Die Mutter steht natürlich für die Richtigkeit seines Verhaltens ein; sie ließ sich ebenso natürlich in dem Augenblick der Glückswende von ihm fortreißen und wäre ihm bis ans Ende der Welt auf seiner Flucht in das aschgraue Ungewisse gefolgt, wenn nicht glücklicherweise der große Schnee sämtliche Eisenbahnlinien verweht und sogar die Poststraße des Vetters Wassertreter am Eingange des Eichentals vor Fliegenhausen gesperrt hätte. So sitzt sie nun länger als zehn Jahre in der Katzenmühle und harrt auf die Rückkehr ihres Sohnes, und wie ich glaube, warten andere Leute mit ihr darauf. Dass der junge Herr noch am Leben ist, steht der Mutter unzweifelhaft fest, aber desto zweifelhafter ist mir, was er aus sich gemacht hat. Der Unterhaltungsstoff ist uns während dieser zehn Jahre nicht ausgegangen; wir wissen im Sommer wie im Winter, worüber wir zu schwatzen haben, und im Notfall können wir träumen nach Belieben. Du wirst eine schöne, alte Frau, eine weise Frau, eine Heldin kennenlernen, Leonhard Hagebucher. Wenn du im Tumurkielande dein Elend mit solchem Anstand trugest, wie Madam Klaudine Fehleysen das ihrige in der Katzenmühle, so mache ich dir mein allergehorsamstes Kompliment. Himmelsackerment, nun sieh einmal an, wie mir die Lümmel hier den Winterweg zugerichtet haben! Die ganze Böschung ruiniert! Wie viele besoffene Kotsassen und Brinksitzer haben mit ihren Mistwagen hier im Graben gelegen? Sollte man da nicht den Glauben an die Menschheit verlieren und den an die Karlsbader Beschlüsse finden? Das ist ja rein um des –«
»Eine Unglückliche und eine Heldin!« sprach Leonhard in tiefem Nachdenken vor sich hin, und der Vetter, wieder in den gelassenen Ton seiner Erzählung übergehend, sagte:
»Du wirst sie sehen, und hoffentlich gefällst du ihr so wie mir. Du wirst sie kennenlernen, und das ist mehr, als sehr vielen Leuten zuteil wird. Da ist übrigens Fliegenhausen; wir wollen jedenfalls den kürzesten Weg zum Ochsen nehmen. Bei solcher Mittagshitze ziehe ich die Sehne dem Bogen immer vor, dir aus dem heißen Land Afrika kann’s einerlei sein.«
Achtes Kapitel
Sie erreichten den Ochsen auf einem, wenn auch nicht ungewöhnlich reinlichen, so doch schattigen Nebenwege und wurden von dem Wirt und der Wirtin mit ländlicher Herzlichkeit an der Pforte in Empfang genommen. Ländlich speisten sie zu Mittag, und nach der Mahlzeit streckte sich der Vetter auf die Bank von weichem Holz und riet dem Begleiter, dasselbe zu tun und sich um die Fliegen nicht zu kümmern. Wenn sich die Fliegen nicht um den Vetter bekümmert hätten, so wäre das jedenfalls recht freundlich von ihnen gewesen. Leonhard Hagebucher legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme mit dem festen Vorsatz, das Beispiel des Wegebauinspektors nicht nachzuahmen, und verwunderte sich eine Stunde später sehr, als er, erwachend, sich nicht in der Lehmgrube der Madam Kulla Gulla zu Abu Telfan, sondern in der Gaststube des Ochsen zu Fliegenhausen fand. Auch der Vetter richtete sich verstört auf; man trank den Kaffee des Landes weniger des Inhalts als der Form wegen. Der Gaul blieb gern im Stall des Ochsen zurück. Der Vetter und der Afrikaner machten sich auf den Weg zur Madam Klaudine, jetzt wieder der Landstraße folgend. Sie durchschritten den oberen Teil des Dorfes und gelangten bald in den kühlen Schatten des Eichentales; eine Viertelstunde von Fliegenhausen schlugen sie sich zur rechten Seite auf einem ausgefahrenen Hohlweg tiefer in den Wald; der Pfad wurde in einem Seitentälchen immer schmäler und brachte sie durch eine kurze Wendung um eine hervorspringende Felsenecke zu der Katzenmühle, dicht hinter welcher die Welt nicht mit Brettern vernagelt, sondern durch eine ungefähr fünfzig bis sechzig Schuh hohe Granitwand von den Ährenfeldern der über dieser Steinwand beginnenden weiten Ebene abgeschnitten war. Von diesem Felsen herab stürzte sich früher der lustige Bach auf das Rad, aber, wie gesagt, die großen neuen Fabriken droben im Lande hatten längst den Hauptfluss des Wassers für sich in Anspruch genommen und dem demütigen Schwesterchen in der Tiefe nur grade so viel davon gelassen, als nötig war, um rund um das alte Gemäuer, Gestein und Gebälk und das zerbrochene Radwerk eine Vegetation hervorzubringen und zu erhalten, wie kein Maler sie sich anmutiger, üppiger, frischer und grüner vorstellen konnte. Ein wildes Gärtchen zog sich vor dem Hause her, und es war kaum zu erkennen, wo die lebendige Hecke in das Gebüsch des Waldes überging. Wilde und edle Rosen hatten sich ineinanderverflochten, Zaunwinden und Jelängerjelieber ebenso unzertrennlich ineinanderverschlungen. Über das Dach der Mühle hatte sich der Efeu in einer Weise gelegt, dass eine wahre Merkwürdigkeit daraus geworden war. Wie es um den Speichen und Schaufeln des alten schwarzen Rades blühte und grünte, lässt sich kaum beschreiben. Es war ein Wunder, dass die Fenster des Hauses nicht aus Bonbontafeln bestanden, und kein Wunder war’s, wenn Leonhard Hagebucher vor Überraschung stehenblieb und rief:
»Das ist die Katzenmühle?! O was ist aus der geworden? Der Anblick würde einem in den Hundstagen unterm Äquator Kühlung geben, o das ist schön!«
»Nicht wahr? Aber so ist es immer und an jedem Orte; man braucht die Natur nur ihr Spiel weiterspielen zu lassen, sie weiß mit den gegebenen Hilfsmitteln üppig zu wuchern. Unter des Katzenmüllers Regierung sah das Ding anders aus, Madam Klaudine hat es gelernt, der alten Mutter Isis ihre Wege offenzulassen, und nicht bloß um Haus und Zaun her.«
»Allah, was haben wir hier?« rief der Afrikaner, als sich plötzlich aus dem Wald- und Gartengebüsch ein weißer Pferdekopf hob und schnaufend und vertraulich sich ihm auf die Schulter legte. »Bei allen Mächten Dschinnistans, Prospero, bist du auch da? Weißt du auch den Weg hierherzufinden?«
»Wahrhaftig, ’s ist der Engländer vom Bumsdorfer Gutshof!« brummte der Vetter. »Na, denn nur zu; die Kompanie wird immer hübscher.«
»Ich hab ihn aus seinem Stall gestohlen und, wie gewöhnlich, selber satteln müssen, Herr Vetter«, sprach Nikola von Einstein, aus der Gartentür vortretend. »Seid gegrüßt, ihr Herren. Madam Klaudine wird sich freuen, euch zu sehen, wir haben schon länger, als uns gut ist, zusammengehockt.«
Eine ältere Dame in schwarzer Kleidung zeigte sich jetzt an dem offenen Fenster der Mühle und nickte freundlich lächelnd dem Wegebauinspektor zu. Geführt von dem Hoffräulein, betraten die beiden Männer das Haus, und Nikola sagte:
»Frau Geduld, hier ist er denn, und es soll mir nicht darauf ankommen, seine Abenteuer und Erfindungen zum sechstenmal anzuhören. Fragen Sie ihn nur immerhin aus, Frau Geduld; ich halte mich derweil an den Herrn Vetter, welcher auch das Seinige, und zwar jeden Tag erlebt.«
»Danke, meine Allerschönste«, sagte der Inspektor und stellte nun den Begleiter in aller Form der Frau Klaudine vor, und diese reichte dem letztern die feine hagere