Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke


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einen rech­ten Win­kel, und auf drei Sei­ten war es von ei­nem nicht all­zu großen, aber wohl­ge­pfleg­ten Gar­ten mit Ge­mü­se­fel­dern, Blu­men­bee­ten, Grasp­lät­zen, Obst­bäu­men und drei Lau­ben um­ge­ben. Le­ben­di­ge He­cken und stel­len­wei­se ein höl­zer­nes Git­ter zo­gen die Gren­zen ge­gen die üb­ri­ge Welt.

      Das Licht aus dem Fens­ter des Wohn­zim­mers im un­tern Stock­werk der Vor­der­sei­te und das Herd­feu­er aus den Kü­chen­fens­tern der rech­ten Ne­bensei­te war­fen im Som­mer wie im Win­ter einen gleich­be­hag­li­chen Schein in die Abend­däm­merung oder die schwar­ze Nacht. Der Dampf des Schorn­steins war so ap­pe­tit­lich wie ir­gend­ein Op­fer­rauch, der je zu der un­s­terb­li­chen Nase Je­ho­vas, Ju­pi­ters oder des Got­tes der spa­ni­schen In­qui­si­ti­on em­por­stieg, von wel­chen letz­tern kirch­lich-ku­li­na­ri­schen Dar­bie­tun­gen sich, bei­läu­fig ge­sagt, die schö­ne Re­dens­art her­schreibt, dass je­mand den Bra­ten rie­che. Tau­sen­de und aber Tau­sen­de von mü­den Wan­de­rern, die auf der Land­stra­ße an dem Hau­se des Steue­rin­spek­tors vor­über­ge­zo­gen wa­ren, hat­ten den Mann be­nei­det, wäh­rend der Win­ter­abend düs­te­rer her­ab­sank und die Schnee­wol­ken tiefer sich zur Erde senk­ten; wir aber be­nei­den ihn an die­sem Früh­lings­mor­gen, wel­cher auf die Heim­kehr sei­nes Soh­nes Leon­hard folg­te.

      Hund und Kat­ze sonn­ten sich auf der Stein­bank vor dem Hau­se des Steue­rin­spek­tors, und der Steue­rin­spek­tor selbst rauch­te nach­denk­lich sei­ne Mor­gen­pfei­fe auf dem mit fei­nem Sand be­streu­ten Plat­ze zwi­schen sei­ner Tür und sei­nen Ro­sen­stö­cken. Die Steue­rin­spek­to­rin hielt die Hand über die Au­gen, um nicht von der Son­ne ge­blen­det zu wer­den, und sah nach den Fens­tern des obe­ren Stock­werks hin­auf. Fräu­lein Lina Ha­ge­bu­cher aber saß im In­nern des Hau­ses auf der Trep­pe, hielt die Hän­de im Scho­ße ge­fal­tet, still wie ein Mäu­schen, und be­weg­te in ih­rem Herz­chen alle Wun­der, die sich seit ges­tern Abend an ihr und dem Hau­se ih­rer El­tern er­füllt hat­ten. Es ist kei­ne Klei­nig­keit, wenn ein Bru­der, den man im Diens­te des Vi­ze­kö­nigs von Ägyp­ten ge­gen die Nu­bi­er ge­fal­len glaubt, von dem man aus frü­he­s­ten Kind­heits­jah­ren her nur noch eine sehr dunkle Erin­ne­rung hat und der all­mäh­lich in der Fan­ta­sie zu ei­nem sehr ro­man­ti­schen, mär­chen­haf­ten We­sen ge­wor­den ist, plötz­lich auf der Land­stra­ße von Nip­pen­burg her­an­wan­delt und, schlim­mer von Aus­se­hen als ein Zi­geu­ner, über die He­cke in die Geiß­blatt­lau­be guckt, nach dem Papa und der Mama fragt und dann ent­setz­lich ner­vös wird, un­ter lau­tem Schluch­zen sein In­ko­gni­to fal­len­lässt und Lina beim Hal­se nimmt und sie ab­küsst, wie es ihr noch nie pas­sier­te.

      So war es ge­sche­hen, und Ni­ko­la von Ein­stein, das Ehren­fräu­lein aus der Re­si­denz, wel­ches sich auf dem Guts­ho­fe zum Be­su­che oder, wie es sag­te, »auf Ur­laub« be­fand, und So­phie und Min­chen, die bei­den Bums­dor­fer Rit­ter­fräu­lein, konn­ten es be­zeu­gen, denn sie wa­ren alle drei bei dem Vor­gan­ge zu­ge­gen und schri­en sämt­lich mit um Hil­fe. Der Papa und die Mama wa­ren im höchs­ten Schre­cken aus dem Hau­se her­vor­ge­stürzt, und Fräu­lein Ni­ko­la schrieb an dem­sel­ben Abend noch die gan­ze Ge­schich­te aus­führ­lich, ihre ei­ge­nen Ge­füh­le und die al­ler an­de­ren recht an­schau­lich schil­dernd, nach der Re­si­denz; – sie lang­weil­te sich ein klein we­nig bei ih­rer Milch- und Mol­ken­kur zu Bums­dorf und hat­te jetzt zum ers­ten Mal da­selbst et­was er­lebt, was des Be­rich­tens wert war.

      Du klei­nes, flat­tern­des Herz auf der Trep­pe, nicht wahr, das war eine schlaflo­se Nacht? Hin­ter der dün­nen Wand schluchz­te die Mut­ter, und der Va­ter lief auf und ab bis zum ers­ten Hah­nen­schrei, und du, du wein­test und lach­test durch­ein­an­der und schweb­test in dem Mi­ra­kel von Mon­den­auf­gang bis Mon­den­un­ter­gang, um dann einen kur­z­en, un­ru­hi­gen, ängst­li­chen Traum da­von zu träu­men. Nun war es Mor­gen, die Son­ne war auf­ge­gan­gen, man brauch­te sich nicht mehr an der Nase zu zup­fen, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass man wach sei und sei­ne fünf Sin­ne sämt­lich bei­ein­an­der­ha­be: die Ge­schich­te, wel­che Ni­ko­la nach der Re­si­denz schrieb, war zwei­fel­los wahr; die wil­den Moh­ren hat­ten den Bru­der Leon­hard nicht er­schla­gen – er war heim­ge­kehrt und schlief in der blau­en Stu­be. Die Welt und die Zeit hat­ten mit ei­nem Schla­ge sich ge­än­dert; nicht das Kleins­te er­schi­en mehr so, wie es ges­tern ge­we­sen war; je­der Ton, je­der Schim­mer und Schein hat­ten eine an­de­re Be­deu­tung, und doch, wenn Baum und Busch, der Gar­ten und das Feld über Nacht den grü­nen Rock aus- und einen blau­en an­ge­zo­gen hät­ten, so wäre das durch­aus von kei­ner Be­deu­tung und ganz und gar nicht merk­wür­dig ge­we­sen.

      »Es ist in der Tat eine merk­wür­di­ge Ge­schich­te«, sprach aber der Va­ter Ha­ge­bu­cher, zum drei­zehn­ten­mal sei­ne Pfei­fe in Brand set­zend. »Man gibt sich alle Mühe, das Fak­tum mit Über­le­gung und Fas­sung zu be­han­deln; al­lein es will nicht ge­lin­gen. Mut­ter, nimm dich zu­sam­men und hal­te den Kopf oben; sei ver­nünf­tig und wirf ei­nem das Re­chenexem­pel nicht noch mehr durch­ein­an­der – heu­le nicht, Alte, dazu ist doch wahr­haf­tig kein Grund – der Jun­ge ist wie­der da, das ist je­den­falls ein Trost, den wir fürs ers­te si­cher ins Ha­ben schrei­ben kön­nen, das Wei­te­re muss sich ja­wohl all­mäh­lich fin­den.«

      »Mein Kind, mein Kind, mein ar­mes Kind!« schluchz­te die Mut­ter. »Wie habe ich mich um ihn ge­härmt, und wie sieht er aus! Mein Kind ein Skla­ve – zwi­schen ei­nem Och­sen und ei­nem Ka­mel an einen Pflug ge­spannt! Und zehn Jah­re lang nichts zu es­sen als sau­re Ele­fan­ten­milch und spa­ni­schen Pfef­fer. O mein ver­lo­re­nes Kind, mein Leon­hard! Mein Kind ein schwar­zer Sklav, ich fas­se es nicht, ich fas­se es nicht! Und dass wir ihn wie­der­ha­ben, dass er oben in sei­nem Bett liegt, dass wir hier mit dem Kaf­fee auf ihn war­ten, das kann ich, Gott mag es mir ver­zei­hen, noch we­ni­ger fas­sen.«

      »Kon­fus müss­te es den Bes­ten ma­chen; na, nur Ruhe, Ruhe; was hilft das Ge­zap­pel, es kommt al­les zu ei­nem Fa­zit«, brumm­te der Steue­rin­spek­tor. »Ad­die­ren und sub­tra­hie­ren kön­nen ist zu­letzt doch die Haupt­sa­che, und die Kunst hat noch kei­nen Men­schen im Stich ge­las­sen, man muss sie nur rich­tig an­zu­wen­den wis­sen. Gu­ten Mor­gen, Herr von Bums­dorf – ja­wohl, es ist so – wir ha­ben ihn wie­der – er ist heim­ge­kom­men.«

      »Gra­tu­lie­re, gra­tu­lie­re von Her­zen!« rief der Rit­ter, sich hal­b­en Lei­bes über den Zaun leh­nend. »Aber sa­gen Sie, In­spek­tor, trägt er denn wirk­lich einen Ring in der Nase?«

      »Gott­lob, das doch nicht!« rief die Mut­ter ent­rüs­tet. »Schlimm ge­nug ist’s mit dem ar­men Kin­de, aber einen sol­chen Jam­mer hat uns doch der Herr gnä­dig er­spart.«

      »Das Frau­en­zim­mer aus der Re­si­denz lügt wie ge­druckt und verdirbt mir mei­ne Mäd­chen dazu in Grund und Bo­den«, sprach der Herr vom Hofe. »Ich bit­te ganz ge­hor­samst um Ver­zei­hung, Frau In­spek­to­rin – also ist die Ge­schich­te von der grü­nen und gel­ben Tä­to­wie­rung na­tür­lich –«

      »Auch er­lo­gen!« schloss die Mama. »Schi­cken Sie mir nur Fräu­lein Ni­ko­la, Herr von Bums­dorf; ich wer­de ihr mei­ne Mei­nung sa­gen. Das arme Kind, als ob es nicht schon ge­nug un­ter den Moh­ren und Hei­den er­dul­det hät­te.«

      »Die gan­ze Ge­gend auf sechs Mei­len in der Run­de schlägt einen Pur­zel­baum über die­se Ge­schich­te!« rief jetzt der Rit­ter von Bums­dorf im hel­len En­thu­si­as­mus. »So et­was ist