grund hinaufgearbeitet und es war undenkbar, dass er je wieder in die Lehmhütten zurückgedrängt werden könnte; das wäre ja im direkten Gegensatz zu den Gesetzen der Entwicklung. Und doch musste sie zugeben, dass Katastrophen in der Methode der Natur liegen …
Sie saß ganz ruhig, ein paarmal einen flüchtigen Blick auf die dürftigen unzusammenhängenden Nachrichten werfend, um sich dann in den diese behandelnden Leitartikel zu vertiefen, der ebenfalls in Befürchtungen sich erging. Einige Herren im jenseitigen Halbabteil sprachen über denselben Gegenstand; einer beschrieb die von der Regierung betriebenen Maschinenfabriken, die er eben besucht hatte, und die fieberhafte Eile, mit der dort gearbeitet wurde, während seine Mitreisenden ihn mit Zwischenfragen bestürmten. Dort war also auch keine Ermutigung zu holen. Durch die Fenster konnte sie ebenso wenig blicken, dazu war auf den Hauptlinien die Geschwindigkeit eine zu große für das Auge; der lange Innenraum des Wagens, von einem sanften Licht erleuchtet, bildete ihren Gesichtskreis. Ihre Augen wandelten gegen die modellierte weiße Decke, zu den köstlichen, eichenumrahmten Wandgemälden hin, nach den tiefen, elastischen Sitzen hinüber und zu den runden Lampenglocken über ihrem Haupte, denen das Licht entströmte, dann wieder nach einer Mutter mit ihrem Kinde, die ihr schräg gegenübersaß. Da erklang das große Signal, die schwache Vibration verstärkte sich ein wenig, einen Augenblick später sprangen die automatischen Türen zurück und sie trat auf den Bahnsteig der Station Brighton hinaus.
Als sie die zum Bahnhofplatze führende Treppe hinabstieg, bemerkte sie einige Schritte vor sich einen Priester. Er schien ein sehr rüstiger und von den Jahren nicht gebeugter, alter Mann zu sein, denn trotz seines weißen Haares war sein Schritt fest und gleichmäßig. Sie blieb am Fuße der Treppe einen Augenblick stehen, und, halb zur Seite gewandt, sah sie zu ihrer Überraschung, dass sein Gesicht das eines jungen Mannes war, mit feinen, doch energischen Zügen, dunklen Augenbrauen und sehr lebhaften, grauen Augen. Dann schritt sie wieder voran und schlug, den Platz überschreitend,