weil der früher bei der Partei gewesen war. Und wie er das Wort ›Partei‹ aussprach! Vielleicht sei er jetzt noch dabei. Auf alle Fälle habe er gegen den Willen des Direktors die Pfleger und Pflegerinnen der Anstalt organisieren wollen… Es sei ihm zwar nicht gelungen. Die meisten hätten sich dem Staatsangestelltenverband angeschlossen, der, man ja wisse, Pfarrer und Lehrer gruppiere… ja, gruppiere… also die staatserhaltenden Elemente… Während der Pfleger Jutzeler, der wie Dr. Laduner bei der Partei sei, versucht habe, die Angestellten zu organisieren. Zu or-ga-ni-sie-ren!… Aber die meisten Pfleger seien eben religiös gesinnte Leute, die dieses Vorgehen streng verurteilt hätten… Klassenkampf! In einer staatlichen Anstalt!… Warum nicht gleich einen Pflegerrat? Hä?…
Ja, er konnte reden, der Herr Fehlbaum, seine Stimme füllte die Stube, aber sie war doch ganz gut zu ertragen… einschläfernd… beruhigend… Im Gemeinderat hatte der Wirt und Metzger sicher großen Erfolg mit seinen Reden…
– Letzthin, das heißt vor zwei Tagen, habe sich der alte Direktor noch beklagt, daß der Jutzeler die Wärter zu einem Streik habe aufreizen wollen wegen einer dunklen Geschichte: Ein Wärter habe verschiedenes gestohlen, und der Direktor habe den Wärter entlassen wollen, aber Dr. Laduner sei anderer Ansicht gewesen… Wenn da nur nicht mehr dahinter stecke, als man meine!… Der Tod des Direktors sei vielen Leuten allzu kommod gekommen, denn gerade mit der Streikgeschichte, da wäre der Dr. Laduner bös abgefahren, oha lätz!… Nicht umsonst habe des Wirtes Fehlbaum Freund, der alte Direktor, gewissermaßen seinen Schwager zum Maschinenmeister gemacht. Der habe den Eintritt in den Staatsangestelltenverband durchgedrückt! Jawohl! Gegen den Jutzeler… Und geheimnisvoll beugte sich Herr Fehlbaum vor und flüsterte: er habe gehört, die Polizei sei schon in der Anstalt, um eine Untersuchung einzuleiten… Ob Dr. Neuville nichts Näheres wisse?…
Aber Dr. Neuville gähnte, er hatte kein Interesse an Politik, er hatte auch sonst nicht gerade viel Interesse, außer vielleicht an ein wenig Klatsch… Darum hatte er es auch wohl versäumt, den Wachtmeister vorzustellen. Nun mußte Dr. Neuville aber doch plötzlich lachen, als Studer seinen Namen und Beruf nannte… Der Wirt fuhr zurück, wurde höflich… Als ihm aber noch mitgeteilt wurde, daß das die Untersuchungen führende Polizeiorgan – übrigens sei der Tod des Direktors wirklich nur ein Unglücksfall gewesen – beim Dr. Laduner wohne, zog sich die Stütze der Bauernpartei gekränkt hinter seine Bierhahnen zurück…
Darauf machte sich Studer mit dem Assistenten Neuville auf den Rückweg, um das Mittagessen nicht zu verpassen. Er fand bei sich, der Wermut habe sich bezahlt gemacht…
Der Mittagstisch war besetzter als am Morgen. Neben Frau Laduner saß der Chaschperli und erzählte eine lange Geschichte von der Schule, die ziemlich verworren klang, aber sehr lustig zu sein schien, weil er dabei mit dem Suppenlöffel herumfuchtelte und laut lachte… ›Du hast es gut!‹ dachte Studer und begann zu essen…
Ihm gegenüber saß die Magd, die Jungfer, die heute morgen mit dem Staubsauger gesummt hatte… Ja, sie saß am Tisch, sie aß nicht in der Küche, sie aß mit der Familie. Der Wachtmeister stellte es erstaunt fest. Und noch etwas fiel ihm auf: Zwei- oder dreimal während des Essens richtete Dr. Laduner das Wort an das Mädchen. »Anna«, nannte er es. Und der Ton, mit dem er das Wort aussprach, unterschied sich in nichts vom Ton, mit dem er beispielsweise »Studer« oder »Blumenstein« oder »liebes Kind« sagte. Die Gleichheit der Menschen durch die Betonung der Namen zu unterstreichen – das war eigentlich ganz schön…
Auch das Mittagessen verlief nicht ganz ohne Störung. Während alle mit dem Dessert beschäftigt waren, läutete es draußen, Anna stand auf, kam wieder und meldete, der Herr Oberst Caplaun wünsche den Herrn Doktor dringend zu sprechen… Studer wurde bleich, der Pflaumenkuchen schmeckte ihm plötzlich nicht mehr. Dr. Laduner aber schmiß seine Serviette auf den Tisch, brummte Bösartiges und verschwand durch die Türe des Nebenzimmers…
Nachdem der Chaschperli das Zimmer verlassen hatte und auch das Mädchen fort war, erkundigte sich Studer mit belegter Stimme, was dieser Besuch zu bedeuten habe. Frau Doktor möge entschuldigen, wenn er aufdringlich sei, aber er nehme Anteil… Während er sprach, dachte er fortwährend: ›Der Feind ist in der Wohnung…‹ Dabei kannte er den Herrn Oberst Caplaun kaum, in der Bankaffäre war damals alles hinter den Kulissen vor sich gegangen, Oberst Caplaun hatte sich nie gezeigt…
»Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen«, sagte Frau Laduner. »Es ist eine böse Sache, die sich mein Mann da eingebrockt hat. Er ist viel zu gut. Er will überall helfen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Den Sohn habt ihr ja gesehen, den Herbert Caplaun…«
Studer nickte schweigend. Er lauschte dem Stimmengemurmel im Nebenzimmer. Fast ununterbrochen worgelte ein tiefer Baß. Dr. Laduners Stimme war selten zu hören.
Frau Laduner spielte mit ihrem Zwicker und starrte bedrückt aufs Tischtuch.
»Mein Mann hat den Herbert in die Analyse genommen, weil der Abteiliger Jutzeler ihn darum gebeten hat… Seine Frau ist weitläufig mit der verstorbenen Frau des Obersten verwandt… Der Herbert ist Musiker… Aber er hat zuviel getrunken, nicht gut getan, der Vater hat ihn einmal wollen versorgen lassen, und nur schwer hat mein Mann ihn von der Notwendigkeit einer Kur überzeugen können. Mein Mann macht sie ganz umsonst, zum Teil auch als Übung… nid wahr?… Es sind komplizierte Sachen, derartige Analysen… Gewöhnlich regen sich die Eltern der Patienten gruusig uuf… Denn, nid wahr, alle Kindheitserlebnisse werden erzählt, und die Eltern haben ja gewöhnlich ein schlechtes Gewissen, wenn es sich darum handelt, ihre Erziehungssünden aufzudecken…«
Analyse? Kindheitserlebnisse? Es war also doch nicht ganz das, was Studer sich darunter vorgestellt hatte, beeinflußt von dem Buche, das ihm seinerzeit der Notar Münch gezeigt hatte… Der Oberst Caplaun? Was hatte der Mann, den der kantonale Polizeidirektor so gerne in Thorberg wissen wollte, was hatte der Mann in der letzten Zeit getrieben? Es war etwas durchgesickert von Viehexportgeschäften, von Volksbank… Aber niemals war der Herr Oberst zu fassen gewesen… Und jetzt saß er also im Nebenzimmer, seine Baßstimme wurde immer lauter, einige Worte waren zu verstehen: »… unverantwortliches Benehmen… Behörde…« Dann wurde die Türe aufgerissen.
Studers Gewissenskonflikt
Ein weißer Patriarchenbart, die Gesichtshaut von ungesunder Blässe und mitten im Gesicht eine rote Gurkennase mit vielen Knospen und Knösplein. Im Bartgestrüpp öffnete sich der Mund und brüllte:
»Sie dort… ja… Sie meine ich… Sie sind ein Vertreter der Behörde, habe ich gehört. An Sie wende ich mich speziell. Ich brauche Ihre Unterstützung… Das Benehmen dieses Herrn ist unqualifizierbar… Kommen Sie mit!«
Man konnte mit Studer schriftdeutsch sprechen – er hatte nichts dagegen; man konnte ihm sackgrob kommen – er zuckte die Achseln; der Polizeihauptmann konnte ihn ansingen, anpfeifen – Studer schwieg, grinste vielleicht innerlich… Aber eines machte ihn böse, fuchtig, renitent, und das war, wenn ihn jemand mit: »Sie dort… ja… Sie meine ich…« anredete. Dann konnte er sogar gefährlich werden…
Er stand auf, legte die Hände aufs Tischtuch – und kein Mensch hätte ihm den einfachen Fahnderwachtmeister angemerkt, als er mit leiser Stimme höflich (und auch er bediente sich des Schriftdeutschen) fragte:
»Mit wem habe ich die Ehre?«
Der Herr Oberst mit dem Patriarchenbart schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Blitzschnell hatte er erfaßt, daß er sich im Ton vergriffen hatte, und gemütlich brummte er jetzt im tiefen Baß: »Aber, Wachtmeister… wie war doch Ihr Name… Studer!… ganz richtig! Studer! Also Herr Wachtmeister Studer, hören Sie einmal… Ich bin doch ein alter Freund Ihres Vorgesetzten, des Polizeidirektors, und der hat Sie immer zu rühmen gewußt, ›Der Studer‹, hat er gesagt, ›der ist einer meiner besten Fahnder.‹«
Merkwürdig, aber Studer lächelte nicht einmal. Der Herr Caplaun hatte also ganz den Kommissar an der Stadtpolizei vergessen, dem er das Genick gebrochen