aus Lausanne in der französischen Schweiz, und so weiter durch den ganzen Jean Racine. Ah, es ist etwas, in der Katzenmühle auf den leisen Fall des Wassers und jene Stimmen zu horchen:
Courons, mes soeurs, obéissons.
La reine nous appelle:
Allons, rangeons-nous auprès d’elle!
Aber der Kranz der Freundinnen war zerrissen und zerstreut wie jener andere Kranz, welchen Klaudine an ihrem Hochzeitstage trug; die winzigen roten Kinderschuhe wurden in den Kehricht geworfen wie der rostige Heckpfennig und der unsichtbarmachende Däumling: niemand kannte ihren Wert. Die Frau Klaudine in der Mühle erinnerte sich an manche stille, liebliche Stunde, welche sie vor Jahren in ihrem reichen, stattlichen Hause, eingewiegt von allen Bequemlichkeiten des Lebens, über diesen und so vielen anderen Schätzen verträumte. Sie dachte aber auch daran, wie sie, so oft und grundlos verstimmt, verdrießlich, missgelaunt, unter denselben Schätzen gehockt habe, und dann dachte sie an den plötzlichen Sturmwind, der uns erfasst und zur Seite schleudert, ehe wir nach einem Halt greifen können, der unsere Mauern eindrückt, unser Dach abdeckt, unser Eigentum, alles, was uns lieb und wert ist, in alle Welt hinauswirbelt und uns nichts übriglässt von dem, was wir uns bis in den Tod gesichert hielten.
Die Frau Klaudine fürchtete sich auch vor diesen Erinnerungen nicht mehr; auch ihnen blickte sie geduldig ins Gesicht, und sie versanken wie in einem tiefen stillen See und erregten keine Kreise auf der lichten ruhigen Fläche. Eine Hoffnung genügte der Greisin, und in ihr trug und entbehrte sie alles, was der Menschen Leben sonst ausmacht. Außerhalb ihrer Klausur mochte man davon reden wie von einer fixen Idee, einer leichtern Form des Wahnsinns: das Weib, welches alles übrige ohne Zögern aufgegeben hatte, ließ sich das eine nicht entreißen.
Horch, eines Pferdes Hufschlag im Walde! Die Einsiedlerin in der Mühle richtete sich lauschend auf und beugte sich vor in ihrem Lehnstuhl.
»Da ist sie! Da kommt sie!… Die großen Wasser, die glänzenden Ströme rauschen fernhin, mir gehören nur die einzelnen verlorenen Tropfen zu; aber sie kommt, und es wäre kein Wunder, wenn mein Bach von neuem erwachte und sich mit dem alten lustigen Sprunge vom Felsen stürzte und selbst mein arm zerbrochen Rad dort aus dem Schlafe weckte. Sie kommt, und der Weg lacht unter den Füßen ihres Rosses. Sie kommt wie meine Jugend – ach weh, nein, nein! Nicht wie meine Jugend; so viel Glück wie mir ist ihr nicht gegeben; Schmerzen und Ärgernisse bedrängen ihr süßes Herz schon in der Frühe, und niemand kann ihr helfen, sich derselben zu erwehren. Spring an, Prospero, aber hüte dich, trage sie sicher zu meinem Garten! – Da ist sie – willkommen, Tochter, willkommen, mein armer, wilder Edelfalk, willkommen, Nikola!«
Im nächsten Augenblick tauchte der Kopf des weißen Engländers auf hinter den letzten Büschen des Waldes und den Stockrosen des Mühlgartens, der Zügel war um den gewohnten Ast geschlungen, und das Fräulein von Einstein kniete wieder zu den Füßen der Frau Klaudine; aber die Greisin erschrak heftig, als sie der jungen Freundin in das Gesicht blickte, und sie rief:
»Wie heiß! Wie wild, wie aufgeregt, Kind?! Was ist geschehen, was hast du jetzt, o wirst du nie lernen, Ruhe zu halten, willst du dein ganzes Leben auf solche Weise durchstürmen?«
Nikola, schluchzend und nach Luft ringend, brachte anfangs nichts weiter als das Wort: Mutter! hervor und wiederholte es leise und immerfort, bis sie plötzlich sich aufrichtete und rief:
»Nein, nein – lass deine Hand von meiner Stirn, halte mich nicht mit deinen Armen; du weißt nicht, was ich tat und was ich dir sagen werde! Blicke mich nicht an, wende dich fort; sie haben gewonnen, sie haben ihren Willen, und ich habe ihnen alles gegeben und nichts mehr für dich und mich übrigbehalten. Ich umklammere dich hier, meine ganze Seele ist bei dir, und doch ist nun keine Gemeinschaft fernerhin zwischen uns beiden – stoß mich von dir, heiße mich gehen, ich habe kein Recht mehr in deinem Hause und deinem Herzen!«
Die Frau Klaudine war sehr bleich geworden; auch ihre Lippen zitterten; aber sie fasste sich doch schnell gegenüber dieser ungestümen Naturgewalt, die hier auf sie einstürmte. Sie hielt die fiebernde Nikola fest und zog sie wieder herab auf die Knie, und als nun das helle, laute Weinen unaufhaltsam hervorbrach, sah sie wohl längere Zeit hindurch starr und wild ins Weite, sagte dann aber still und milde:
»Sei ruhig, mein Kind, fasse dich. Es konnte ja niemand ändern, es musste ja so kommen. Was fürchtest du dich vor mir, habe ich nicht Zeit gehabt, über das, was werden musste, nachzudenken? Es wäre freilich nicht gut, wenn es unvorhergesehen, unvorbedacht mich überraschte; aber die Tage sind lang in der Katzenmühle und die Nächte oft noch länger; es kommt so leicht nichts mehr aus dem Säkulum über die alte Frau in der Mühle, dessen Fußtritte nicht weit vorauf durch den Wald schallten. Du bringst mir heute wahrlich Trauer und Freude durcheinander; aber ich segne dich in deinem Willen und in deiner Unterwerfung. Du hast dich lange und wacker gewehrt und brauchst dir heute keine Vorwürfe zu machen. Mein liebes Mädchen, auch sie meinen es gut und wollen dir ein weiches, schönes, glänzendes Los und Leben, wie sie es verstehen, bereiten, und sie haben sich lange in Geduld gefügt und auf deine Zustimmung gewartet. Ja, du musst gehen, und du wirst, wenn nicht glücklich, so doch ruhig und gelassen werden, und einst wirst du an einem Morgen erwachen und dich wundern; dann bist auch du eine alte, alte Frau, und die sengende, bittere heutige Stunde ist nur ein ferner, ferner leiser Klang, und nun denke, was für ein Märchen es sein wird, wenn du dich dann auch der Katzenmühle und der alten Frau Klaudine erinnern wirst. Sei ruhig, liege stille, lass deine Stirn in meinen Händen; denn es tut mir sehr leid und weh, dass ich dich lassen muss! Wenn du nun von neuem in den Kreis deiner Verwandten eingetreten bist, so ertrage die kleinen Schwächen und Nichtigkeiten in Geduld; weißt du, sie fürchten sich eigentlich vor dir – werde eine gute Frau, werde eine gute Frau!… O mein Kind, mein Kind, meine Tochter, weshalb hat das so kommen müssen?!«
»Sie fürchten sich vor mir?!« lachte Nikola bitter. »O nein, sie lieben mich sehr und haben mich deshalb den Kontrakt, der mich an sie bindet, mit meinem Blute unterschreiben lassen. Die Zeit ist um, der Schuldschein ist verfallen – die – die Verlorenen kommen nicht wieder, und meine Gläubiger zucken die Achseln, legen die Hand aufs Herz, und – ich bin, nach dem Wunsche meiner Mutter dort drüben in der Residenz, die Braut Friedrichs von Glimmern. Ja, ich will es versuchen, ihm eine gute Frau zu werden!«
»Was sagst du von den Verlorenen, die nicht zurückkehren können, Mädchen?« rief jetzt die Greisin mit erhobener Stimme. »Du hattest auch ein ander Wort auf der Zunge und hast es nur nicht ausgesprochen. Die Toten kommen nicht zurück, wolltest du sagen und erschrakest und wolltest mich nicht erschrecken.