Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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die Unterhose… Die Unterhose konnte in der Wäsche verwechselt worden sein, und die Schuhe? Ich habe immer den Verdacht gehabt, man hat sie ihm hingestellt, und am Morgen, wenn man zur Feldarbeit geht, ist man pressiert, da schaut man nicht erst lange… Aber Gilgen konnte sich nicht verteidigen… Er schwieg…«

      »Ja«, sagte Studer seufzend, »schweigen konnte er…«

      »Und dann müßt ihr bedenken: seine Frau krank, Schulden, Sorgen, seine Kinder bei fremden Leuten… Es gibt doch viel Gemeinheit auf der Welt… Der kleine Gilgen hatte niemandem etwas getan… Daß er mit der Blasmusik nicht einverstanden war, das konnte man ihm doch nicht übelnehmen… Aber man nahm es ihm übel… Man ging ihn verrätschen… Das Protokoll wurde vom Direktor drei Tage vor der ›Sichlete‹ aufgenommen… Er wollte es an die Aufsichtskommission schicken und die Entlassung Gilgens beantragen…

      Wenn die andere Partei ihre Spione hat, so habe ich auch die meinen… Am Abend erfuhr ich von der Sache. Gegen sechs Uhr. Ich darf daheim schlafen… Diese Nacht bin ich in der Anstalt geblieben, ich bin von halb sieben bis elf Uhr herumgelaufen, von einer Abteilung in die andere… Ich habe geredet… Wir müssen zusammenhalten, habe ich gesagt, es kann jedem von uns das gleiche passieren, denkt doch, es geht um unsere Freiheit… Die Leute blieben taub. Hatten Ausreden. Am nächsten Tag machte ich weiter… Ich ging schärfer vor. – Wenn der Gilgen entlassen wird, sagte ich, so proklamieren wir den Streik… Das war eine Dummheit, wenn ihr wollt… Denn der ›Sumpf‹, der ›Sumpf‹ wollte nicht mitmachen… Die Frösche im Sumpf sind schreckhaft, sie verkriechen sich im Schlamm, wenn einer am Ufer vorübergeht, und erst, wenn es wieder still geworden ist, dann quaken sie… Jetzt, nachdem der Direktor tot ist, quaken die Frösche sehr laut… Sie wissen, unter dem Dr. Laduner wird andere Luft wehen…

      So kam der Tag vor der Sichlete heran… Ich hatte erfahren, daß der Direktor von meinem Streikprojekt wußte… Es konnte auch mir den Kragen kosten, aber ich hatte keine Angst. Ich konnte immer wieder Arbeit finden, im Spital hatten sie mich ungern gehen lassen… Mit dem Gilgen war es etwas anderes… Ich hab' das Telephon abgenommen an jenem Abend und den Direktor gerufen…«

      Studer saß vorgeneigt, die Unterarme auf den Schenkeln. Jetzt hob er den Kopf:

      »Eine Frage, Jutzeler, habt ihr die Stimme im Telephon nicht erkannt?«

      Pause, lange Pause. Jutzeler runzelte die Stirn. Dann sprach er weiter, so, als habe der Wachtmeister überhaupt keine Frage gestellt…

      »Als der Direktor vom Telephon zurückkam, hielt ich ihn an. Ich müsse ihn heut abend noch sprechen, sagte ich. Er sah mich spöttisch an: ›Pressiert's auf einmal?‹ – Ich blieb ruhig und sagte nur ›Ja‹. Dann, meinte er, solle ich um halb eins vor dem Büro warten. Er ließ mich stehen.

      Ich habe gewartet, nicht lange. Dann kam er. Wir gingen ins Büro. Ich verlangte die Protokolle zu sehen, er lachte mich aus. Da hab' ich ausgepackt und gedroht. Ich werde ihn in die Zeitung bringen, hab' ich gesagt, es sei eine Sauerei, wie er mit dem Pflegepersonal umgehe! Ich hab' ihm seine Liebeleien vorgehalten… Da hat er auch angefangen zu brüllen, er werde mir schon das Handwerk legen, er werde mich auf die Schwarze Liste setzen lassen, ich sei entlassen, und er werde schon dafür sorgen, daß ich keine Arbeit mehr bekäme. Ich sprach immer nur von den Protokollen… Schließlich sei die Sache mit Gilgen auf dem B passiert, wo ich Abteiliger sei, ich hätte das Recht, Einblick zu verlangen in die Aussagen. Das Ganze sei gegen mich gerichtet, aber ich wisse, daß Dr. Laduner auf meiner Seite stehe… Das hätte ich nicht sagen sollen, denn da hakte er ein… Mit dem Dr. Laduner, sagte er, habe er auch noch eine Rechnung zu begleichen, ob ich wisse, wieviel Patienten in den letzten Tagen auf dem U 1 gestorben seien? Er habe sich eine Liste anfertigen lassen, und auch diese Liste werde er der Aufsichtskommission unterbreiten, damit sie sehe, wie ein Arzt hause… Während er Direktor gewesen sei, sei die Sterblichkeit immer klein gewesen in der Anstalt, erst seit man mit all den modernen Manövern begonnen habe, gebe es so viele Tote. Er habe die Sektionsprotokolle, die Dr. Blumenstein gemacht habe, nachgeprüft, es stimme nicht alles. Er habe selbst zwei Fälle noch nachuntersucht und Blutproben ans Gerichtsmedizinische geschickt. Er warte nur noch auf das Resultat, dann werde er auch gegen Dr. Laduner vorgehen, der Herr gehe ihm schon lange auf die Nerven, alle Ärzte, alle Assistenten habe er ihm abspenstig gemacht – vorläufig aber sei er, Ulrich Borstli, noch Direktor der Irrenanstalt Randlingen, und da könne auch der große Dr. Laduner nichts machen mit all seiner Weisheit und all seinem Einfluß und all seiner Diplomatie… Hier seien die Sektionsprotokolle – und er klopfte auf den Schreibtisch – und hier seien auch die Aufzeichnungen, die Gilgen beträfen… Und ich solle machen, daß ich zum Teufel käme…

      Wir gingen zusammen hinaus. Ich blieb in einer dunklen Ecke des Ganges stehen, der Direktor ging in seine Wohnung, kam wieder herunter und hatte seinen Lodenkragen umgehängt. Bevor er in den Hof hinaustrat, löschte er das Licht im Gang… Und nun habe ich eine Dummheit gemacht, Wachtmeister; ich wollte die Protokolle sehen, die Gilgen betrafen, aber lieber noch die Sektionsprotokolle… Ich fand, es sei meine Pflicht, sie Dr. Laduner zu bringen, damit er sich wehren könne. Und so ging ich wieder ins Büro zurück. Ich zündete das Licht an, suchte in allen Schreibtischschubladen und fand nichts.

      Da hörte ich Schritte vor der Türe. Ich drehte schnell das Licht ab, denn ich wollte doch nicht im Direktionsbüro überrascht werden wie ein Dieb.

      Die Tür ging auf, eine Hand wollte den Lichtschalter andrehen, ich packte die Hand. Und dann gab es einen stummen Ringkampf im Büro. Die Schreibmaschine fiel zu Boden, eine Scheibe klirrte. Endlich hatte ich den Mann auf dem Boden… Und dann machte ich mich davon… Ich ging zum Gilgen, der war noch auf, er hatte in dieser Nacht Dienst, aber er war nicht an der ›Sichlete‹ gewesen. Er saß hier auf dem Bettrand. Ich sagte zum Gilgen, er solle den Mut nicht verlieren, wir wüßten ja jetzt, was los sei. Am nächsten Morgen wollte ich mit Dr. Laduner sprechen… – Aber inzwischen war mancherlei passiert…«

      »Wie ihr aufs B zurückgegangen seid, Jutzeler, habt ihr da niemanden getroffen?«

      Jutzeler wich aus. Er sagte:

      »Es schlug zwei Uhr, als ich über den Hof ging.«

      »Einen Schrei habt ihr nicht gehört?«

      »Nein…«

      »Gut«, sagte Studer. »Und mehr habt ihr wohl nicht zu sagen…«

      Jutzeler dachte eine Weile nach, kratzte sich in den Haaren, schüttelte den Kopf, lächelte und meinte:

      »Wenn ihr noch etwas über uns erfahren wollt, über uns Wärter, wie man früher sagte, über uns Pfleger, wie man uns heute nennt, so könnte ich noch lange erzählen… Von den langen Tagen und der Zeit, die dahinschleicht, weil man fast nichts zu tun hat; man steht herum, die Hände im Schürzenlatz, und beaufsichtigt und serviert das Essen, beaufsichtigt wieder und ›hütet‹ im Garten und kommt wieder herauf… Und ißt… Das Essen spielt eine große Rolle, nicht nur bei den Patienten, auch bei uns, den Pflegern. Wir wissen das Menü auf Wochen voraus: den Mais am Montag, den Reis am Mittwoch, die Makkaroni am Freitag und die Samstagswurst. Wir wissen, wann es Rösti gibt am Morgen, und wann Anken… Wir gehen über den Hof, und wir haben uns einen besonderen Schritt angewöhnt, langsam, langsam, damit die Zeit vergeht… Wir heiraten, damit wir wenigstens in der Nacht irgendwo daheim sind… Wir spüren es, wenn das Wetter ändert, dann sind unsere Schützlinge gereizt und wir auch… Wir ziehen Lohn, nicht viel… Manche bauen sich ein Hüüsli und haben dann Schulden abzuzahlen. Es ist, als ob sie Sehnsucht hätten nach Sorgen, nur um die Leere der Tage auszufüllen… Wir stehen herum und warten, daß der Tag herumgeht… Man gibt uns Kurse, aber wir dürfen keine Verantwortung tragen… Für jedes Aspirin, für jedes Bad müssen wir fragen… Warum gibt man uns Kurse, wenn wir doch nicht verwerten dürfen, was man uns gelehrt hat?… Kurse! Meine Kollegen, die vor zwei Jahren das Diplom gemacht haben, was wissen die heute noch? Nichts… Ich hab's ein wenig besser, ich lese, und dann erklärt mir Dr. Laduner, was ich nicht weiß… Aber es ist so hoffnungslos. Was nützt es schon, daß ich eine Diagnose besser stellen kann als ein Assistent, der eben eingetreten ist?… Ich muß zuschauen, was der Assistent, der Neuville zum Beispiel, für Dummheiten macht, wie er mit einem