bis zu Hermann Lautensach und Carl Troll, bestätigt. Seine vergleichbare Größe als Mediziner, Chemiker, Mathematiker und Astronom hat sich dagegen keineswegs erweisen lassen. Das muss endlich zu denken geben.
Der junge Humboldt hat vielfältig publiziert, doch beweisen seine zahlreichen gedruckten Beiträge bis 1799 seine Größe allein keineswegs. Gerade das nicht Publizierte, d. h. seine Forschungsprogramme, und das im Druck nur Angedeutete, in Briefen kurz Geschilderte, war das »Triebrad« (Goethe). Es trieb ihn förmlich aus Europa hinaus auf die Bahn des Forschungsreisenden. Es war allein schon deshalb im Vergleich zu allem bis dahin meist schnell Publizierten bedeutender, eben weil an seine Veröffentlichung überhaupt noch nicht gedacht werden konnte. Erst aus ihm und aus den mit ihm zusammenhängenden Denkbewegungen ergab sich, dass Humboldt schon im Augenblick seines Aufbruchs nach Amerika über die bedeutendste geographische Konzeption seiner Zeit verfügte. Nach der Reise wurde dann deutlich, worauf seine Klassizität beruhte:
Mehr als alle seine Vorgänger war er Geograph (und Kartograph) und Forschungsreisender. Er hatte damit ein Forschungsvorbild (Paradigma) geschaffen, dem keiner widersprochen hat, das aber nur wenige (Ferdinand v. Richthofen, Friedrich Ratzel, Carl Troll, Hermann Lautensach, Albert Kolb und Herbert Wilhelmy in Deutschland) erreicht haben.
KURZE HINWEISE ZUR FORSCHUNGSREISE
A. V. HUMBOLDTS
Das nach und nach zwischen 1788 und 1797 entfaltete dreistufige Forschungsprogramm und die mit ihm verbundenen Gedanken drängten Humboldt nach mehrfachem Reisen förmlich aus Mitteleuropa hinaus, wie schon gesagt wurde. Die amerikanische Reise war auch insofern ein notwendiges Forschungsinstrument, dessen Exaktheit Humboldt in sechsjähriger Vorbereitung geformt hatte. Ohne sie konnte sein physikalisch-geographisches Denken nicht fortschreiten. Dabei hatte er die schwingenden Schalen der Waage seines Lebens gleichmäßig gefüllt: die eine Schale mit den schwerwiegenden Resultaten seines physikalisch-geographischen Forschens, die andere mit dem menschenrechtlich-humanitären Gedankengut, wobei das eine ohne das andere nicht denkbar war. Wissenschaft war ihm stets auch ein Mittel zur Behauptung oder Durchsetzung der Menschlichkeit. Die hier vorgelegte Rekonstruktion beweist diese Verbindung immer wieder.
Beleuchten wir weitere Charakterzüge dieser Reise:
Alexander Solschenizyn hat auf die Erfahrung hingewiesen, die jeder, der einmal Gefangenschaft erlebte, leicht bestätigen kann: So gut wie nie seien in der Literatur die Gefäße der Notdurft erwähnt worden. So sei etwa der spätere Graf v. Monte Christo im Verlies des Château d’If eingekerkert worden, doch wir erführen nur, dass ihm Essen gebracht worden sei. Der zeitgenössische literarische Geschmack verbat sich eben »Peinliches«, das andererseits eine solche Kerkerhaft noch wahrer und deutlicher werden lassen musste. Ebenso hat die Reiseliteratur damals in ihren führenden Werken Entbehrungen, von geringen Ausnahmen und kurzen Einblicken abgesehen, nur angedeutet. Man transpirierte höchstens, man schwitzte kaum, und so könnte der Leser meinen, Humboldts Reise sei gefahrlos wie das Unternehmen eines heutigen Globetrotters oder Touristen verlaufen. Sehr oft werden nicht einmal die Überanstrengungen des hart arbeitenden Humboldt im Tropischen Regenwald deutlich. In seinem Tagebuch hat er die üblen Ausdünstungen unterdrückter Arbeiter in mexikanischen Manufakturen immerhin erwähnt, die beiden Gefährdungen seines Reisebegleiters Aimé Bonpland festgestellt, eigene Erschöpfung und Bedrohung aber nahezu übergangen.
Wir können heute (und längst) beweisen, dass Humboldt mehrfach in Lebensgefahr schwebte, ja, dass er selbst einmal einem Brief anvertraute, er glaube, Bonpland und er würden wahrscheinlich nicht als Lebende zurückkehren. Während der Alexander-v.-Humboldt-Gedächtnisexpedition im Jahre 1958 haben sich Volkmar Vareschi und Karl Mägdefrau oft über seine unwahrscheinliche Leistungsfähigkeit gewundert, die beim Vergleich mit den heutigen Bedingungen immer wieder deutlich wurde. Er kam gesund aus den Tropen zurück. Fast war es ein Wunder. Er hatte am Casiquiare die dichtesten Moskitoschwärme überlebt; Karl Mägdefrau stellte fest: »Der Mensch ist hier ununterbrochen, Tag und Nacht, den Angriffen der verschiedensten Stechmücken, Ameisen, Wespen usw. ausgesetzt. Humboldts Schilderungen entsprechen auch in diesem Punkte vollauf den Tatsachen. Einer der Expeditionsteilnehmer zählte einmal auf dem linken Handrücken 170, auf dem rechten 102 Moskitostiche!« Deshalb und infolge des Sogs der Hauptstadt Caracas sind diese Gegenden heute menschenleer (Caracas 1927: 127 000 Einwohner; 1958: 1 Million).
Überhaupt stellt sich nach solchen Hinweisen die Frage nach dem heutigen Zustand der von Humboldt bereisten Landschaften. Hierüber gibt das von Ortwin Fink und mir bearbeitete Buch Loren Alexander McIntyres (Hamburg 1982) Auskunft. Einige Einblendungen wird der Leser im Text und in den Anmerkungen finden.
In meinem reisegeschichtlichen Denken sind die Stufen der Vorbereitung, Ausführung und Auswertung notwendige Schritte, die aus Gründen der Klarheit der Darstellung und als sukzessive Erkenntnisstufen im rekonstruierenden Bericht getrennt werden sollten. Dem Erkenntnisgewinn des Lesers zuliebe musste in wenigen Fällen bewusst davon abgewichen werden: so z. B. als Humboldt das überraschende Urteil über die Schönheit der (subtropischen!) Landschaft Teneriffas natürlich nicht während seines dortigen Aufenthalts, sondern erst später aus dem Vergleich mit den Tropen gewinnen konnte (siehe Seite 120). Hier brächte die strikte Trennung der unmittelbar vor Ort erzielten Einsicht von dem erst in der Auswertung sichtbar werdenden Ergebnis dem Leser nichts ein, weil ihm nämlich ein wichtiges Bekenntnis Humboldts an der richtigen Stelle praktisch vorenthalten würde. Ähnlich zu bewerten sind einige Einschaltungen heutiger Ergebnisse auch in Anmerkungen: etwa Schilderungen des Verhaltens der Guácharo-Vögel, der erneute Nachweis einer von Humboldt entdeckten Wild-Tomate oder Bemerkungen zur Chimborazo-Besteigung.
Als früher Kenner der (für die Geschichte der Geographie wichtigen) Reisen, hatte Humboldt beobachtet, dass Expeditionen mit vielen Teilnehmern an Bord eines Schiffes oder als Unternehmungen auf dem Festland fast immer unter dem Streit der Teilnehmer zu leiden hatten. Er beschäftigte sich mit der außerordentlich schlecht organisierten Forschungsreise der Französischen Akademie 1735-1743 und mit der dänischen Expedition 1761-1767, die unter der völligen Unfähigkeit Ihre Leiters zu leiden hatte. Der schließlich einzig Überlebende, Carsten Niebuhr, hatte die Forschungsergebnisse der Expedition mit seinem Reisebericht gerettet.
Auch James Cook, der größte maritime Entdecker überhaupt, kam mit Gelehrten wie Sir Joseph Banks (und, auf seiner zweiten Weltumsegelung 1772-1775), nicht immer gut zurecht. Besonders schwierig war das Verhältnis zu Johann Reinhold Forster, dessen Sohn Georg sich aus diesem Streit diplomatisch heraushielt und Cook besonders achtete. Humboldt zog daraus verständliche Konsequenzen:
Er wollte die Reise selber gründlich und speziell vorbereiten und wollte seine Forschungsergebnisse mit anatomischen Beobachtungen und mit umfangreichen Ausführungen der Elektrophysiologie noch bereichern. Dass er als Aufklärer auch daran dachte, sich mit diesen Leistungen ein bleibendes Andenken zu schaffen, bezeugt allein schon die große geistige Anstrengung, die er nie scheute. Es ist besonders hervorzuheben, dass Ingo Schwarz und Klaus Wenig im Kommentar ihrer Ausgabe des Briefwechsels Humboldts mit Emil du Bois-Reymond (Berlin 1997) diese besondere Leistung wissenschaftsgeschichtlich nachgewiesen haben. Selbstverständlich haben diese Forschungen mit der Geographie nicht das Geringste zu tun. Sie müssen aber, zusammen mit den wichtigen, tief in die Analyse von Humboldts »Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser« (2 Bde., Posen 1797) eindringenden Recherchen Brigitte Hoppes auch als Aufgaben der Vorbereitung der Forschungsreise Humboldts verstanden werden. Dies wird bis heute allerdings zu wenig zur Kenntnis genommen, obwohl er alle nötigen Utensilien zu den entsprechenden Versuchen vor Ort mitgenommen hatte. Alles hatte sich bereits angedeutet, als die beiden Brüder Keutsch von der damals noch dänischen Jungferninsel Sankt Thomas bereits als Mitarbeiter in das eben genannte zweibändige Werk hineinspielten als zwei Dänen aus Westindien.
Ich hatte schon 1959 darauf hingewiesen, dass große Expeditionen immer mehrere, thematisch oft weit voneinander getrennte Aufträge zu erfüllen hatten. Ganz in diesem Sinne suchte Humboldt lange nach einem geeigneten Mitarbeiter. Er dachte zunächst an Nicolaus Diederich Boethlingk, an die Brüder Keutsch oder an Joseph van der Schot. Seine Wahl fiel schließlich auf Aimé Bonpland. Er war Mediziner und stand vor einer wissenschaftlichen