Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke


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und ver­fah­re­nen Zu­stan­de ge­gen­über die Ehre und das An­se­hen der Ge­vat­tern­schaft ver­tre­ten zu ha­ben. Die gel­be Kut­sche ver­schwand in dem Stau­be der Land­stra­ße; die Pap­pel­bäu­me zeig­ten wie­der ein­mal, dass sie im­stan­de sei­en, einen sehr lan­gen Schat­ten zu wer­fen, und der Vet­ter Was­ser­tre­ter zeig­te, dass er das­sel­be tun kön­ne. Er hielt aus und saß dem grim­mig schweig­sa­men Steue­rin­spek­tor stumm, aber be­hag­lich ge­gen­über und schob erst, als es voll­stän­dig Däm­me­rung ge­wor­den, die kur­ze Pfei­fe in die Brust­ta­sche.

      »Tue mir die Lie­be an und lass dem Jun­gen sei­ne Zeit«, sag­te er auf­ste­hend. »Wenn aber nicht, so zei­ge, dass du ein gu­tes Herz hast, mach dem Jam­mer ein Ende und wirf den Lump schnell aus dem Hau­se. Frau Base, ich sage mei­nen schöns­ten Dank für die an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung; gib mir einen Kuss, Lina, und sage dem Leon­hard – na, lass nur, ich will ihm schon sel­ber mei­ne Mei­nun­gen sa­gen. Horch, Phi­lo­me­le schlägt im Ge­büsch, und dort steigt der sil­ber­ne Mond über den fried­li­chen Hüt­ten des Dor­fes auf. Jetzt holt der Mensch sein treu­es Ross aus dem Stall der Schen­ke, und ein­sam trabt der Ein­sa­me zu sei­nem ein­sa­men Ge­zelt. Auch mei­ner­seits gu­ten Abend!«

      »Gu­ten Abend!« sag­te der Va­ter Ha­ge­bu­cher sehr kurz und rühr­te sich auch die­ses Mal nicht vom Platz. Die Mut­ter Leon­hards aber be­glei­te­te den We­ge­bau­in­spek­tor bis zu der Tür des Gar­tens:

      »O Vet­ter, Vet­ter, was soll dar­aus wer­den?«

      »Ja, Base Ha­ge­bu­cher, die­se Fra­ge habe ich sehr häu­fig an das Schick­sal ge­stellt und sel­ten die Ant­wort be­kom­men, wel­che ich zu hö­ren wünsch­te. Im letz­ten Grun­de lebt man nur des­halb, und das ist we­nigs­tens ein Trost. Wer will so un­ge­dul­dig sein? Auch beim We­ge­bau kann man ler­nen, dass die Vor­se­hung ihre Zeit ha­ben will. Wün­sche eine ge­ruh­sa­me Nacht, Base; hö­ren Sie, jetzt geht der Alte drin­nen los – jaja, ich weiß schon seit dem Jah­re sie­ben­zehn, dass wir in ei­ner ku­rio­sen Welt le­ben. Wün­sche recht wohl zu ru­hen, Base Ha­ge­bu­cher.«

      Wo war der Mann aus Tro­glo­dy­ti­ce ge­blie­ben? In dem Au­gen­bli­cke, in wel­chem die Tan­te Schnöd­ler und mit ihr sämt­li­che Ver­wandt­schaft rau­schend und ent­rüs­tet em­por­fuhr, hat­te er sich ge­duckt, war hin­ter dem Rücken sei­ner Lie­ben an der Wand da­hin­ge­schli­chen, hat­te mit ei­nem Sprung die Haus­tür er­reicht und mit ei­nem zwei­ten Sprun­ge über die Gar­ten­he­cke hin­ter dem vä­ter­li­chen Hau­se das freie Feld. Seit ihn die Bag­ga­ra­ne­ger jag­ten und fin­gen, hat­te er nicht eine sol­che Ge­len­kig­keit der Glie­der ent­wi­ckelt, war er sich nicht ei­ner sol­chen Schwung- und Schnell­kraft be­wusst ge­wor­den; aber wie die Bag­ga­ra­ne­ger blie­ben ihm auch die sü­ßen Hei­mats­ge­füh­le auf den Fer­sen, und er konn­te ih­nen nicht ent­wi­schen. Da lag er im Gra­se un­ter der He­cke, at­me­te aus und zi­tier­te ei­ni­ge auf die Tan­te Schnöd­ler be­züg­li­che Stel­len des Korans; dann fie­len die Schat­ten des Abends auch über ihn, der Mond ging eben­falls über ihm auf, und er – Leon­hard Ha­ge­bu­cher – sprach ein an­de­res Wort aus, wel­ches der Pro­phet frei­lich nicht ge­sagt hat­te und wel­ches nicht nach­ge­schrie­ben wer­den kann, ohne den An­stand be­denk­lich zu ver­let­zen.

      Nur ganz all­mäh­lich ge­wann die Gril­le in dem Schle­hen­busch ne­ben ihm den schril­len Hei­mat­s­tö­nen in sei­ner See­le die Do­mi­nan­te ab; mit lei­sem Ge­gur­gel schi­en sich das seich­te Was­ser des Feld­gra­bens in die Tie­fe der Erde zu ver­lau­fen, und ähn­lich gur­gelnd ver­lie­fen sich die ho­hen Was­ser, die vor ei­ner Stun­de noch in der vä­ter­li­chen Wohn­stu­be so arge Wel­len ge­schla­gen hat­ten. Am Ran­de des Gra­bens saß der Afri­ka­ner, zog die Knie ge­gen das Kinn in die Höhe, um­schlang die Schien­bei­ne mit den Hän­den und ge­lang­te in die­ser dem Nach­den­ken so güns­ti­gen Po­si­tur zu der Über­zeu­gung, dass der heu­ti­ge Tag ihm kein ver­lo­re­ner ge­we­sen sei.

      Merk­wür­dig, merk­wür­dig! Was war der bes­te Wil­le, die Zei­ten der Ver­gan­gen­heit zu al­ter, ver­gnüg­li­cher, bun­ter Le­ben­dig­keit wie­der­auf­zu­fri­schen, ge­gen die An­kunft der gel­ben Kut­sche von Nip­pen­burg? Was war al­les Zu­rück­seh­nen, Zu­rück­träu­men, Zu­rück­den­ken ge­gen den On­kel Stadt­rat und den On­kel Sacker­mann, wel­che bei­de in Fleisch und Blut das, was ge­we­sen war und noch war, auf das ge­die­gens­te zur Er­schei­nung brach­ten?! Das in­nigs­te und eif­rigs­te Be­stre­ben, mit dem Ge­fühl, dem Ver­stan­de, der Ver­nunft, der Fan­ta­sie, mit dem sü­ßes­ten Ah­nungs­ver­mö­gen den Din­gen der Hei­mat wie­der bei­zu­kom­men, hat­te sich als ein nich­ti­ges, sehr ver­geb­li­ches Ab­quä­len er­wie­sen: vor die­sem Fa­mi­li­en­kon­kla­ve aber wa­ren die sie­ben Sie­gel wie von sel­ber auf­ge­sprun­gen. In klars­ter Be­leuch­tung la­gen die stil­len Ge­fil­de der Kind­heits- und Jüng­lings­jah­re vor Herrn Leon­hard Ha­ge­bu­cher da; es war nicht mehr nö­tig, ih­ren Mys­te­ri­en nach­zu­grü­beln und sich den Kopf dar­über zu zer­bre­chen.

      Wie der deut­sche Mond hö­her stieg, fing das Was­ser, wel­ches mit dem schon be­schrie­be­nen Ge­gur­gel den Gra­ben durch­sch­lich, an, hie und da lieb­lich zu schim­mern, und der lei­der schon vom ehr­li­chen Wands­be­cker Bo­ten ly­risch ver­wen­de­te wei­ße Ne­bel mach­te sich eben­falls auf den Wie­sen be­merk­bar. Der Mond schi­en dem Mann aus dem Tu­mur­kie­lan­de auf den Kopf, der Ne­bel stieg ihm in die Nase, und er – Ha­ge­bu­cher – ließ die Schien­bei­ne fah­ren, schnell­te em­por, stand hoch auf­ge­rich­tet in der hol­den Nacht, rieb die Hän­de und hub an – lei­se vor sich hin­zu­la­chen. Er lach­te, der Bar­bar, er wag­te so­gar, laut zu la­chen, der ver­wil­der­te Un­mensch; und dann schüt­tel­te er sich, er wag­te es, sich zu schüt­teln; und ohne auf die Ge­füh­le der Tan­te Schnöd­ler Rück­sicht zu neh­men, gra­tu­lier­te er sich sel­ber zu der so­eben zum Durch­bruch ge­kom­me­nen wohl­tä­ti­gen Kri­sis, und lei­der hat­te er al­len zar­te­ren Re­gun­gen des Men­schen­her­zens zum Trotz recht. In die­sem La­chen hat­te er für sei­ne künf­ti­ge Exis­tenz tau­send­mal mehr ge­won­nen, als ihm gan­ze Sä­cke voll Seuf­zer und ein Dut­zend von ihm sel­ber wohl­ge­füll­te Trä­nenkrü­ge ein­brin­gen konn­ten. Er hat­te jetzt we­nigs­tens in ei­ner Be­zie­hung die Über­zeu­gung er­run­gen, dass er wäh­rend sei­nes Sie­ben­schlä­fer­schla­fes im Mond­ge­bir­ge nicht viel da­heim ver­säumt habe und dass so­mit al­les ge­bro­che­ne, mut­lo­se Fort­däm­mern und me­lan­cho­li­sche Hin­brü­ten über sol­chen ima­gi­nären Ver­lust recht über­flüs­sig und tö­richt sei. Was sei­ne jet­zi­ge Um­ge­bung wäh­rend sei­ner Ab­we­sen­heit ge­won­nen hat­te, das konn­te er in je­dem Au­gen­bli­cke auch noch ha­ben, und wenn er mehr woll­te, so ge­hör­te viel­leicht nur eine tür­ki­sche Ruhe dazu, um jen­seits je­des un­nüt­zen Schwe­be­zu­stan­des in ei­ner nütz­li­chen Tä­tig­keit wie­der si­cher Fuß zu fas­sen. Er prüf­te sei­ne Ge­len­ke und Mus­keln und tat den Sprung, das heißt, fürs ers­te sprang er über den Gra­ben, wel­cher die ne­be­li­ge Wie­se von dem vä­ter­li­chen Güt­chen schied, und schritt be­däch­tig mit über­ein­an­der­ge­schla­ge­nen Ar­men erst durch das feuch­te Gras und so­dann auf dem en­gen Fuß­we­ge an den Gär­ten des Dor­fes hin.

      Es war auch die letz­te Fest- und Ju­bel­nacht der Mai­kä­fer, de­ren es in die­sem ge­seg­ne­ten Jah­re eine er­kleck­li­che An­zahl ge­ge­ben hat­te. Sie schie­nen