Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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moment…«

      Warum kam ihm das Lied wieder in den Sinn? Um es zu vertreiben, begann Wachtmeister Studer seine Schnürstiefel auszuziehen, und da fiel ihm ein Satz ein aus der Geschichte des Demonstrationsobjektes Pieterlen, ein Satz, den Dr. Laduner mit merkwürdiger Betonung ausgesprochen hatte…

      »Er hatte die Frau in seiner Gewalt…«

      Studer versuchte, den Satz nachzusprechen… Dr. Laduner hatte den Akzent auf ›Gewalt‹ gelegt. Gewalt! Jemand in der Gewalt haben… Wen? Den Pieterlen hatte Dr. Laduner in der Gewalt gehabt. Sonst noch jemand?

      Da tauchte das Bild des jungen blonden Mannes auf: er lag auf dem Ruhebett und Tränen liefen über seine Wangen. Ihm zu Häupten saß Dr. Laduner und rauchte…

      Analyse… Gut und recht… Man hatte auch von dieser Methode der Seelenheilung gehört… Aber es war alles vag und vor allem peinlich… Peinlich! Ganz richtig. Man heilte die Kranken, ah ja! die Neurotiker! – da hatte man ja das Wort! – Studer richtete sich auf.

      Man heilte sie, indem man ihre Träume durchforschte, es kam allerhand Unanständiges zutage… Studers Freund, der Notar Münch, besaß ein Buch, das von dieser Methode handelte… Es hatte allerlei darin gestanden, was man sonst nicht einmal an Männerabenden verhandelte, und dort ging es doch wirklich nicht harmlos zu… Das war also Analyse… Es hieß eigentlich anders, es gehörte noch ein Wort dazu… Richtig! Psychoanalyse! Mira, Psychoanalyse… Jeder Beruf hat seine Sprache… In der Kriminalistik sprach man auch von Poroskopie, und kein Laie verstand, was darunter gemeint war, und in Witzwil nannten die Gefangenen die Wärter ›Pföhle‹… Es ist nun einmal so: jeder Beruf hat seine Sprache, und die Psychiater sprachen eben von Schizophrenie, Psychopathie, Angstneurose und Psycho… Psycho… Psychoanalyse. Ganz recht…

      Aber nun war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Studer zog ein Paar enganliegende Lederpantoffeln an, die durch ein Gummiband über dem Rist des Fußes festgehalten wurden, und dann löschte er die Lampe.

      Als er einen letzten Blick aus dem Fenster warf, sah er ein Licht über den Hof kommen. Er blickte aufmerksamer hin. Es war ein Mann in einem weißen Schurz, der eine Stallaterne schwenkte…

      Offenbar ein Nachtwächter, der die Runde machte.

      Und dann schlich sich Wachtmeister Studer auf die Wanderschaft. Es war ihm, als sickere ganz leise Handharpfenspiel von der Decke herab, aber er achtete nicht darauf.

      Ein Gespräch mit dem Nachtwärter Bohnenblust

       Inhaltsverzeichnis

      Manchmal knackte eine Latte des Parkettfußbodens in einem der langen Gänge. Dann war es wieder still. Ein Schloß schnappte. Man kam an Türen vorbei, die so stumm waren, daß man meinte, ein Toter liege dahinter aufgebahrt. Dann gab es andere, die laut waren: Schnarchen drang durch sie, Traumworte, ein leiser Schrei… Spann Matto seine silbernen Fäden?… Die Luft war dick, fest geschlossen die Fenster, und die kleinen rechteckigen Scheiben saßen zwischen den eisernen Stäben. Und wieder knarrte eine Latte, wieder schnappte ein Schloß… Ein Gang, lang wie die Ewigkeit… Ein Stiegenhaus, ein kurzer Gang… Und nun schimmerte durch ein Schlüsselloch blaues Licht. Eine Klinke… Studer schob vorsichtig den Passe ins Schlüsselloch, tastete mit dem Bart wie ein Einbrecher, der keinen Lärm machen will, der Bart faßte… Vorsichtig, vorsichtig drehte Studer den Schlüssel, und so angestrengt bernühte er sich, ganz lautlos zu sein, daß er die Wangenhaut zwischen die Zähne zog… Dazu dachte er verschwommen an Dr. Laduner, der von der Behörde gedeckt sein wollte – und der Vertreter der Behörde befand sich augenblicklich auf Schleichwegen…

      Der Wachsaal… In der Mitte der Decke eine Birne, umhüllt mit blauem Papier. Sie streute blaues Licht über die weißen Betten und verwandelte die Gesichter der Schlafenden in die Gesichter Ertrunkener. Es stank: nach Menschen, nach Apotheke – und natürlich nach Bodenwichse…

      Noch ein paar Schritte: da war der Mauervorsprung.

      Vor seinem kleinen Tischchen, in der Nische, saß der Nachtwärter Bohnenblust. Sein Kopf lehnte an der Wand, seine Lider waren halb geschlossen, und die Haare seines Schnurrbartes wogten wie Wassergras auf dem Grunde eines Baches…

      Studer kannte viele Arten des Erschreckens:

      Da gab es das Erschrecken der Ladendiebin, wenn man sie sanft am Arme packt: »Bitte mitkommen, Fräulein…« Die Tränen, die aus den Augenwinkeln rollen und Streifen durch den Puder der Wangen ziehen… Da gab es das Erschrecken des Mannes, dem man auf offener Straße die Hand auf die Schulter legt: »Mitkommen! Kein Krach!« Die Augen sind weit aufgerissen und die Lippen bleich und schmal. Man spürt es, der Mund ist trocken und die Kehle auch, der Mann versucht zu schreien und kann nicht… Es gab das Erschrecken des Betrügers, den man am Morgen aus einem schweren Schlaf weckt, und dessen Hände so arg zittern, daß sie fünf Minuten brauchen, um die Krawatte schief zu binden…

      Aber des Nachtwärters Bohnenblust Erschrecken über das plötzliche Auftauchen des Wachtmeisters war vollkommen anders. Einen Augenblick hatte Studer Angst, den Mann könne der Schlag treffen. Ganz violett lief das Gesicht an, Blut trat in die Augen, und die Lungen rasselten. Bohnenblust versuchte aufzustehen, sank zurück. Dann lehnte er wieder den Kopf an die Wand, dort, wo ein großer Fettfleck sich abhob… Wie viele Stunden hatte des Nachtwärters Kopf an dieser Stelle gelehnt?…

      »Aber Mann!« sagte Studer freundlich. Dann konnte er gerade noch rechtzeitig Bohnenblusts Hand abfangen, die sich schon in bedenklicher Nähe einer Reihe Klingelknöpfe befand. Der Mann wollte wohl Alarm läuten!…

      »Ich bin's doch, der Wachtmeister Studer!«

      »Ja… ja… Herr… Doktor… Herr… Wachtmeister… Herr…«

      »Sagt doch ruhig Studer!«

      »Wollt ihr mich verhaften, Herr Studer – weil – weil ich schuld bin, daß der Pieterlen entwichen ist und den Direktor erschlagen hat?«

      Studer schwieg. Er setzte sich neben den dicken Mann, streichelte beruhigend den wollenen Ärmel des Sweaters und sagte nach einer Welle: er denke gar nicht daran, irgend jemanden zu verhaften… Und soviel er wisse, sei der Direktor einem Unglücksfall zum Opfer gefallen…

      »Das sagt ihr so«, meinte Bohnenblust, und seine Gesichtsfarbe verlor langsam das Violette. »Der Pieterlen hat sicher den Direktor erschlagen. Das sagen alle in der Anstalt…«

      »Wer zum Beispiel?«

      »Der Weyrauch und der Jutzeler und die andern vom K und vom R und vom U. Und der Jutzeler hat gesagt, ich sei schuld…«

      Soso… Das war also die Version der Anstaltsinsassen? Interessant…

      Es sah ganz so aus, als wolle der alte Bohnenblust anfangen zu weinen. Seine Augen waren feucht, sein Gesicht verzog sich… Aber Studers Bedarf an weinenden Männern war gedeckt, er konnte den Blonden nicht vergessen, auf dem Ruhebette, in Dr. Laduners Arbeitszimmer…

      »Wieso seid ihr schuld?«

      »Ich hab doch nichts anderes getan als die andern Abende auch. Der Pieterlen hat so schlecht geschlafen, und wenn er zu unruhig war, ist er immer zu mir herausgekommen und hat die Zeitung gelesen, hier am Tisch…«

      Studer sah, daß in dem Mauervorsprung, in Kopfhöhe eines stehenden Mannes, eine Lampe brannte, die durch einen metallenen Schirm so abgeblendet war, daß ihr Licht nur auf das Tischchen fiel. Der übrige Wachsaal blieb in bläulicher Dämmerung.

      »Und dann?«

      »Und dann hat er gesagt, wie fast jeden andern Abend auch: ›Du, Bohnenblust, laß mich noch in den Aufenthaltsraum, ich möcht' noch eine Zigarette rauchen…‹ Er hat gern geraucht, der Pieterlen, und hier im Wachsaal ist es verboten. Da hab ich ihn dort bei der Tür hinausgelassen und Feuer hab ich ihm auch gegeben. Und dann wieder abgeschlossen. Er hat gewöhnlich geklopft, wenn er mit seiner Zigarette fertig war. Manchmal hat er zwei Zigaretten