ja, ich werde zum Schluß kommen. Ich habe Herrn Wachtmeister Studer nur eines zu fragen: Gedenkt er den mysteriösen Unglücksfall, dem der langjährige Direktor dieser Anstalt, mein Freund Ulrich Borstli, zum Opfer gefallen ist, gewissenhaft aufzuklären, oder ist er gewillt, sich von Herrn Dr. Laduner, dem stellvertretenden Direktor« (die beiden Worte klangen besonders giftig), »So beeinflussen zu lassen, daß er seine Untersuchung in eine Richtung lenkt, die einer Vertuschung gleichkommen würde… Oder ist er gewillt, nach bestem Wissen und Gewissen…«
Pause. Dem Herrn Oberst schien plötzlich etwas eingefallen zu sein, denn er beugte sich vor, musterte Studer aufmerksam mit seinen großen, rotgeäderten Augen – die Iris war von einem unangenehmen Blau, wie bei einer siamesischen Katze –, nickte dann, als sei ihm etwas eingefallen, und mit ganz sanfter Stimme fuhr er fort und senkte seine Blicke nicht mehr:
»Hören Sie, Herr Wachtmeister Studer, ich erinnere mich jetzt an Sie. Es ist Ihnen einmal bitteres Unrecht geschehen. Aber es waren damals so große Interessen im Spiel, daß ich unmöglich anders handeln konnte… Wollen wir zu einer Einigung gelangen? Ich lasse Ihnen Ferien geben, Sie suchen meinen Sohn, dessen Verbleib ein gewisser Seelenarzt mir nicht verraten will, und Sie beruhigen ein schmerzendes Vaterherz. Die Untersuchung hier werde ich in andere Hände legen lassen – übrigens, geht das an, daß Sie bei einem Arzte wohnen, der an den Vorkommnissen beteiligt ist? –, in die Hände eines Unvoreingenommenen… Finden Sie meinen Sohn, so werde ich mein möglichstes tun, Ihnen Ihren weitern Lebensweg angenehm zu gestalten. Sie wissen, ich bin nicht ohne Einfluß…« die Rechte faßte den Bart am Kinn und ließ ihn sanft durch die geschlossene Hand gleiten, »und Sie können versichert sein… Nun?«
Schweigen. Erwartungsvolles Schweigen. Dr. Laduner blickte angestrengt auf seine Kniee. Studer seufzte. Das war gar nicht so einfach… Diese Irrenhausgeschichte war eine ganz verkachelte Angelegenheit, war es nicht wirklich besser, man ließ die Finger davon?… Gefühle! Mit Gefühlen kam man nicht weiter, auch wenn sie verlockende Formen annahmen wie etwa: der ältere Bruder, der seinen Benjamin schützen will… Einmal schon hatte es einem den Kragen gekostet, weil man dem Herrn Obersten zu nahe getreten war… Noch einmal von vorne anfangen?… Mit fünfzig Jahren?… Das wollte überlegt sein. Studer sog angestrengt an seiner Brissago, behielt den Rauch lange im Munde, stieß ihn nur widerwillig aus…
Einerseits: Man gab die Untersuchung auf, überlieferte die Brieftasche (schade, daß man den Sandsack nicht mehr hatte) zusammen mit den Beobachtungen über Pieterlen und den nächtlichen Ausflug Dr. Laduners in den Sous-sol-Gang vom R seinem Nachfolger, widmete sich dem Auffinden Herbert Caplauns… Dann war man gedeckt, ja ›gedeckt‹. Dann ging man in mindestens fünf Jahren als Polizeileutnant in Pension… Gut und schön, und die Frau würde sich freuen. Den Herrn Obersten würde niemand nach Thorberg bringen, trotz des kantonalen Polizeidirektors frommen Wunsche… Anderseits, man half dem Dr. Laduner, man gewann nichts dabei, im Gegenteil, man konnte sich wüscht blamieren, man hatte dann den Herrn Obersten auf dem Buckel.
»Nun?« fragte Caplaun zum zweiten Male.
Polizeileutnant… Pension… Gratifikation… Gratifikation!… Der Herr Oberst war reich…
Aber da war zuerst die Anrede: »Sie dort… ja… Sie meine ich…« und die Bankaffäre… Und da war zweitens ein Lied, das begann: ›Plaisir d'amour…‹ und ein anderes, das die gleiche Stimme gesungen hatte: ›Si le roi m'avait donné Paris sa grand'ville…‹ Warum gaben die zwei Lieder den Ausschlag? Oder die Frau, die sie gesungen hatte? Logisch läßt sich ein Entschluß nie erklären… Genug, Studer sagte plötzlich und wandte sich an Dr. Laduner:
»Wissen Sie, wo sich der Herbert aufhält?« Er vergaß sogar das ›Ihr‹.
Laduner nickte schweigend.
»Dann«, sagte Studer, stand auf und reckte sich. »Dann muß ich leider das freundliche Anerbieten des Herrn Obersten ablehnen…«
»So… gut… ich verstehe… Ich werde die Konsequenzen zu ziehen wissen…«
Am liebsten hätte Studer dem Herrn Obersten geantwortet, er könne ihm in die Schuhe blasen. Aber das schickte sich nicht. So verbeugte er sich nur. Dr. Laduner erhob sich, öffnete die Tür…
Wie klein war doch der Herr Oberst!… Er hatte kurze Beine, die ein wenig nach außen gebogen waren. Draußen setzte er einen Panamahut mit rot-weißem Band auf, hing einen Regenschirm an seinen Arm und verschwand ohne Abschied durch die Gangtür. Der Panamahut und der Regenschirm! dachte Studer. Sie vervollständigten noch das Bild des Mannes.
»Isch er furt?« fragte Frau Laduner. Sie war bleich. Und ob der Wachtmeister bleibe. Sie schien gehorcht zu haben.
»Studer bleibt bei uns« sagte Laduner kurz und blickte in eine Ecke. »Ich schick ihn dir zum Tee hinauf. Du kannst ihm dann etwas vorsingen, Greti, er hat's verdient…«
Studer sah den Arzt mit offenem Munde an… War das ein Zufall, oder konnte der Herr Psychiater Gedanken lesen?
Laduner zog seinen Rock aus, holte draußen seinen weißen Arztmantel.
»Kommen Sie, Studer, ich will Ihnen etwas zeigen…«
Als sie über den Hof gingen, fühlte Studer plötzlich Laduners Hand, die seinen Oberarm packte und drückte. Dann ließ der Druck nach, doch die Hand blieb. Und so, sanft geführt, legte Studer den Weg zurück bis zur Tür des U 1. Er fürchtete die Facettenaugen nicht mehr, er beugte auch nicht den Kopf, als er unter dem Fenster vorbeiging, aus dem, nach Schüls Behauptung, Matto vorschnellte und zurück… Studer war zufrieden… Schließlich, ein Dank braucht ja nicht immer in Worten ausgedrückt zu werden… Man kann sich auch sonst verständigen…
Lieb und gut
»Hier morde ich also meine Patienten«, sagte Dr. Laduner und schloß die Türe zum U 1 auf. »Aber nicht meine Opfer will ich Ihnen zeigen, sondern etwas anderes.« Ein kahler Saal. Holztische, alt, rauh, fettig. Niedere Bänke ohne Lehne. Eine Tür stand offen gegen den Garten. Man war im Parterre.
An den Tischen saßen Männer und zupften an verfilzten Roßhaaren. Ihre Augen waren leer. Manchmal schnellte einer auf, tat, als ob er eine Fliege fangen müsse, sprang hoch in die Luft, kreischte, fiel zu Boden. Ein anderer schlich um Studer herum, näherte sich, seine Augen waren starr, und dann begann er mit flüsternder Stimme und in ganz selbstverständlichem Tone so unglaubliche Obszönitäten zu erzählen, daß Studer unwillkürlich zurückwich. Manche plapperten, es gab eine kleine Schlägerei, die von einem Manne in weißem Schurz besänftigt wurde. »Schwertfeger!« rief Dr. Laduner. Der Mann im weißen Schurz kam näher. Er war klein, mit gut entwickelten Armmuskeln und sah wie ein Melker aus…
»Das ist der Abteiliger vom U 1« stellte Laduner vor. »Und vom Wachtmeister Studer habt ihr doch schon gehört? Bringet mir den Leibundgut…«
Er zog Studer zur Gartentür, trat hinaus.
»Das wird dann noch geändert«, sagte er und zeigte in den Saal zurück. »Frisch gestrichen: bunte Bänke hinein, Bilder an die Wände… Aber man kann nicht alles auf einmal machen lassen. Übrigens, Studer, wenn ich Ihnen nun den Leibundgut vorstelle, so geschieht es nur, um Ihnen den Fall Caplaun deutlich zu machen… Sie werden mich schon verstehen… Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Studer… Leibundgut – im Dialekt spricht man es aus wie ›lieb und gut‹…«
Sie gingen um ein vertrampeltes Rasenstück, kamen zu einem Brünnlein, das Wasser stotterte. Die Blätter der Ahornbäume waren traurig, und die Sonne, zwischen Wolken, schien sehr heiß…
Schwertfeger kam mit einem Mann zurück, der ein verzerrtes Maul hatte. Und seine Augen blickten so grauenhaft angstvoll, daß es Studer fröstelte.
»Guete Tag, Liebundgut«, sagte Laduner freundlich. »Wie gaht's Ihne?« Man sah, daß der Mann sich Mühe gab, zu antworten. Die Lider klappten, der Mund arbeitete, aber er brachte