Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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Dr. Laduner hatte Angst! Jawohl, Angst!… Wovor? Man durfte nicht fragen…

      Den Wachtmeister Studer von der Fahndungspolizei überkam ein seltsames Gefühl. In seinem langen Leben war es ihm nie eingefallen, über seine Gefühlsregungen nachzudenken. Meist handelte er nach dem Instinkt oder dann nach den Prinzipien der Kriminologie, wie sie seine Lehrer in Lyon und in Graz festgelegt hatten. Aber jetzt versuchte er sich Rechenschaft zu geben über das Gefühl, das er diesem Dr. Laduner entgegenbrachte; und er stellte fest, daß es Mitleid war. Vielleicht war der Aufenthalt in einer Anstalt an dieser Klarheit schuld – denn beschäftigte man sich hier nicht ausschließlich mit den Regungen des Gefühls- und Seelenlebens? Färbte das nicht ab? Genug: er fühlte Mitleid; aber eine besondere Art Mitleid. Es ließ sich schwer in Worte fassen…

      Brüderliches Mitleid war es, das man zu dem sonderbaren Menschen Laduner fühlte, fast eine Liebe, am ehesten jener zu vergleichen, die ein älterer Bruder, der wenig Erfolg gehabt im Leben, für seinen Benjamin fühlt, der klüger ist und groß und berühmt. Eben deshalb aber ist er von Gefahren bedroht, die gebannt werden müssen…

      Vor allem, und das sollte man festhalten, hatte Dr. Laduner sicher Angst vor einem Skandal, denn ein Skandal würde seine Wahl zum Direktor vereiteln…

      Studer lächelte, sagte tröstend:

      »Also: die Wahrheit suchen… Gut, Herr Doktor… Die Wahrheit für uns

      Und er betonte das ›uns‹.

      Es klopfte. Ein junges Mädchen meldete, der Pfleger Gilgen lasse fragen, ob er den Herrn Doktor sprechen könne… Sie habe ihn ins Arbeitszimmer geführt.

      »Gut«, sagte Laduner. Und er komme gleich.

      Dann blickte er einige Zeit in seine leere Tasse, als wolle er, wie eine Wahrsagerin, die Zukunft aus dem Kaffeesatz deuten, schließlich hob er wieder die Augen, sein Blick war ruhig. Und um seinen Mund lag der gleiche weiche Ausdruck wie am Abend zuvor, da er vom Demonstrationsobjekt Pieterlen gesprochen hatte…

      »Sie sind ein komischer Kerl, Studer«, sagte er. »Und Sie scheinen nicht vergessen zu haben, daß ich Ihnen Brot und Salz geboten habe…«

      »Vielleicht«, meinte Studer und blickte weg, denn er haßte gefühlvolles Gehaben. Darum begann er auch sogleich vom Pfleger Gilgen zu sprechen, der ihn gebeten hätte, beim Herrn Doktor ein gutes Wort für ihn einzulegen, da er entlassen werden solle…

      »Das kommt doch gar nicht in Frage!« sagte Laduner erstaunt. »Ist der Mann verrückt geworden? Mit dem Jutzeler ist der Gilgen mein bester Pfleger – ich möchte sogar sagen, der Gilgen ist der bessere… Der hat die Prüfung schlecht bestanden, aber was hat das zu sagen? Er kann mit den Leuten umgehen, er weiß mehr mit dem Instinkt als wir mit all unserer Wissenschaft… Das will ich ehrlich zugeben… Sie hätten den kleinen Gilgen sehen sollen, wie er einmal einen erregten Katatoniker beruhigt hat, der um zwei Köpfe größer war als er. Ganz allein. Ich bin zufällig dazugekommen… Sie haben doch schon Melker gesehen, die mit dem störrischsten Stier umzugehen wissen… Der Muni senkt die Hörner und will auf sie los, und sie locken. Ssä, ssä, ssä… Der kleine Gilgen sagte auch ssä, ssä zu dem Katatoniker… Und der Erregte wurde ruhig, er ließ sich ins Bad führen, und Gilgen blieb ganz allein bei ihm und redete mit ihm, obwohl der andere katzsturm war… Aber das störte den Gilgen nicht. Es gibt so Menschen, die ein Gefühl haben für Kranke… Nein, den Gilgen wollen wir behalten… Ich hab da dunkle Andeutungen gehört, er soll Patientenwäsche getragen haben, der Direktor war wütend letzte Woche, und der Jutzeler hat sich für seinen Kollegen eingesetzt – obwohl die Kollegialität hier unter den Pflegern ein Kapitel für sich ist… Schade, daß der kleine Gilgen Sorgen hat… Ich will mit ihm sprechen gehen…«

      Studer blieb sitzen, ließ sich von Frau Laduner bedienen, war zerstreut und hörte nur mit halbem Ohre zu. – Auf morgen sei das Begräbnis festgesetzt, nachher werde es ein wenig stiller, erzählte die Frau Doktor, und das werde gut sein für ihren Mann, der sei dermaßen überarbeitet…

      Aber, unterbrach sie sich, der Herr Studer sei sicher müde, sie habe so lachen müssen heute morgen, daß er im Bad eingeschlafen sei, ihrem Manne sei das auch schon zweimal passiert – und ob er nicht noch ein wenig abliegen wolle? Sie wolle schnell go luege, ob das Meitschi das Zimmer schon gemacht habe, inzwischen könne er ja ins Arbeitszimmer hinübergehen. Ihr Mann sei wahrscheinlich zum Rapport gegangen – sie stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer –,ja, Studer solle nur hineingehen, sich in einen bequemen Stuhl setzen, Bücher habe es genug… Und sein Zimmer werde bald fertig sein… Bald darauf erfüllte das eintönige Summen eines Staubsaugers die Wohnung.

      So stand Studer im Arbeitszimmer und blickte mit einer gewissen Scheu auf das Ruhebett, auf dem der Herbert Caplaun geweint hatte – die Tränen waren ihm über die Backen gerollt… Er dachte an Pieterlen und an die Sitzung vom gestrigen Abend… Heute war alles anders. Die Blumen des Pergamentschirmes hatten ihre leuchtende Farbe eingebüßt, genau wie der Schlafrock Frau Laduners…

      Studer schritt hin und wieder, blieb beim Büchergestell stehen, zog ein Buch heraus, dessen Rücken ein wenig vorstand, blätterte darin, las eine angestrichene Stelle: »… die psychogenreaktiven Symptome, die z. T. eine sekundäre Determination der primären Prozeßsymptome, etwa der Parästhesien…«, übersprang ein paar Worte dann: »… katatone Haltungen, Stereotypien, Halluzinationen, Dissoziationen…« – Das war chinesisch!… – blätterte weiter, fand eine andere Stelle, die angestrichen war. Der Wachtmeister begann zu lesen, wurde aufmerksam, hielt das Buch nahe an seine Augen, setzte sich. Er las die Stelle einmal, las sie ein zweites Mal, sah nach dem Titel des Buches und las die angestrichene Stelle zum drittenmal; diesmal murmelte er die Worte, die er las, vor sich hin, wie ein Schüler der ersten Klasse, der noch Mühe hat, das gedruckte Wortbild in seiner Bedeutung zu erfassen:

      »Der Psychotherapeut ist gefühlsmäßig am Schicksal seines Patienten beteiligt; daraus entsteht die Gefahr einer zu lebhaften Gegenbindung an den Patienten. Das Verhältnis Arzt-Patient kann sich auf die Ebene einer Freundschaft verschieben; geschieht dies, so hat der Arzt sein Spiel verloren. Denn es darf nie vergessen werden, daß jede seelische Behandlung sich in Form eines Kampfes abspielt. Eines Kampfes zwischen dem Arzt und der Krankheit. Soll dieser Kampf siegreich enden, so darf der Arzt nicht helfender Freund, er muß dauernd Führer bleiben; dies wiederum ist nur möglich bei Innehaltung einer Distanz…«

      Studer klappte das Buch zu…

      Distanz!

      Das hieß: drei Schritt vom Leib! dachte er… Wie macht man das? Man will helfen, aber man muß sich selber immer auf die Finger sehen, damit die Finger hübsch brav bleiben und nicht freundschaftlich tun… Studer schnaubte.

      Was die Menschen doch alles fanden! Da gab es: Eheberater, bestallte Psychologen, Psychotherapeuten, Fürsorger; es waren erbaut worden: Trinkerheilanstalten, Erholungsheime und Erziehungsanstalten… All dies wurde eifrig und bürokratisch betrieben… Aber viel eifriger noch und weniger bürokratisch wurden fabriziert: Gasbomben, Flugzeuge, Panzerkreuzer, Maschinengewehre… Um sich gegenseitig umzubringen… Es war wirklich eine kohlige Sache um den Fortschritt… Man war human, mit dem Hintergedanken, sich so schnell als möglich aus der Welt zu schaffen… Chabis! Auf was für Gedanken man kam, wenn man eine Untersuchung in einer Heil- und Pflegeanstalt zu führen hatte, wenn man sich also in jenem Reiche befand, in dem Matto regierte…

      Distanz!

      Hatte Dr. Laduner immer Distanz gewahrt! Anscheinend nicht, warum hätte er sonst die Stelle angestrichen? Und während diese Gedanken durch seinen Kopf gingen, wollte der Wachtmeister das Buch an seinen Platz stellen. Aber es gelang ihm nicht. Er griff mit der Rechten hinter die Bücher, faßte einen weichen ledernen Gegenstand, erschrak ein wenig, zog ihn dann hervor…

      Da hatte man die Bescherung!… Eine Brieftasche… Eine Tausendernote… Zwei Hunderternoten… Ein Paß: Name: Borstli. Vorname: Ulrich. Beruf: Arzt. Geboren:… Doch wozu weiterlesen? Es war klar, klar wie Quellwasser.

      Unmöglich zu beantworten aber war die Frage, wie die Brieftasche des alten Direktors sich ausgerechnet hinter den Büchern des Dr.