hab mich angeschlagen, wie ich in der Dunkelheit herumgelaufen bin, an einer Türe oder an einer Mauer, ich weiß nicht mehr. Ich hab ja dann ruhig erzählen können, daß ich im Nebenzimmer niedergeschlagen worden bin, der Schmocker hatte ein starkes Schlafmittel genommen, das hab ich ihm um halb zwölf gegeben…«
»Aber warum habt ihr so lange gewartet?«
… Die Furcht vor der Entlassung war am Schweigen des Nachtwärters Bohnenblust schuld. Eine begreifliche Furcht, obwohl sie eigentlich grundlos war. Wie er mit scharfer Flüsterstimme erzählte – und dazwischen rasselte es in seinen Lungen – war er schon seit bald fünfundzwanzig Jahren im Dienst. Als Nachtwärter stand er sich besser als die andern, denn die Kost wurde ihm ausbezahlt, immerhin neunhundert Franken im Jahr, während sonst auch die Verheirateten in der Anstalt essen mußten. Er kam somit auf etwas mehr als dreihundert Franken im Monat.
Miete brauche er auch nicht zu zahlen, da er als Abwart im Randlinger Schulhaus angestellt sei.
Und doch…
Bohnenblust gehörte zu jenen ängstlichen Menschen, denen es einmal schlecht gegangen ist – »Ich hab mit sechzig Franken Monatslohn angefangen, und damals hatten wir nur einen halben Tag frei in der Woche… Ich hab es noch erleben müssen, daß mein Bub die Mutter gefragt hat, wer der fremde Mann ist, der hin und wieder zu Besuch kommt«
– und die Angst haben, die bösen Zeiten könnten wieder kommen. »Jetzt, wo es besser geht und ich ein wenig Geld auf der Sparkasse habe, zehntausend Franken, Wachtmeister…« – es war sicher mehr –, »da möcht ich nicht gern wieder so bös dran sein wie schon einmal…«
Aber dabei war der Bohnenblust zugleich ein Mann mit einem weichen Herzen, der niemandem etwas abschlagen konnte – dem Pieterlen zum Beispiel –, der aber in ständiger Angst vor einem Rüffel lebte; denn ein Rüffel war für ihn gleichbedeutend mit einer Katastrophe…
Nur die Art, wie er sich plötzlich erschreckt aufrichtet, flüstert: »Ich muß stechen!« und damit steckt er ein dünnes Messingstäbchen in das Loch der Kontrolluhr, dreht um, einmal, fünfmal, schüttelt die Uhr, hält sie ans Ohr, ob sie auch wirklich noch geht und die Angst, die Angst flackert in seinen Augen…
Ein Mann mit einem weichen Herzen… Es war doch immer so, wenn Menschen bestimmt wurden, andere Menschen zu bewachen. Es war nicht zu verhindern, daß zwischen Wächtern und Bewachten rein menschliche Beziehungen entstanden, daß man einander »du« sagte, solange kein Vorgesetzter in der Nähe war, daß man sich aushalf mit Rat und Tat, mit Zigaretten oder Schokolade… Das gab es in Thorberg, das gab es in Witzwil, und auch im Amtshaus in Bern gab es das… Und es war eigentlich erfreulich, daß es das gab, dachte Studer, der nicht viel von einer übertriebenen Disziplin hielt… Ihm kam es auch nicht darauf an, einem Verurteilten, den er in die Strafanstalt führen mußte, im Bahnhofbüfett noch ein Bier zu zahlen, so als letzte Freude gewissermaßen, vor der langen Einsamkeit der Zelle…
»Also, ihr habt den Pieterlen in den Aufenthaltsraum gelassen… Wie spät ist's gewesen?«
»Halb eins, viertel vor eins…«
Studer rechnete. Um halb eins war der Direktor von seinem gefühlvollen Spaziergang zurückgekehrt, und er war ins Büro gegangen mit dem Abteiliger Jutzeler. Unterdessen wartete die Irma Wasem im Hof. Viertel ab eins war der Direktor mit einer Mappe unter dem Arm aus seiner Wohnung heruntergekommen – die Mappe hatte also in seiner Wohnung gelegen, was hatte die Mappe enthalten? Sie war verschwunden, genau wie die Brieftasche…
Blieb das verwüstete Büro… Wie war das in die ganze Geschichte einzufügen?
Zwei Frauen hatten den Direktor ein Viertel nach eins aus dem Mittelgebäude kommen sehen. Zwei Frauen und ein Mann (der Mann war zwar Patient, aber sicher in dieser Beziehung zuverlässig) hatten den Schrei gehört, kurz vor halb zwei…
War der Direktor ins Büro zurückgekehrt, hatte ihn dort ein Unbekannter niedergeschlagen, die Leiche in die Heizung geschleift und über die Leiter hinuntergeworfen?… Das war Chabis! Das konnte nicht stimmen… Und doch hatte merkwürdigerweise das verwüstete Büro den Dr. Laduner dazu bestimmt, die Behörde in der Person des Wachtmeisters Studer anzufordern… Viertel vor eins verschwindet Pieterlen, halb zwei der Schrei!… Zeit genug… Aber wie war Pieterlen aus der Abteilung B entwichen? Denn mit dem Hinauslassen in den Aufenthaltsraum war gar nichts erklärt. Es war noch die Gangtüre da, zu deren Öffnung Passe und Dreikant nötig waren, es gab noch das Tor, das aus dem B in den Hof führte…
Bohnenblust seufzte tief und rasselnd. Dann stand er auf, schlich leise durch den Saal; in einer fernen Ecke stöhnte ein Mann im Traum. Studer sah den Nachtwärter die Decke aufheben, die zu Boden geglitten war, den Unruhigen zudecken, ihm flüsternd zusprechen… Ein Mann mit einem weichen Herzen…
Der Wachsaal mit seinen zweiundzwanzig Betten… Und in jedem Bette lag ein Mann. Das blaue Deckenlicht grub schwarze Flecke in die stoppligen Gesichter… Zweiundzwanzig Männer… Die meisten hatten wohl Familie, eine Frau daheim, Kinder oder eine Mutter, Brüder, Schwestern… Sie atmeten schwer, manche schnarchten. Die Luft war dick, durchsetzt von Menschendunst – und es nützte nichts, daß ein Fenster offen war, das Fenster mit den feinen Gitterstäben, das nach U 1 ging…
Zweiundzwanzig Männer!…
Die Anstalt Randlingen erschien dem Wachtmeister auf einmal wie eine riesige Spinne, die ihre Fäden über das ganze umliegende Land gespannt hat und in den Fäden zappeln die Angehörigen der Insassen und können sich nicht befreien… »Wo ist der Vater?« – »Der Vater ist krank.« – »Wo ist der Vater krank?« – »Im Spital.« Und das Raunen in den kleinen Dörfern, wenn die Frau poschte geht: »Ihr Ma isch verruckt!…« Es war wohl fast noch ärger, als wenn man sagte: »Dr Ma isch im Zuchthuus…«
Zweiundzwanzig Männer! Ein kleiner Teil.
»Wieviel Patienten sind in der Anstalt?« fragte Studer.
»Achthundert«, antwortete Bohnenblust. Sein Kopf ruhte wieder auf dem großen Fettfleck an der Wand, der Zeugnis ablegte von den anstrengenden Stunden des Nachtdienstes.
Achthundert Patienten! Ärzte, Pfleger, Schwestern wurden mobilisiert, um die Kranken zu pflegen… Die Kranken! Sie galten ja nicht als Kranke, draußen!… Wenn man krank war, kam man ins Spital. Ins Irrenhaus kamen die Verrückten… Und verrückt sein, das war in den Augen der Menge genau so kompromittierend, als wenn man der Kommunistischen Partei angehörte…
Man war beim Unbewußten zu Besuch, sagte Dr. Laduner. Man war im Reiche Mattos, sagte Schül…
Und Studer starrte geradeaus, über die Betten hinweg, auf eines der fünf großen Fenster, die die Breitseite des Saales durchbrachen. Manchmal glitt ein greller Schein draußen vorbei, ein zweiter folgte ihm, dann kam eine Pause, wieder der Schein, noch einer… Studer erinnerte sich, daß die große Straße draußen vorbeigehen mußte. Die Lichterblitze waren nichts anderes als die Scheinwerfer der Autos…
Dieses Aufblitzen löste zwei Gedankenverbindungen in Wachtmeister Studers Kopf aus. Die eine ließ sich leicht erklären. Sie bezog sich auf den Lichtschein, den er von seinem Zimmerfenster aus gesehen hatte: der Lichtschein war nähergekommen, ein Mann in weißem Schurz hatte eine Stallaterne getragen… Damals war es schätzungsweise ein Viertel vor zwei gewesen… Aber in jener Nacht, in welcher der Direktor verschwunden war, da hatte der Nachtwächter wohl auch seine Runde gemacht. Es war sicher ratsam, einmal mit diesem Manne zu sprechen.
Die zweite Gedankenverbindung ließ sich nur symbolisch erklären, aber darüber grübelte Studer nicht nach. Im Augenblick schien sie ihm ein Lichtblitz in umgebender Dunkelheit zu sein, und das genügte ihm. Diese Gedankenverbindung bezog sich auf folgendes: Der asthmatische Bohnenblust hatte beim plötzlichen Erscheinen des Wachtmeisters ein Erschrecken gezeigt, das im Verhältnis zur Geringfügigkeit seines Vergehens übertrieben war. Was steckte noch dahinter? Studer beschloß, weiter zu bohren…
Nach vielen Fragen, nach Ächzen und Stöhnen ließ sich endlich folgender Sachverhalt feststellen:
Bohnenblust besaß zwei