Mit einem Satz war Studer aus dem Bett… Wohin schlich Dr. Laduner?…
War der Vortrag über Mattos Reich nichts anderes gewesen als ein Ablenkungsmanöver, ähnlich dem Vortrag über das Demonstrationsobjekt Pieterlen?
Die Lederpantoffeln. Ein Blick auf die Uhr: zwei Uhr. – Ein Blick in den Hof: eine Gestalt ging vorsichtig in der Richtung nach der Ecke, in der das K ans R stieß.
Wie hatte Dr. Laduner gesagt? Der Umgang mit Geisteskranken wirke ansteckend?…
Es sickerte keine Handharpfenmusik mehr durch die Decke. Wo mochte Pieterlen sein? Eigentlich hätte man sich schon lange den Estrich ansehen müssen, mit dem Fenster, aus dem nach Schüls Behauptung Mattos Kopf vorschoß und zurück, vor und zurück… Vielleicht hatte Schül wirklich etwas beobachtet, vielleicht hatte Schül seine Beobachtung nur in ein Bild gekleidet… Der kantonale Polizeidirektor, dem man angeläutet hatte, gleich nach dem Gespräch mit Frau Laduner, hatte nämlich mitgeteilt, daß man Pieterlens Spur noch nicht gefunden habe…
Studer schlich über den stillen Hof, trat ins Sous-sol vom R. Die Tür der Heizung war geöffnet, das Licht brannte.
Am Fuß der Treppe, an der gleichen Stelle, an welcher der Wachtmeister den Direktor gefunden hatte, lag Dr. Laduner, und die Tür des Feuerloches stand weit offen.
Dr. Laduner war nicht tot. Nur betäubt. Studer ließ ihn vorläufig liegen. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er in das Ofenloch. Eine lederne Aktenmappe… Daneben halb verkohlte Papiere. Vorsichtig zog Studer sie heraus.
Auf den unverbrannten Blattresten konnte er Worte entziffern: »Pfleger Knuchel gibt an, er habe von Pfleger Blaser erfahren, daß Gilgen ein Paar Unterhosen im Schaft…«
Der Rest fehlte.
Auf einem andern Blatt stand:
»Schäfer Arnold † 25. VIII: Embolie. U 1.
Vuillemin Maurice † 26. VIII. Typhus exanthematosus. U 1.
Mosimann Fritz † 26. VIII. Allgemeiner Schwächezustand, Herzkollaps. U 1.«
Die Liste der Toten, die sich der Direktor angelegt hatte. Aber da war ein Blatt, fast unverkohlt…
»Sehr geehrter Herr Oberst,
In Beantwortung Ihres Schreibens vom 26.VIII. a. ct. teile ich Ihnen mit, daß ich die von Ihnen gewünschte Untersuchung vorgenommen habe. Ihr Sohn hat in letzter Zeit wieder dem Alkoholgenuß gefrönt, und gelang es mir persönlich, ihn zweimal in einer Wirtschaft in halbbetrunkenem Zustande zu betreffen. Es scheint mir, daß die von Dr. Laduner eingeleitete Kur wirkungslos bleibt, und erlaube ich mir, Sie zu bitten, die nötigen Schritte zu unternehmen, um besagte Kur zu unterbrechen…«
»Danke«, sagte eine Stimme neben Studer. Der Wachtmeister wandte sich um. Dr. Laduner stand lächelnd neben ihm, nahm ihm die Blätter aus der Hand, steckte sie in den Ofen zurück, entzündete ein Streichholz. Dann flackerten die Papiere auf. Dr. Laduner holte Holz, eine Wädele, legte zuerst dünnes Holz auf das brennende Papier, dann dickeres, schließlich die Ledermappe zuoberst… »Wir wollen die Vergangenheit verbrennen«, sagte Dr. Laduner.
Einen Augenblick glaubte Studer, er träume noch immer. Aber dann sah er, wie eine fleckige Blässe Dr. Laduners sonst braunes Gesicht überzog, wie der Arzt wankte. Studer stützte ihn. Der Mann war schwer…
»Wer hat euch niedergeschlagen, Herr Doktor?«
Laduner schloß die Augen, er wollte nicht antworten.
»Und«, fuhr Studer fort, »das war nicht recht, mir ein Schlafmittel in den Schnaps zu schütten… Warum habt ihr das getan? Ich bin doch da, um euch zu schützen… Und das kann ich doch nicht, wenn ihr mich einschläfert…«
Laduner öffnete die Augen.
»Sie werden später schon noch alles verstehen… Vielleicht hätte ich mehr Vertrauen zu Ihnen haben sollen… Aber es ging nicht…«
Dr. Laduner hatte eine Beule am Hinterkopf, sie war sichtbar unter der Haarsträhne, die wie der Kopfputz eines Reihers abstand, und Blut sickerte darunter hervor…
»Ich will ein wenig abhocken«, sagte Dr. Laduner mit müder Stimme. »Ein wenig Wasser, wenn dr weit so gut sy…« Er parodierte lächelnd den Oberpfleger Weyrauch…
Studer trat aus der Heizung und ging bis zum B, denn es war die einzige Abteilung, die er kannte. Dort brach er in die Küche im Parterre ein, fand einen Milchhafen, der zwei Liter faßte, füllte ihn mit Wasser und machte sich auf den Rückweg. Unterwegs, im Sous-sol, traf er einen Mann, der in der Dunkelheit herumschlich. Studer sah ihn erst, als er das Licht anknipste. Da blieb der Mann stehen, er war untersetzt, muskulös… Vielleicht ein Pfleger, der von einem kleinen Liebesausflug zurückkam…
Der gedrungene Mann fragte, was denn los sei.
– Das gehe ihn nichts an, antwortete Studer mürrisch. – Ob dem Dr. Laduner etwas passiert sei? – Nein, er sei ein wenig sturm, sonst nichts.
Der Mann atmete auf, wie erlöst. Aber als Studer ihn fassen wollte, um ihn weiter auszufragen, war der Mann in einem dunklen Seitengang verschwunden, und auch er mußte Finken tragen, denn seine Schritte waren unhörbar…
Studer wusch Dr. Laduners Wunde aus, verband sie mit seinem sauberen Taschentuch. Dann führte er ihn vorsichtig über den Hof, die Treppen hinauf…
Es war günstig, daß der Nachtwächter schon seine Runde gemacht hatte.
Im Türmchen der Anstalt schlug der Hammer vier Schläge und dann, kaum süßer, noch drei Schläge. Der letzte hallte scheppernd nach.
»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner vorwurfsvoll. Sie trug ihren roten Schlafrock. Studer half ihr, Dr. Laduner ins Bett zu legen. Dann empfahl er sich und wünschte gute Nacht. Es freute ihn, daß Frau Laduner ihm dankbar nachblickte…
In seinem Zimmer angekommen, mußte er plötzlich an die Szene in der Erziehungsanstalt des Herrn Eichhorn in Oberhollabrunn denken.
Es schien manchmal doch mit Gefahren verbunden zu sein, Proteste ablaufen zu lassen, dachte er. Und ganz verschwommen sah er zum erstenmal etwas, das, übertragen, einem Fadenende glich; jenes Ende des Fadens, das man braucht, um ein Gewirr aufzudröseln… Aber er konnte es noch nicht fassen… er sah seine Farbe, weiter nichts… Vielleicht war auch sein schlafsturmer Kopf an diesem Versagen schuld…
Sonntägliches Schattenspiel
Es war günstig, daß Dr. Laduner an diesem Sonntag keinen Dienst hatte. So konnte er im Bett bleiben und seinem schmerzenden Kopf Ruhe gönnen. Zwar auch Studers Kopf brummte, aber die Spannung, das Interesse an der Anstalt Randlingen war stärker als die Migräne, die ihn plagte… Donnerstag, Freitag, Samstag – drei Tage… Man mußte zu einem Ende kommen. Sonst – sonst kam man auch unter die Herrschaft Mattos.
Studer dachte an den Traum der letzten Nacht, als er gegen zehn Uhr früh über die Abteilungen spazierte. Die Visite war schon vorüber, wie er erfuhr. Die baltische Dame hatte im Laufschritt die Abteilungen passiert. Studer hatte ihre Rückkehr gesehen, als sie allein, in weißwehendem Mantel, über den Hof in den Mittelbau galoppiert war…
Nun stand er im K, in der Abteilung, in der jene lagen, die nicht nur am Geiste, sondern auch am Körper krank waren. Und Studer suchte nach dem Pfleger Knuchel, dem Dirigenten der Randlinger Blasmusik, der ja auf dem K Dienst tun mußte. Er wußte nicht, warum er ihn suchte, warum er ihn zu sehen begehrte, aber es war ihm, als müsse er mit dem Mann sprechen, um mit ihm die Schuld zu teilen, die er sich zumaß am Tode des kleinen rothaarigen Gilgen…
Die Patienten, die in den Betten lagen, waren meist sehr still. Sie blickten mit großen, leeren Augen zur Decke, nur in einer Ecke lag einer, der mit zahnlosem Munde immer die gleichen Worte plapperte: »Zweihunderttausend Rinder, zweihunderttausend