Alexander von Humboldt

Amerikanische Reise 1799-1804


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begannen ihr Studium an der Universität Frankfurt a. d. Oder, mussten es jedoch nach kurzem Anlauf wieder abbrechen. Wilhelm durfte sein Studium sofort in Göttingen fortsetzen, während Alexander, der sich nicht bewährt zu haben schien, in Berlin von Hauslehrern weiterunterrichtet wurde.

      Bis dahin waren die Brüder von Gottlob Johann Christian Kunth auf Wunsch der Mutter mehr als behütet worden, ähnlich wie der Emile in Jean Jacques Rousseaus beispielgebendem Roman.

      In dieser Zeit nach der Heimkehr aus Frankfurt an der Oder im Jahr 1788, beriefen die Mutter und Kunth den in Berlin bestens bekannten Oberkonistorialrat Johann Friedrich Zöllner (1753-1804) als neuen Hauslehrer. Damals war Anton Friedrich Büsching als führender Geograph der Epoche der Spätaufklärung 1750 bis 1799 Kollege Zöllners. Dieser war allerdings der entschieden modernere geographische Denker: Mitglied der berühmten „Mittwochsgesellschaft“, offener Gegner des Wüllnerschen Religionsediktes und Besucher des Salons der Henriette Herz. Kunth und die Brüder Humboldt dürften Zöllner hier schon begegnet sein.

      In ihm erlebte der jüngere Humboldt erstmals einen Hauslehrer anderer Art: Einen Lehrer, der ihn ernstnahm, ihn anerkannte und sein Freund wurde. Alexander lebte damals förmlich auf. Der neue Hauslehrer ging mit seinem Zögling z.B. in die Akademie der Künste, um dort ein bedeutsames Reliefmodell des Riesengebirges zu bewundern, das ein einfacher Schlesier geschaffen hatte, den der Lehrer bald persönlich kennenlernen sollte. Und als Zöllner sich auf eine gut geplante Reise nach Schlesien vorbereitete, notierte er sich Fragen, die der Schüler gern beantwortet sehen wollte. Während dieser Reise schrieb der Lehrer ausführliche Briefe an Humboldt und an seine Frau. Diese Briefe vereinigte er 1792 und 1793 in den beiden hochinteressanten Bänden seines Reisewerkes: Briefe über Schlesien, Krakau, Wieliczka und die Grafschaft Glatz auf einer Reise im Jahr 1791 (Berlin).

      Er schrieb über die Eigenheiten des Riesengebirges unter Berücksichtigung des Geographischen Anordnungsschemas und aller Geofaktoren und über die Geomorphographie der Reliefmodelle. Er berichtete vom anbrechenden Fremdenverkehr in Badeorten, von ersten Umweltschäden, von Wasseranalysen und einer Tabelle mit Höhenmessungen. Er schilderte die Not der vom verantwortungslosen Adel unterdrückten Bauern und die Armut der Weber. Kein Wunder, dass Humboldt von diesem Mann schrieb, »er könnte der erste Naturforscher unter den Sterblichen werden«.

      Mit der Entdeckung Zöllners ist mir wahrscheinlich der letzte große Fund im Rahmen meiner Humboldt-Forschung gelungen (siehe »H. Beck: Erkenntnissgewinne des jungen Alexander v. Humboldt« in: Abh. d. Humboldt-Gesellschaft, Band 16, Mannheim 200, Seite 13-44).

      Kurze Zeit später, immer noch im Jahr 1788, erlaubte man dem 19-jährigen Alexander v. Humboldt den ersten freien Ausgang. Er begab sich, wohl mit Wissen Zöllners, sofort zu Karl Ludwig Willdenow, dem nur fünf Jahre älteren, talentiertesten Botaniker Berlins. Und wieder begegnete er einem Gelehrten, der ihn, wie Zöllner, schließlich als Freund betrachtete.

      Aufflammende Freundschaft und Begabung rissen ihn erneut aus dem bisherigen Trott. Willdenow stieß ihm das Tor zur wissenschaftlichen Botanik auf, wies ihn auf Japan hin und ermöglichte ihm, gerade als niemand an ihn glaubte, die Formulierung eines ersten Forschungsprogramms: »Geschichte der Pflanzen«. In ihm sollten Ausbreitungsvorgänge von Pflanzen von einem Heimatgebiet aus über die Erde verfolgt werden. Humboldt hat in diesem Rahmen bald an das Substrat, den Boden und an Pflanzenfossilien gedacht, um der migrativen (auf Wanderungen bezogenen) Idee gerecht zu werden. Bald weitete sich das Programm zur Pflanzengeographie aus.

      Erstmals lenkte Alexander sein Leben diplomatisch zu einem weiteren Ziel hin, als er die Mutter und Kunth für ein Bergbaustudium in Freiberg gewinnen konnte und damit endlich das ihm auferlegte Allerweltsstudium der Kameralistik (Volkswirtschaft) unterbrach, dem er andererseits doch sehr vieles verdankte.

      Als »Bergmann« erlebte er eine stürmische Karriere und bald die Schöpfung eines zweiten Forschungsprogramms, das ein Strukturgesetz der Erde beweisen sollte.

      Ein drittes Forschungsziel galt dem Entwurf geographischer und geologischer Profile; die Letzteren sollten mit Symbolen und Buchstaben pasigraphisch (im Sinne einer allgemein verständlichen Schrift-Zeichensprache) erläutert werden. Die bis dahin fast nur zweidimensionale Geographie und Kartographie gewann seit Humboldt mit nachhaltigem Erfolg die dritte Dimension der Höhe und ermöglichte auch kartographisch die Wiedergabe des Reliefs der Erdoberfläche.

      Dies alles vertiefte Humboldt, als er 1793 in geistiger Auseinandersetzung mit Kants Physischer Geographie eine Methodologie schuf.

      Es genügt hier der Hinweis auf seinen erstmaligen Versuch der Bezeichnung einer Leitwissenschaft. Er nannte sie 1793 merkwürdigerweise »geognosia«; das ist der ältere, zunächst noch beherrschende Begriff, den J. A. de Luc (1778) und H. B. de Saussure (1779), Humboldts wesentlichstes Vorbild in der Hochgebirgsforschung, schließlich mit dem Terminus Geologie ersetzen sollten. Das aber – in letzter Konsequenz Erdgeschichte – hatte Humboldt nicht gemeint. Was er wollte, ergibt sich erst, wenn wir sehen, dass er »geognosia« in Klammern mit drei gleichbedeutenden Begriffen erläuterte: »(Erdkunde, Theorie der Erde, physikalische Geographie)«. Damit wird klar, dass keinesfalls »geognosia« in der üblichen Bedeutung gemeint war, und man wird sich fragen müssen, warum der junge Humboldt überhaupt diesen doch bereits vergebenen Begriff beanspruchte. Wie Herder ersehnte Humboldt »eine philosophische Physische Geographie« (Herder), d. h. eine Geographie höherer Art. Deshalb wurde der Ausdruck Geographie, der zu erwarten war, regelrecht desavouiert, weil er ihn mit Recht an die damals zum Schlafmittel degenerierte Registratur der politischen Geographie erinnerte. In seinem begrifflichen Denken erwies sich Humboldt als überempfindlich; daher auch der Versuch, jeden Begriff seiner Methodologie mehrfach zu erläutern, ein Verfahren, das der Geographiegeschichte andererseits den Weg zur Lösung des Problems wies.

      1796 ersetzte Humboldt dann den ohnehin bereits festliegenden und vergebenen Begriff »geognosia« durch »physique du monde«, einen Ausdruck, den er oft und ausnahmslos mit »Physik der Erde« übersetzt hat. Darunter verstand er jedoch keineswegs die frühe »Kosmos«-Idee, in der sich, wie in diesem späteren Werk selbst, »Himmel und Erde«, und zwar in dieser Reihenfolge, vereinigten.

      Viele und auch ich selbst haben dennoch zunächst in »physique du monde« einen frühen Hinweis auf den »Kosmos« gesehen, obgleich dies nur teilweise zutrifft.

      »Physique du monde« war zunächst nichts anderes als der neue Leitbegriff, der das eindeutig vergebene Leitwort »geognosia« ersetzte. Das zeigte sich klar, als Humboldt 1814 sein Ziel als »Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie« erläuterte, in einer Passage, die den Charakter seiner Forschungsreise offen klären sollte; eben diesen Text hat Hermann Hauff unverständlicherweise gelöscht; er steht in diesem Buch als Motto vor der Rekonstruktion von Humboldts Reise. Da »Physikalische Geographie« (eigentlich Naturgeographie) bereits im 18. Jahrhundert die wichtigste Wachstumsspitze der Geographie (Saussure, Kant, Herder, Johann Reinhold Forster, Saussure) bezeichnete, hatte der Begriff die größeren Aussichten, von Humboldt auf die Dauer benutzt zu werden. Dennoch hat er oft von »Physik der Erde« gesprochen; in all diesen Fällen können wir allerdings eindeutig und mühelos »Physik der Erde« durch den Terminus »Physikalische Geographie« ersetzen, und schließlich hat Humboldt selbst jeden Zweifel aufgehoben, weil er oft darauf hingewiesen hat, die eigentliche Sphäre seiner Kenntnis sei auf »Physikalische Geographie und Geognosie« beschränkt. Dazu hat er einen wesentlichen Teil der Geognosie zur Physikalischen Geographie gerechnet und keineswegs klare Grenzen gezogen.

      Zusammenfassend lässt sich sagen: Das dreistufige, im Sinne Kants raumwissenschaftliche, d. h. geographische Forschungsprogramm war der Nährboden einer im Sinne der Zeit »philosophischphysischen [oder physikalischen] Geographie« (Herder), die den Menschen einschloss.

      Dreistufiges Programm als Nährboden, Methodologie von 1793 und sechsjährige Vorbereitung der amerikanischen Forschungsreise (seit 1793/94) offenbaren einen inneren Zusammenhang, der sich begrifflich bereits seit 1793 als Einheit verstand und 1796 nur neu, und zweifellos besser, bezeichnet wurde.

      Dass Humboldt ein großer Geograph war, haben schließlich auch sämtliche bedeutenden Geographen, von Carl Ritter über Oskar Peschel, Ferdinand v. Richthofen, Friedrich