Glauben an mein Studium in Wittenberg halten. Jedenfalls hatte ich genug studiert, um mir die Sache zurechtlegen zu können. Es gibt nämlich in gewissen Krisen des Lebens eine Feigheit, die nur ein anderer Name oder besser die Folge einer kurz zuvor bewiesenen Herzhaftigkeit ist. Wofür tapfere Männer alles gewagt und gelitten haben, wagen sie dann zuletzt nicht einen Gang über die Straße, nicht ein Anklopfen an eine Tür, sondern sie schicken einen anderen oder möchten ihn doch am liebsten schicken, und deshalb – hatte ich für Ewald Sixtus mit Schloss Werden sprechen sollen, und darum – erschien es wünschenswert, dass zuerst ich mit Irene Everstein rede. Von meiner Gelehrtheit sprachen sie; aber, ihnen selber unbewusst, meinten sie: das, was uns bewegt, kümmert ihn am wenigsten, also was kümmert’s ihn? Wenn einer uns sagen kann, was wir hören wollen oder hören müssen, so ist er’s. Er ist objektiv in dieser Sache; Steine und Menschen werden also ihm gegenüber unbefangen sich gehen lassen, und – ihm werden sie nichts tun. Wir aber, die wir Tag für Tag mit ihnen zu tun gehabt haben, wir fürchten uns!
Ich hatte mich aus der Mitte der Gevattern- und Vettern-Besuche in der Försterei von dem Freunde wegholen lassen, um mit ihm Schloss Werden zu besichtigen; ich ging am anderen Morgen dem Freunde vorauf nach dem Steinhofe, um die letzte Herrin von Schloss Werden, um Irene Everstein darüber sprechen zu hören. Es ist in solchen Fällen stets viel leichter ja als nein zu sagen. Man will eben doch nicht umsonst an seiner Ehre gefasst und für einen erfahrenen Mann gehalten worden sein.
Zwölftes Kapitel
Der Fluss hatte es eilig wie immer; aber er, der mir in meiner Kindheit den einzigen klaren Eindruck von dem Vorbeigleiten der Erscheinung gegeben hatte, dessen schnelle Wasser mich in der Fantasie stets unwiderstehlich mit sich in die Ferne gerissen hatten, er war von allen Dingen in der Heimatgegend allein derselbe geblieben. Unsere Nester in den großen Nussbüschen waren verschwunden, die Wiese, über die sonst der Weg nach dem Walde führte, zerstückelt und zum Teil zu Ackerfeldern gemacht. Auch die Wälder selbst waren nicht mehr die nämlichen wie sonst. Den Hochwald hatte man teilweise gelichtet, teilweise ganz niedergeschlagen; das Unterholz war aufgeschossen, und Heidestrecken hatten sich mit dichtem Gebüsch bedeckt. Wo man sonst von einem Berggipfel die freieste Aussicht in die Ferne gehabt hatte, suchte man nun nach einem Blick auf den Sommerhimmel zwischen dem dicht verschlungenen Gezweig. Nicht alle Pfade liefen noch wie in unserer Jugendzeit durch den Forst, aber der Fluss – der Fluss ging noch seinen alten Weg; ich aber ging diesmal über die Brücke bei Bodenwerder und verließ mich nicht mehr auf den Kahn, welchen vordem der Vater Klaus stets so mürrisch-wohlgefällig zu unserem Dienst aus dem Uferschilf und Röhricht hervorzog. Auch das war sehr fraglich, ob ich den guten Alten, seine Fischerhütte, sein lustig romantisch Herdfeuerchen und sein morsches Fahrzeug noch am Rande der Weser finden würde. Über sechzig Jahre war er schon zu unserer Zeit alt gewesen, aber unterwegs tat es mir doch leid, dass ich mich nicht nach ihm erkundigt hatte, und fast wäre ich noch umgekehrt.
Wie andere gelassene Leute gelangte ich über die Brücke bei Bodenwerder von einem Ufer auf das andere und auf den Weg nach dem Steinhofe.
Der zog sich noch durch die Felder wie sonst. Mir war es, als müsse ich jeden Dornbusch an seinem Rande wiedererkennen und dürfe ruhig auf seine Identität schwören; doch dies war wohl ein Irrtum. Ich habe es beschrieben, wie wir als Kinder auf diesem Pfade an heißen Sommertagen müde wurden und uns nach dem Baumschatten, dem kühlen Grase im Grasgarten und nach der guten Verpflegung des Hofes sehnten; ich habe es geschildert, wie wir den Vetter auf einem Steine am Wege auf Menschenschicksale wartend fanden, und – auf den Stein durfte ich dreist schwören: es saß wiederum jemand darauf, in seine Träume verloren, auf Menschenschicksale wartend und die Schritte, die sich auf dem heißen, sonnigen, steinigen Wege näherten, überhörend.
Auf dem Feldquarz, unter den Disteln und Nesseln, zwischen die einst der Vetter Just Everstein verlegen greinend seine lateinische Grammatik versteckt hatte, als wir ihn nach unserer Art jubelnd anschrien, saß unter dem wolkenlosen blauen Sommerhimmel, ihr schönes müdes Haupt mit der Hand stützend, der Gast des Vetters Just, Irene von Everstein.
Ich sah sie niedergleiten am frühen, frischen Morgen aus unseren schwankenden Märchennestern im Grün, hinauf auf die tauige, blitzende Wiese; ich sah sie elfenhaft uns vorangleiten durch das Walddunkel; ich hörte sie lachen auf dem Fluss und sah sie ihre Hand in die rinnenden Wellen tauchen: erzählte uns nicht einmal vor langen Jahren der Vater Klaus auf der Überfahrt von einer, die wohl weit von oben her zugereist sein musste, weil sie, nachdem er sie aus dem Schilfe ans Land geholt hatte, niemand kannte im Lande?
»Lassen Sie das Schaukeln lieber auf dem Wasser, junge Herrschaft! Die alten Bretter unter uns sind doch wohl allgemach ’n bisschen brüchig geworden, und das dreht sich gerade hier in Wirbeln, und der Untiefe ist nicht gut zu trauen. Ich möchte um alles nicht, dass die Herrschaft zu Hause es mir zuschieben könnte, wenn ich die jungen Herrschaften nicht heil ans Land brächte.«
Ich sprach sie leise an:
»Guten Tag, liebe Irene.«
Sie fuhr zusammen und empor; doch als sie mich erkannt hatte, stand sie nicht auf, sondern blieb sitzen auf dem Stein am Wege und reichte mir mit einem traurigen Lächeln die Hand in die Höhe.
»Du bist es, Fritz? Wie kann man die Leute so erschrecken!… Aber es ist wohl nicht deine Schuld, sondern meine und meine Torheit. Wie kann man sich so ins freie Feld setzen und sich die blendende Sommersonne auf den Scheitel und in die Augen scheinen lassen, ohne für seine besten Freunde blind und taub zu werden? Das ist aber gut von dir, dass du gekommen bist, der Vetter wird sich sehr freuen; – er kam gleich in der Nacht mit glänzenden Augen, um es zu verkünden, dass – du wieder im Lande seist.«
Sie sprach die letzten Worte nur zögernd; ich hielt ihre Hand noch fest und sagte:
»Ich bin aber nicht allein in die alte Heimat zurückgekommen, Irene.«
Da zog sie mir die Hand weg, erhob sich nun und erwiderte erst nach einer geraumen Weile:
»Ich weiß durch den Vetter Just Bescheid über alles.«
»Über alles?… Über alles doch wohl nicht!«
»Doch!« sagte sie, und das Wort kam kurz und hart heraus. »Wir stehen hier jetzt in der hellen, heißen Sonne des Mittags, und es ist mir lieb so und ganz recht. Wir wollen nicht den Schatten und das freundliche Dach des Freundes suchen, um uns behaglicher und langatmiger über Schicksal und Schuld auszulassen –«
»Irene?!«
»Ich höre gern einmal