europäischen Gefühle wieder, und wir müssen ihm die volle Berechtigung zugestehen, auf manchem Wege und auch auf diesem durch das Dorf Bumsdorf den Kopf hängen zu lassen.
Er hatte viel geduldet bis zu seiner Befreiung durch den Herrn Kornelius van der Mook; dann war er in dem Hause seiner Eltern erwacht und hatte jene seltene Minute des vollen, sicheren Glückes gekostet. Aber schnell wie immer war dieser Augenblick vorübergegangen – ein Morgenschlummer, ein sonniger Tag in der Geißblattlaube, am Abend ein Gang durch die Wiesen und Kornfelder nach dem Walde! Schon das nächste Erwachen brachte wieder das erste leise Anspülen bitterer Fluten, und nach acht Tagen war Leonhard Hagebucher vollständig daheim, das heißt, er wusste Bescheid, und Bescheid zu wissen gehört und stimmt gewöhnlich nicht im geringsten zu und mit dem Glück. Wohl saß er noch in der Geißblattlaube an der Landstraße und freute sich der Sonne des Vaterlandes, der Stimmen und Schritte der alten Eltern, des lieblichen Lachens der kleinen hübschen Schwester, wohl suchte und fand er in Stadt und Dorf hundert und aber hundert freundliche Jugenderinnerungen; man kam ihm immer noch an den meisten Orten mit Gruß und Handschlag herzlich entgegen, und es gab immer noch viele Leute, welche seiner Odyssee mit Herzklopfen lauschten und dankbar für alles waren, was er in dieser Hinsicht zu bieten hatte; aber – aber dem Unbehagen wuchsen doch täglich mehr züngelnde, saugende Polypenarme, mit welchen es die Seele des müden Wanderers fester und immer fester umschlang. Nun wusste die Welt bereits, dass der Sohn des Steuerinspektors Hagebucher als ein armer Mann aus der Fremde heimgekehrt sei, und die wundervollen Illusionen, welche sich Nippenburg gemacht hatte, waren schnell in ihr Gegenteil umgeschlagen, und man teilte einander unter bedächtigem Kopfschütteln mit, dass ein Vagabond in alle Ewigkeit ein Vagabond bleiben werde und dass es vielleicht um vieles besser gewesen wäre, wenn die Mohren dahinten am Äquator den unnützen Menschen bei sich behalten hätten. In der Kiste, welche dem armen Leonhard auf einem Schubkarren gen Bumsdorf nachgefahren worden war, befanden sich keine Säcke voll Diamanten und Perlen, keine Schachteln voll Goldstaub, sondern höchstens einige afrikanische Merkwürdigkeiten zum Andenken für die näheren Freunde und Verwandten. Herr Leonhard Hagebucher konnte aus dem Inhalt dieses Reisekastens keine Villa bauen und nicht nunmehr im Schatten seines Parkes, an seinem eigenen Herde und in der Gesellschaft eines liebenden Weibes aus den bessern Ständen seine Tage verbringen. Keine Nippenburger Mutter hätte einem solchen in der Luft stehenden Individuum ihre Tochter zur Ehe gegeben, und das war noch das allerwenigste: Leonhard Hagebucher hatte während seiner Gefangenschaft im Tumurkielande so ziemlich alles vergessen, was dem Menschen in unsern zivilisierten Zuständen zu seinem Fortkommen verhilft, ja ihn nur notdürftig auf der Stelle aufrecht erhält. Jede Wissenschaft, jede Kunst, jede Technik war über ihn hinausgeschritten; wo sonst die hohen Wasser sich umgetrieben hatten, da war jetzt öder Sand oder fruchtbares Ackerland, und wo vordem Sand und Wiesen gewesen waren, da jagten sich jetzt die Wellen. In Abu Telfan im Tumurkielande hatte den armen Gefangenen nichts gestört als die physische rohe Gewalt und die Sehnsucht nach der Freiheit, das Heimweh nach dem Vaterlande; jetzt in der Heimat fing alles an, ihn zu stören und zu beunruhigen; er war fremd geworden in der Zivilisation, in Europa, in Deutschland, in Nippenburg und Bumsdorf; eine unendliche und in jeder Weise begründete Angst vor den Dingen und vor sich selber musste sich seiner bemächtigen – ein Schritt weiter, und er konnte sich nach dem Tumurkielande leise zurücksehnen: die Würde und Freiheit, die Bildung und Sitte des europäischen Menschen imponierten ihm viel zu mächtig. Lassen wir ihn übrigens jetzt vorerst seinen Weg zum Dorfe fortsetzen, und sehen wir derweilen, wer von der Freundschaft und Verwandtschaft zum großen Rat und Kaffee im Hause seiner Eltern ankam oder schon angekommen war.
Angekommen war in ihrer gelben Kutsche die Tante Schnödler, zu welcher eigentlich auch ein Onkel Schnödler gehörte, der jedoch, da die Tante das Geld hatte und er – der Onkel – dieses weder durch Talente, Energie noch die geringste männliche Grobheit ausglich, nicht mitgerechnet wurde. Sie, die Tante Schnödler, die Cousine der Mutter Leonhards, saß bereits, jede Situation beherrschend, in dem Paradezimmer des Hauses Hagebucher auf dem Kanapee und fand es, wie Ludwig der Vierzehnte, sehr provozierend, dass man sie sowohl auf den Kaffee als auch auf den Neffen aus dem »Kaffernlande« warten ließ.
In Sicht auf der Landstraße war der Onkel, Kaufmann und Stadtverordnete von Nippenburg, der Herr Stadtrat Hagebucher, ein Mann von körperlichem und geistigem Gewicht, der drei Töchter in seinem Ehestande erzeugt hatte und im Gänsemarsch mit denselben gen Bumsdorf zog: heiterer als im vorigen Jahre, wo noch seine Selige stets den Zug anführte und er ihn nur beschloss. Es kamen zwei jüngere Vettern, welche jedoch auch bereits Haare auf ihrer Beamtenlaufbahn gelassen hatten und welche, obgleich der Staat ihnen ihren Gehalt quartaliter mit einem gewissen Hohn, mit zweifelloser Ironie auszahlte, sich den idealsten wie den materiellsten Mächten, den Schwärmern für die Republik Deutschland wie der reichsten Bankiers- oder Fabrikantentochter gewachsen glaubten. Eine solche wohlhabende Fabrikantentochter und Cousine, Fräulein Leonore Sackermann, langte aus entgegengesetzter Weltgegend unter den Fittichen ihrer einen sehr guten Kartoffelspiritus produzierenden Eltern vor dem Hause des Steuerinspektors an. Hoch zu Ross kam der Wegebauinspektor Wassertreter, ein dreiundsechzig Jahre alter, verächtlicher Junggesell, welcher sich von Amts und Wetters wegen dem Trunke ergeben hatte und es besser hätte haben können, wie die Base, Fräulein Klementine Mauser, die ebenfalls allein, aber zu Fuße anlangte, zur unbehaglichen Zeit der Äquinoktialstürme ihrem jungfräulichen Kopfkissen ärgerlich anvertraute.
Wer kam noch? Schließen wir die Liste, nachdem wir sie kaum begonnen haben! Es versammelte sich so ziemlich der ganze Vetter Michel, und Herr Leonhard Hagebucher trat in den geweihten Kreis und bot ihm, wenn nicht den bekannten deutschen »guten Abend«, so doch das arabische Selam aleikum, das Heil sei mit euch, worauf die Tante Schnödler erwiderte:
»Wir danken dir, Herr Neffe, und freuen uns, dich anständig und christlich in Rock, Hose und Weste wieder unter uns zu haben. Du bist einst zwar ohne Abschied weggegangen, aber hier sind wir, wie es sich geziemen will, und heißen dich in verwandtschaftlicher Kompanie willkommen in Nippenburg und sind uns vermuten, dass du nun wohl endlich genug von der Vagabondage und Unreellität und sonstigen Fantasterei haben wirst. Sag ’n Wort, Schnödler.«
»So ist es,