Ansichten der Natur. In diesem schönen Buche, welches Dein verständiger Major Dir sicherlich in einem behaglichen Winter vorgelesen hat, wird geschildert, wie irgendwo in Mittel- oder Südamerika, an irgendeinem großen Strome die Alligatoren während des heißen Sommers im Schlamm eintrocknen, um erst in der Regensaison von neuem zu erwachen. Die Sache ist sehr anschaulich ausgemalt; die Schollen bersten mit Krachen und springen in die Höhe, wie das gepanzerte Untier sich aus seiner langen Siesta erhebt. Es gähnt entsetzlich, es reibt sich die Augen; vor allen Dingen erwacht es mit einem ausgezeichneten Appetit, und so hat es mir zwischen zwei und drei Uhr morgens ein helles Angstgeschrei entlockt und mich hochauf aus meinen Kissen gejagt; Du aber, mein Kind, schau nach in Deinem Traumbuche und sage mir bei unserm ersten Zusammentreffen, was es bedeuten kann.
Ich habe überhaupt angefangen, in den letzten Zeiten sehr tropisch zu träumen, den Grund davon aber kann ich selber angeben. Es ist kein Zweifel, der Wilde Mann aus Afrika trägt die Schuld.
Das Gerücht von diesem Wilden Mann wird wohl auch bereits zu Euch in Eure Residenz gedrungen sein, und wie ich Euch kenne, habt Ihr ihn sicherlich recht lustig zerpflückt und zerfasert, ehe Ihr ihn gleich Eurem anderen Spielzeug beiseite warfet. Da er aber zu meinen sehr guten Freunden gehört und durch seine Heimkehr aus der Gefangenschaft viel dazu beigetragen hat, meinen Willen in den des harten Schicksals mit besserm Humor zu beugen, so muss ich ihn doch noch Eurer guten Meinung und Eurem Wohlwollen empfehlen, denn er hat beide in der nächsten Zeit vielleicht recht nötig.
Mein Freund nennt sich Leonhard Hagebucher und wurde vor beinahe vierzig Jahren in Nippenburg geboren. Fast zwölf Jahre hat er am Mondgebirge in der Sklaverei gelegen, und zu Anfang dieses Sommers ist er in seines Vaters Hause hier zu Bumsdorf wiederangelangt, merkwürdigerweise weniger stumpfsinnig und vertiert als manche unserer geschätzten Bekannten, die nie die Grenzlinie unserer guten Gesellschaft überschritten. Ich habe natürlich sogleich das innigste Verhältnis zu ihm angeknüpft; denn niemals ist ein Mensch so zur rechten Zeit für die Stimmungen und Zustände eines anderen eingetreten wie dieser Mann der Wüste für die meinigen.
O Emma, zehn oder zwölf Jahre hat dieser Hagebucher unter der Peitsche des Negers ausgehalten, und nun ist er wieder da, als ob ihm nichts geschehen sei, und genießt alle Segnungen der Zivilisation und Nippenburgs! Zwölf Jahre hat er sich gleich dem tapfersten Helden gegen die Affen und Ungeheuer gewehrt, und sie haben sein mutiges, ausdauerndes Herz nicht untergekriegt, obgleich er ganz allein – zwölf lange, lange Jahre ganz allein zwischen ihnen steckte. Er sagt, die Mohren hätten sich noch ertragen lassen, aber die Mohrinnen seien schlimm gewesen; o Emma, Emma, und eine gewisse Madam Kulla Gulla sei ihm fast zu viel geworden! Er erzählt sehr gut, denn er hat während seines Erzählens noch die Schultern zu reiben. Das ist alles so anschaulich, und tröstlich ist’s auch, dass einem jeden die Hoffnung unbenommen bleibt, er werde noch einmal irgendwo sitzen und die Historie von seiner Gefangenschaft und seiner Befreiung zum besten geben wie dieser Herr Leonhard Hagebucher.
Ja, Du mein süßes Herz, ohne diesen Wilden Mann aus Afrika müssten Mama und Friedrich doch noch ein wenig Geduld haben; aber jener hat allerlei vom Mondgebirge heimgebracht, was unsereins in seinen kleinen Nöten und Ärgernissen trefflich gebrauchen kann; und dass jetzt Nippenburg und Bumsdorf ihn nach Recht, Verdienst und Gebühr behandeln, kräftigt mich gleichfalls nicht wenig in meiner Ergebung.
’s ist ein unnützer Vagabund, mein armer Afrikaner, schon in seiner frühsten Jugend taugte er wenig, und von der Schule ist er sehr bald fortgelaufen. Wenn er zu Lande und zur See mancherlei versucht hat und sogar die Landenge von Suez mit durchgraben half, so hat er doch niemals einen Begriff davon gehabt, wie ein verständiger Mensch für sein Glück und sein Wohlbehagen sorgt. Und als endlich die Baggaraneger ihn an die Leute von Tumurkieland verkauften, kam er wahrlich nicht zum ersten Mal als Handelsartikel auf den Markt der Welt. Jetzt ist Nippenburg seiner auch längst wieder überdrüssig, und vor vierzehn Tagen hat sein Papa ihn gleichfalls aus dem Hause geworfen, weil man ihn, den Alten, des Sohnes wegen aus dem Goldenen Pfau warf. Jedermanns Hand ist wider meinen Freund, und jedermann macht sich selbstverständlich ein Verdienst daraus und hebt sich höher darum in seinen Schuhen; mir aber ist der arme Sünder unschätzbar als mein guter Kamerad; denn was für einen Anspruch kann er darauf machen, sanfter angefasst zu werden als seinesgleichen?
Ich habe vielen Verkehr mit diesem Herrn Hagebucher gehalten, zuerst in seines Vaters Haus, dann auf manchem Spaziergang in Wald und Feld; und auch bei der Frau Klaudine sind wir in den beiden letzten Wochen häufig zusammengetroffen. Wir haben uns gegenseitig recht ausgesprochen und merkwürdige Beobachtungen und Erfahrungen zum besten gegeben und beiderseitig dadurch gewonnen: sich ›totzustellen‹ in der Hand des Fatums ist unter allen Umständen das vernünftigste und bequemste. Die Frau Klaudine versteht’s am besten; aber auch Leonhard Hagebucher und Nikola Einstein sind auf gutem Wege, die Kunst zu lernen.
Also, Frau Emma, ich heirate, da man es so haben will, und traue mir zu, als Frau von Glimmern meine Rolle mit allem Anstand durchführen zu können. O sie sollen schon nichts merken von der wirklichen Nikola von Einstein! Die ist tot und tief begraben für alle, welche auf ihrer Hochzeit tanzen; ganz still liegt sie in der dunkeln sicheren Tiefe, blickt nur durch halbgeschlossene Augenlider unter dem schweren Stein schläfrig hervor und denkt: Nur schlau muss der Mensch sein und so tot wie möglich, dann lässt sich das Leben schon tragen. Was meint die Frau Majorin? Ist das keine behagliche Vorstellung?
Morgen fange ich an, meine Kisten, Kasten und Schachteln zu packen, und beginne auch mit meinen Abschiedsvisiten, deren ich eine große Menge abzustatten habe in Bumsdorf und der Umgegend. Mancher alten dickköpfigen Weide, den Mühlbach entlang, hab ich mein Kompliment zu machen; mancher luftigen Berghöhe, manchem lieben Winkelchen, manchem stillen Pfade und manchem alten Felsblock hab ich Lebewohl zu sagen. An Menschen und Tiere darf ich eigentlich gar nicht denken, und am vernünftigsten wär’s, ich schliche mich bei Nacht und Nebel weg aus ihrer Mitte und suchte, mit den Schuhen in der Hand, den Nippenburger Posthof zu erreichen. Es wäre aber doch unrecht gehandelt, und der Oheim würd’s mir nie verzeihen. So will ich denn, wie es sich gebührt, in die Runde gehen, und ich habe es ja nötig genug, dass jeder mir verspreche, die arme Nikola nicht zu vergessen. Und zum letztenmal sollen mich Oheim, Tante und Cousinen durch alle Ställe und Vorratskammern, durch Gemüsegarten und Blumengarten und um den Fischteich führen, und niemandem soll’s verwehrt sein, mir nach Nippenburg zur Post das Geleit zu geben.
Wie