Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke


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Die Mut­ter steht na­tür­lich für die Rich­tig­keit sei­nes Ver­hal­tens ein; sie ließ sich eben­so na­tür­lich in dem Au­gen­blick der Glücks­wen­de von ihm fort­rei­ßen und wäre ihm bis ans Ende der Welt auf sei­ner Flucht in das asch­graue Un­ge­wis­se ge­folgt, wenn nicht glück­li­cher­wei­se der große Schnee sämt­li­che Ei­sen­bahn­li­ni­en ver­weht und so­gar die Post­stra­ße des Vet­ters Was­ser­tre­ter am Ein­gan­ge des Ei­chen­tals vor Flie­gen­hau­sen ge­sperrt hät­te. So sitzt sie nun län­ger als zehn Jah­re in der Kat­zen­müh­le und harrt auf die Rück­kehr ih­res Soh­nes, und wie ich glau­be, war­ten an­de­re Leu­te mit ihr dar­auf. Dass der jun­ge Herr noch am Le­ben ist, steht der Mut­ter un­zwei­fel­haft fest, aber de­sto zwei­fel­haf­ter ist mir, was er aus sich ge­macht hat. Der Un­ter­hal­tungs­stoff ist uns wäh­rend die­ser zehn Jah­re nicht aus­ge­gan­gen; wir wis­sen im Som­mer wie im Win­ter, wor­über wir zu schwat­zen ha­ben, und im Not­fall kön­nen wir träu­men nach Be­lie­ben. Du wirst eine schö­ne, alte Frau, eine wei­se Frau, eine Hel­din ken­nen­ler­nen, Leon­hard Ha­ge­bu­cher. Wenn du im Tu­mur­kie­lan­de dein Elend mit sol­chem An­stand tru­gest, wie Ma­dam Klau­di­ne Feh­ley­sen das ih­ri­ge in der Kat­zen­müh­le, so ma­che ich dir mein all­er­ge­hor­sams­tes Kom­pli­ment. Him­melsacker­ment, nun sieh ein­mal an, wie mir die Lüm­mel hier den Win­ter­weg zu­ge­rich­tet ha­ben! Die gan­ze Bö­schung rui­niert! Wie vie­le be­sof­fe­ne Kot­sas­sen und Brink­sit­zer ha­ben mit ih­ren Mist­wa­gen hier im Gra­ben ge­le­gen? Soll­te man da nicht den Glau­ben an die Mensch­heit ver­lie­ren und den an die Karls­ba­der Be­schlüs­se fin­den? Das ist ja rein um des –«

      »Eine Un­glück­li­che und eine Hel­din!« sprach Leon­hard in tie­fem Nach­den­ken vor sich hin, und der Vet­ter, wie­der in den ge­las­se­nen Ton sei­ner Er­zäh­lung über­ge­hend, sag­te:

      »Du wirst sie se­hen, und hof­fent­lich ge­fällst du ihr so wie mir. Du wirst sie ken­nen­ler­nen, und das ist mehr, als sehr vie­len Leu­ten zu­teil wird. Da ist üb­ri­gens Flie­gen­hau­sen; wir wol­len je­den­falls den kür­zes­ten Weg zum Och­sen neh­men. Bei sol­cher Mit­tags­hit­ze zie­he ich die Seh­ne dem Bo­gen im­mer vor, dir aus dem hei­ßen Land Afri­ka kann’s ei­ner­lei sein.«

      Sie er­reich­ten den Och­sen auf ei­nem, wenn auch nicht un­ge­wöhn­lich rein­li­chen, so doch schat­ti­gen Ne­ben­we­ge und wur­den von dem Wirt und der Wir­tin mit länd­li­cher Herz­lich­keit an der Pfor­te in Empfang ge­nom­men. Länd­lich speis­ten sie zu Mit­tag, und nach der Mahl­zeit streck­te sich der Vet­ter auf die Bank von wei­chem Holz und riet dem Beglei­ter, das­sel­be zu tun und sich um die Flie­gen nicht zu küm­mern. Wenn sich die Flie­gen nicht um den Vet­ter be­küm­mert hät­ten, so wäre das je­den­falls recht freund­lich von ih­nen ge­we­sen. Leon­hard Ha­ge­bu­cher leg­te die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme mit dem fes­ten Vor­satz, das Bei­spiel des We­ge­bau­in­spek­tors nicht nach­zuah­men, und ver­wun­der­te sich eine Stun­de spä­ter sehr, als er, er­wa­chend, sich nicht in der Lehm­gru­be der Ma­dam Kul­la Gul­la zu Abu Tel­fan, son­dern in der Gast­stu­be des Och­sen zu Flie­gen­hau­sen fand. Auch der Vet­ter rich­te­te sich ver­stört auf; man trank den Kaf­fee des Lan­des we­ni­ger des In­halts als der Form we­gen. Der Gaul blieb gern im Stall des Och­sen zu­rück. Der Vet­ter und der Afri­ka­ner mach­ten sich auf den Weg zur Ma­dam Klau­di­ne, jetzt wie­der der Land­stra­ße fol­gend. Sie durch­schrit­ten den obe­ren Teil des Dor­fes und ge­lang­ten bald in den küh­len Schat­ten des Ei­chen­ta­les; eine Vier­tel­stun­de von Flie­gen­hau­sen schlu­gen sie sich zur rech­ten Sei­te auf ei­nem aus­ge­fah­re­nen Hohl­weg tiefer in den Wald; der Pfad wur­de in ei­nem Sei­ten­täl­chen im­mer schmä­ler und brach­te sie durch eine kur­ze Wen­dung um eine her­vor­sprin­gen­de Fel­se­n­e­cke zu der Kat­zen­müh­le, dicht hin­ter wel­cher die Welt nicht mit Bret­tern ver­na­gelt, son­dern durch eine un­ge­fähr fünf­zig bis sech­zig Schuh hohe Gra­nit­wand von den Ähren­fel­dern der über die­ser Stein­wand be­gin­nen­den wei­ten Ebe­ne ab­ge­schnit­ten war. Von die­sem Fel­sen her­ab stürz­te sich frü­her der lus­ti­ge Bach auf das Rad, aber, wie ge­sagt, die großen neu­en Fa­bri­ken dro­ben im Lan­de hat­ten längst den Haupt­fluss des Was­sers für sich in An­spruch ge­nom­men und dem de­mü­ti­gen Schwes­ter­chen in der Tie­fe nur gra­de so viel da­von ge­las­sen, als nö­tig war, um rund um das alte Ge­mäu­er, Ge­stein und Ge­bälk und das zer­bro­che­ne Rad­werk eine Ve­ge­ta­ti­on her­vor­zu­brin­gen und zu er­hal­ten, wie kein Ma­ler sie sich an­mu­ti­ger, üp­pi­ger, fri­scher und grü­ner vor­stel­len konn­te. Ein wil­des Gärt­chen zog sich vor dem Hau­se her, und es war kaum zu er­ken­nen, wo die le­ben­di­ge He­cke in das Ge­büsch des Wal­des über­ging. Wil­de und edle Ro­sen hat­ten sich in­ein­an­der­ver­floch­ten, Zaun­win­den und Je­län­ger­je­lie­ber eben­so un­zer­trenn­lich in­ein­an­der­ver­schlun­gen. Über das Dach der Müh­le hat­te sich der Efeu in ei­ner Wei­se ge­legt, dass eine wah­re Merk­wür­dig­keit dar­aus ge­wor­den war. Wie es um den Spei­chen und Schau­feln des al­ten schwar­zen Ra­des blüh­te und grün­te, lässt sich kaum be­schrei­ben. Es war ein Wun­der, dass die Fens­ter des Hau­ses nicht aus Bon­bon­ta­feln be­stan­den, und kein Wun­der war’s, wenn Leon­hard Ha­ge­bu­cher vor Über­ra­schung ste­hen­blieb und rief:

      »Das ist die Kat­zen­müh­le?! O was ist aus der ge­wor­den? Der An­blick wür­de ei­nem in den Hunds­ta­gen un­term Äqua­tor Küh­lung ge­ben, o das ist schön!«

      »Nicht wahr? Aber so ist es im­mer und an je­dem Orte; man braucht die Na­tur nur ihr Spiel wei­ter­spie­len zu las­sen, sie weiß mit den ge­ge­be­nen Hilfs­mit­teln üp­pig zu wu­chern. Un­ter des Kat­zen­mül­lers Re­gie­rung sah das Ding an­ders aus, Ma­dam Klau­di­ne hat es ge­lernt, der al­ten Mut­ter Isis ihre Wege of­fen­zu­las­sen, und nicht bloß um Haus und Zaun her.«

      »Al­lah, was ha­ben wir hier?« rief der Afri­ka­ner, als sich plötz­lich aus dem Wald- und Gar­ten­ge­büsch ein wei­ßer Pfer­de­kopf hob und schnau­fend und ver­trau­lich sich ihm auf die Schul­ter leg­te. »Bei al­len Mäch­ten Dschin­nist­ans, Pro­spe­ro, bist du auch da? Weißt du auch den Weg hier­her­zu­fin­den?«

      »Wahr­haf­tig, ’s ist der Eng­län­der vom Bums­dor­fer Guts­hof!« brumm­te der Vet­ter. »Na, denn nur zu; die Kom­pa­nie wird im­mer hüb­scher.«

      »Ich hab ihn aus sei­nem Stall ge­stoh­len und, wie ge­wöhn­lich, sel­ber sat­teln müs­sen, Herr Vet­ter«, sprach Ni­ko­la von Ein­stein, aus der Gar­ten­tür vor­tre­tend. »Seid ge­grüßt, ihr Her­ren. Ma­dam Klau­di­ne wird sich freu­en, euch zu se­hen, wir ha­ben schon län­ger, als uns gut ist, zu­sam­men­ge­hockt.«

      Eine äl­te­re Dame in schwar­zer Klei­dung zeig­te sich jetzt an dem of­fe­nen Fens­ter der Müh­le und nick­te freund­lich lä­chelnd dem We­ge­bau­in­spek­tor zu. Ge­führt von dem Hoffräu­lein, be­tra­ten die bei­den Män­ner das Haus, und Ni­ko­la sag­te:

      »Frau Ge­duld, hier ist er denn, und es soll mir nicht dar­auf an­kom­men, sei­ne Aben­teu­er und Er­fin­dun­gen zum sechs­ten­mal an­zu­hö­ren. Fra­gen Sie ihn nur im­mer­hin aus, Frau Ge­duld; ich hal­te mich der­weil an den Herrn Vet­ter, wel­cher auch das Sei­ni­ge, und zwar je­den Tag er­lebt.«

      »Dan­ke, mei­ne Al­ler­schöns­te«, sag­te der In­spek­tor und stell­te nun den Beglei­ter in al­ler Form der Frau Klau­di­ne vor, und die­se reich­te dem letz­tern die fei­ne ha­ge­re