Deinen Major, Alte, und küsse Deine Kinder in meinem Namen; schreibe mir jedoch unter keiner Bedingung, ich kann keinen Brief gebrauchen. Hörst Du, hörst Du, Emma, ich will keinen Brief haben! Sei also gut und lieb wie immer und behalte morgen Deine Meinung für Dich. Da kräht der Hahn zum zweiten Mal, und gradeso krähte er zu Jerusalem im Palasthofe des Hohenpriesters Kaiphas; ich ziehe die Bettdecke über den Kopf – einen Brief nehme ich ganz gewiss nicht an!
Nikola von Einstein«
Zwölftes Kapitel
Der blöde Hans, der Simpel des Gutshofes und des Onkels Bumsdorf auserwählter Liebling und Sündenbock, humpelte in der heiligen grauen Frühe richtig mit der Korrespondenz seiner Gebieter und Gebieterinnen gen Nippenburg, und es bekam im regelrechten Verlauf der Stunden der Dynast seine Zeitung und die Frau Majorin Emma in der Hauptstadt das wilde, tränenreiche Schreiben Nikolas, auf welches sie nicht antworten sollte. Was sie also darüber dachte, in welcher Weise sie ihren Major an ihrer Angst und ihrem Zorn teilnehmen ließ, bleibt uns daher fürs erste ein Geheimnis. Später werden wir schon erfahren, wie nicht nur die Frau Emma, sondern auch manche andere Leute sich zu diesen Angelegenheiten stellten; aber noch hält uns die Provinz ein ganzes Kapitel hindurch, und wir haben nicht die Absicht, gleich dem Fräulein von Einstein die Augen zuzukneifen, die Zähne aufeinanderzusetzen und uns kopfüber in den Strom zu stürzen, ohne zu wissen, wohin die Wellen uns tragen werden. Wir gehen langsam ins Wasser, nachdem wir uns vorher sorgsam abkühlten; wir halten unsere Kräfte zusammen, denn wir kennen unsere Aufgabe und wissen, dass es leichter ist, sich treiben zu lassen, als jene Stelle am anderen Ufer, nach der wir vor Beginn des Wagnisses so sehnsüchtig hinblickten, tief atmend, aber siegreich zu erringen, gar nicht zu gedenken, dass wir den Kurs des Fräuleins von Einstein wie aller anderen fest dabei im Auge behalten müssen.
»So! Das ist gradsogut, als ob du zum zweiten Mal das Mondgebirge zwischen dich und das süße Vaterland geschoben hättest!« hatte der Vetter Wassertreter, den Riegel seiner Türe vorschiebend, zu dem Afrikaner gesprochen, und es war in der Tat so. Zum anderen Male befand sich Leonhard Hagebucher auf dem besten Wege, um zu einem Mythus für Nippenburg und Bumsdorf zu werden: Dschebel al Komri hatte ihn wiederum in seine Schatten aufgenommen, und nicht viele Leute konnten sagen, was aus ihm geworden war.
Nippenburg befand sich, seit jener verhängnisvollen Katastrophe im Goldenen Pfau, noch immer in einer dumpfen Aufgeregtheit. Seltsame Gerüchte über spätere Vorgänge im Hause des Steuerinspektors zu Bumsdorf durchkreuzten einander, es bildeten sich Parteien und Gruppen, welche die Ereignisse von sehr verschiedenartigen Standpunkten aus betrachteten und besprachen. Der Onkel Schnödler, zu Boden gedrückt durch die qualvolle Last seines bösen Gewissens und die auf seinem silberhaarigen Scheitel immer mehr sich häufende allgemeine Verachtung, wankte durch die Gassen des Städtchens und suchte, gleich anderen, viel klügern Burschen und größern Philosophen, auf den Pflastersteinen und in den Mienen der guten Freunde die ihm in so schnöder Weise abhanden gekommene stupide Beschaulichkeit des Daseins vergeblich. Leonhard Hagebucher war und blieb verschwunden, und nur das Gerücht konnte ihn dann und wann erhaschen. Man wollte ihn in dunkler Nacht an den Häusern hinschleichend ertappt haben; an einem sehr nebeligen Morgen hatte er aus dem Fenster des Vetters Wassertreter geniest, und die Tante Klementine Mauser, die gegenüber gute Wache hielt, wollte »zur Gesundheit!« gesagt haben. Auf fernen Bergen und in den Wäldern der Umgegend sollte er häufig umherstreifen, und dass er in Gesellschaft des Wegebauinspektors die fürstliche Landstraße nicht selten unsicher mache, war durch nicht ganz unglaubwürdiger Zeugen Mund den Bürgern und Bürgerinnen von Nippenburg zur Gewissheit gemacht worden. Wie er aber seine Aus- und Eingänge bewerkstelligte, ohne von Hunderten gesehen und kommentiert zu werden, blieb ein Rätsel, erschien jedermann als eine unaussprechlich heimtückische afrikanische Wüstenpraxis und zeugte jedenfalls von einem sehr verstohlenen Wesen und einer großen Kunst, »hinter den Leuten wegzulaufen«. Laufen wir ebenfalls hinter den Leuten weg.
Wie immer tropfte mit leisem Klingen das Wasser, welches das ferne geschäftige, brausende, sausende, pfeifende und rasselnde Fabrikgetriebe für die Katzenmühle noch übrigließ, über das schwarze, nutzlose Rad, und jeder reinlich perlende Tropfen war ein Flüchtling, der nur mit Mühe seine Reinheit und Klarheit vor den nützlichen, aber schmutzigen und erbarmungslosen Mächten und Kräften da droben auf der Hochebene gerettet hatte. Die Bewohnerin der Mühle, die Frau Klaudine Fehleysen, lag bleich und müde auf ihren Kissen und horchte dem Tropfenfall, wie ein Kranker dem Ticken seiner Uhr horcht. Die Frau Klaudine war ganz allein mit dem leisen Spiel des Wassers; die Magd war ins Dorf gegangen, um Brot zu kaufen, und der Spitzhund vom Bumsdorfer Gutshofe hatte tiefer im Walde auf einem Spaziergange einen Igel getroffen und natürlich fürs erste keine Zeit, an die Mühle, die Herrin und seine Pflicht zu denken.
Die Frau Klaudine war so oft, so lange und so durch ihren eigenen tiefsten Willen allein, dass sie gewöhnlich kaum noch ein Bewusstsein ihrer Einsamkeit besaß; aber heute musste sie unwillkürlich wieder einmal darüber nachsinnen, und diese Gedanken hätte doch weder die tapfere, treue Christine noch der redliche, biedere Spitz des Onkels Bumsdorf von ihrer Seite fernhalten können. Sie kamen, wenn auch nicht gefürchtet, so doch ungebeten zu Unserer Lieben Frau von der Geduld, und sie kamen wie in dem hellen Sonnenstrahl die Sonnenstäubchen und tanzten ihren Tanz, grade weil der Tag schön und der Himmel blau war, grade weil die Sonne schien und es eine Sünde gewesen wäre, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen. An einem stürmischen Tage voll dunkel treibenden Regengewölkes hätten sie sich vielleicht ferngehalten und nicht gewagt, in den Bezirk der Mühle einzudringen; aber, wie gesagt, die Frau Klaudine fürchtete sich zu keiner Zeit vor ihnen, und zu jeder Zeit hatten sie freien Eintritt, wenn sie kommen wollten.
Andere Frauen können in solchen Stunden geheime Schubfächer aufschließen und mit einem Schoß voll greifbarer Angedenken niedersitzen zum weinerlichen oder heitern Verkehr mit der Vergangenheit; die Frau Klaudine hatte bei ihrer Flucht in die Wildnis nichts von derartigen Zeichen und Symbolen glücklicher und unglücklicher Augenblicke oder Lebensepochen gerettet. Sie hatte sowohl das Stammbuch ihrer Mädchenjahre wie den Brautkranz und die ersten Schuhe ihres Kindes verloren; und hundert andere Dinge, welche sie gleich allen anderen Frauen einst unter ihren teuersten Kleinodien