Boden hinein.
»Danke, Herr Doktor«, sagte er. Rauh war die Stimme, aber doch deutlich. »Es geit vill besser. Chan i bald wieder hei?« Er stieß sich mit den Händen ab, stand aufrecht und blickte erwartungsvoll in Laduners Gesicht.
– Ob er es denn hier nicht besser habe als daheim bei den Brüdern? fragte Laduner.
Der Mann besann sich, ließ sich wieder auf alle viere nieder, und in dieser Stellung sagte er, mit der gleichen rauhen Stimme, er wolle die Freiheit, denn er müsse doch im Stalle arbeiten.
»Noch ein wenig Geduld, Leibundgut; ihr müßt zuerst ganz gesund werden und sprechen können, wie andere Leute auch.« Trauriges Kopf schütteln. Dann kam die Antwort, wieder gegen den Boden gesprochen, auf allen vieren: Das werde er nie mehr können.
»Geht an die Arbeit«, sagte Laduner freundlich. Und der Mann ging fort, mit gesenktem Kopf.
Laduners Gesicht war traurig. Er faßte Studer wieder am Arm und zog ihn zu einer Bank.
»Leibundgut Fritz, aus Gerzenstein, dreiundvierzig Jahre alt. Bewirtschaftet zusammen mit drei Brüdern ein mittelgroßes Heimetli… Er ist der Schwächste, nicht sehr gescheit. Aber gutmütig. Die Eltern sind gestorben. Die vier Brüder sind Junggesellen geblieben… Fritz muß schaffen, er ist nicht faul, aber er ist so gutmütig, daß er nie Geld verlangt, nie ins Wirtshaus geht, sondern immer daheim hockt. Sicher hat er nie eine Liebschaft gehabt. Die Brüder sind Sonderlinge. Sie quälen ihn nicht gerade, aber sie tyrannisieren ihn. Er läßt sich alles gefallen. In einer Winternacht vor sieben Monaten kommen sie zu dritt angeheitert heim. Fritz hat den Stall nicht ganz sauber geputzt. Sie holen ihn aus dem Bett, prügeln ihn, schmeißen ihn in den Brunnentrog, ziehen ihn wieder heraus, schlagen ihn noch einmal, lassen ihn dann liegen. Wenn er später ins Haus kriechen will, ist die Türe versperrt. Er bleibt die ganze Nacht draußen. Da er robust ist, wird er nicht krank.
Aber von diesem Tage an kann er zu niemandem mehr sprechen, wenn er auf zwei Beinen ›aufrecht‹ steht. Er kann erst sprechen, wenn er sich gegen den Boden neigt und auf allen vieren hockt. Er ist sonst nicht geisteskrank, nur eben, er kann nicht mehr sprechen, wenn er aufrecht steht… Es ist doch klar, was der Mann in einer simplen Bildersprache ausdrücken will: Ihr habt mich wie einen Hund behandelt, also bleibe ich ein Hund… Ich rede nur, wenn ich auf allen vieren bin. – Klar! Nicht? – Und das Merkwürdigste ist, daß wir den Mann in den nächsten Tagen entlassen werden, ungeheilt natürlich. Die Brüder weigern sich, weiter für ihn zu zahlen; der Älteste hat mir gesagt, es sei ihm ganz gleich, wenn der Fritz aufrecht nicht sprechen könne, wenn er nur ›wärche‹… Und der Leibundgut Fritz ist fleißig. Er hat nichts dagegen, zu seinen Brüdern zurückzukehren. Die Freiheit ist ihm wichtiger als ein gutes Bett, eine anständige Behandlung… Denn die Brüder sind Menschen und keine Verrückten. Und die Menschen, das wissen Sie ja, die Menschen sind…« – und Laduner wiederholte das Wortspiel – »die Menschen sind – lieb und gut…«
Schweigen. Laduner drehte ein gelbes Ahornblatt zwischen Daumen und Zeigefinger. Er starrte auf den Holzzaun, der den Garten des U 1 begrenzte.
»Nicht nur der Körper kann verbogen werden, auch die Seele. Den Herbert Caplaun soll ich auch geradebiegen. Er kann nur auf allen vieren überlegen, handeln, denken, fühlen… Früher hat man die Leute zur Strafe krumm geschlossen. Die Seele des Herbert Caplaun ist in der Jugend auch krumm geschlossen worden… Mehr kann ich Ihnen nicht sagen… Sie haben ja den Herrn Obersten gesehen… Und dann ist alles andere nicht schwer zu verstehen… Beim Herbert Caplaun gebe ich mir Mühe, weil ich glaube, ich könne wirklich etwas wieder gutmachen… Durch Sachlichkeit. Bei Leibundgut kann ich nichts ändern. Es ist gefährlich, zuviel ändern zu wollen. Die Seelen, die uns zugeführt werden, sind oft nicht anders als verrumpfelte Kleider… Und ich habe mir oft vorgestellt«, meinte Laduner mit einem schwachen Versuch, zu scherzen, »wir seien eine große Dampfbügelanstalt… Wir dämpfen die Seelen auf…«
Schweigen. Das Brünnlein stotterte laut.
»Der Herbert Caplaun«, sagte Dr. Laduner sorgenvoll.
Und Studer war es, als liege aufgeschlagen auf seinen Knieen ein Buch. Er las mühelos:
»… ist gefühlsmäßig am Schicksal seines Kranken beteiligt. Daraus entsteht die Gefahr einer zu lebhaften Gegenbindung an den Patienten…«
Wissenschaftlich formuliert! Der Ausspruch wirkte überzeugend.
Aber wie machte man das in der Praxis?
Gegenbindung! Ein prägnantes Wort!…
Aber wie kam man gegen das Gefühl auf?
Studer fragte nicht, sondern starrte auf den körnigen Kies, den die Sonne beschien.
Und doch hätte Studer vieles fragen wollen: ›Was machten Sie im Gang des R in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag? Was wissen Sie vom Verbleib des Demonstrationsobjektes Pieterlen, und wo haben Sie den Herbert Caplaun versteckt?‹
Aber der Wachtmeister schwieg. Er kam sich vor wie ein Bankdirektor, der, schweren Herzens und nur aus Mitleid, einem guten Freunde einen hohen Kredit gewährt hat und nun schlaflose Nächte verbringt, weil er nicht weiß, ob der Freund solvent ist oder doch vielleicht nächstens den Konkurs ansagen wird….
Einbruch
Später dachte Studer oft, nichts sei verwirrender, als wenn man an einem Fall persönlichen Anteil nehme. Hätte er, während der Unterredung mit dem Obersten Caplaun, nicht immer an den Entschluß gedacht, den er würde fassen müssen, so wäre ihm ein Satz aufgefallen: der Oberst hatte ihn nebenbei ausgesprochen, aber er gab so deutlich den Schlüssel des ganzen Geschehens, daß man wahrhaftig blind sein mußte, um diesen Passepartout nicht zu gebrauchen…
So verbrachte Studer eine schlaflose Nacht, weil er beschlossen hatte, sich Zeit zu lassen; aber seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe… Gedanken!… Es waren eher Bilder, die abrollten, verworren und ohne rechten Zusammenhang, und sie ähnelten einem jener modernen französischen Filme. Am quälendsten aber war die Handharpfe, die spielte…
Sie begann gedämpft gegen elf Uhr, und es ließ sich nicht feststellen, woher die Töne kamen. Bald spielte sie ganz leise und fast ohne Begleitung der Bässe: »Im Rosengarten von Sanssouci…«, einen alten Tango, und dann: »Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bißchen Glück, irgendwo, irgendwie, irgendwann…«, ein schluchzendes Stück…
Manchmal war Studer überzeugt, der unsichtbare Musikant müsse gerade über seinem Zimmer spielen, er wollte aufstehen und nachsehen, aber dann blieb er doch liegen… Immer wieder schien es ihm, daß in dem vorliegenden Fall mit den gewohnten kriminalistischen Methoden nichts auszurichten sei, daß man stillhalten und auf den Zufall passen müsse…
So lauschte Studer dem geheimnisvollen Handharpfenspiel (er war übermüdet: die schlaflose Nacht und die vielen fremdartigen Eindrücke) – und es war nicht zu vermeiden, daß ihm schließlich doch wieder Pieterlen einfiel, der an der Sichlete zum Tanz aufgespielt hatte und nachher verschwunden war mitsamt seinem Instrument.
Und noch etwas plagte Studer in dieser Nacht. Er hatte am Nachmittag Pfleger Gilgen aufsuchen wollen, aber der hatte Ausgang gehabt.
Endlich brach der Morgen an, ein früher Herbstmorgen mit Regenrieseln, grauem Nebel und feuchter Kälte. Studer konnte sich nicht entschließen, Dr. Laduners Wohnung zu verlassen. Es war der für das Begräbnis des alten Direktors festgesetzte Tag, im Mittelbau war Hochbetrieb, wenn man dies so nennen durfte, und als einmal Studer den Versuch machte, das Stiegenhaus zu betreten und die Stufen hinunterzusteigen, machte er auf dem Absatz über dem ersten Stock halt. Damen in schwarzen Schleiern standen in der offenen Tür jener Wohnung, in der ein alter Mann zusammen mit der Einsamkeit gehaust hatte, Herren in schwarzen Gehröcken gingen hin und wieder, es roch nach Blumenkränzen – Studer trat den Rückzug an. Frau Laduner hatte verweinte Augen, als er ihr im Gang begegnete – ging ihr der Tod