Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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oder inszeniert mir einen seelischen Bergrutsch…

      Es war rührend, das Ganze. Ich wurde natürlich immer auf dem laufenden gehalten. Ordnung muß sein. Der Pfleger der Malergruppe rapportierte brav, die Abteilungsschwester auf dem B drückte beide Augen zu, und das Idyll nahm seinen Fortgang, Sagen Sie mir, warum sollen nicht auch wir einmal ein Idyll in unsern roten Mauern haben? Natürlich, ein paar Leute hatten zu reklamieren: ›Der Laduner unterstützt die Unsittlichkeit‹ und solche Bemerkungen mehr. Es waren die Bornierten, die solche Reden führten, die Stündeler besonders… Am Sonntag durfte der Pieterlen mit einem Pfleger spazierengehen. Ich gab ihm gewöhnlich den Gilgen mit. Den kennen Sie ja, den lustigen rothaarigen…«

      Studers Stimme war ein wenig heiser, als er den Redefluß unterbrach mit einem »Deich woll!«

      Laduner blickte auf seine Armbanduhr.

      »Spät ist es. Wollen wir schlafen gehen?« Er gähnte.

      Studer fragte:

      »Der Pieterlen war wohl eifersüchtig auf den Direktor?«

      »Offenbar… Die Frau des Pieterlen hatte sich von ihm scheiden lassen, während er im Zuchthaus saß. Es war sein erstes Liebeserlebnis seit seiner Krankheit…«

      Wieder das Schweigen. Dann sagte Laduner, ganz nebenbei: »Vielleicht begreifen Sie, warum ich es bis jetzt versäumt habe, den Pieterlen ausschreiben zu lassen. Aber morgen will ich es sicher tun. Morgen? Besser gesagt: Heute… Es ist ein Uhr… Wollen wir die Sitzung aufheben, Studer? Oder wünschen Sie noch etwas?«

      Studer räusperte sich. Es schien ihm, als sei sein Magen noch immer nicht ganz in Ordnung… Das Abrutschen!… Er versuchte, so trocken als möglich zu antworten, aber es gelang ihm nicht ganz:

      »Ja, gern, Herr Doktor… Einen Kirsch…«

      Überlegungen

       Inhaltsverzeichnis

      In seinem Zimmer angekommen, zündete Studer die Stehlampe auf dem Nachttischchen an und setzte sich ans Fenster. Der Hof war still und schwarz. Vielleicht hatten die Bogenlampen letzte Nacht gebrannt zu Ehren der Sichlete… Jetzt kam nur von Zeit zu Zeit ein winziger Mond zwischen Wolken hervor, versteckte sich wieder, und sein Licht war in den kurzen Augenblicken seines Auftauchens so schwach, daß man lieber gar nicht davon sprach…

      Der Kirsch brannte im Magen, Studer hatte drei Gläser getrunken, jetzt war er hell wach. Aber er hatte sonderbarerweise gar keine Lust zum Rauchen. Er wollte nachdenken, klar denken. Doch immer ist es so, wenn man an die Scharfheit seines Denkens appellieren will, denkt man unklar, verschwommen und sehr, sehr unzusammenhängend…

      Die Situation hatte sich merklich verändert seit dem Morgen, das war nicht zu bezweifeln… Dr. Laduner hatte gut reden mit seinem Unfall… Ge-wiß, wie er sagte, ein Mord in der Anstalt bedeutet einen Skandal, besonders wenn man den Mord mit dem Demonstrationsobjekt Pieterlen in Zusammenhang bringen konnte… Schien nicht alles auf diesen Pieterlen hinzudeuten? Das graue Stück Stoff unter der Matratze, der Sandsack, der aus demselben Material gefertigt war… Der Ausbruch knapp vor dem Augenblick, in dem man den Hilfeschrei gehört hatte… Und dann das Motiv: Eifersucht! Ein starkes Motiv!

      Alte Kriminalistenregel, das »Cherchez la femme«, und nicht einmal Dr. Locard in Lyon hatte über diese Regel zu spotten gewagt, er, der doch in einem denkwürdigen Aufsatz die Fragwürdigkeit aller Zeugenverhöre scharfsinnig bewiesen hatte… Also Pieterlen… Nehmen wir einmal an, es sei Pieterlen gewesen… Er hatte mit dem Mord zwar nichts gewonnen, aber es tat vielleicht gut, sich an die Erziehungsanstalt in Oberhollabrunn zu erinnern, in der man die Bekanntschaft des Dr. Laduner gemacht hatte…

      Besonders sich zu erinnern an jene denkwürdige Szene, da ein Bub auf einen andern mit dem Messer losgegangen war und Dr. Laduner den interessierten Zuschauer gespielt hatte… Wie lautete die Regel des Herrn Eichhorn? Einen Protest muß man leer laufen lassen… Gut und schön, solange nicht ein Mord passierte… Dr. Laduner konnte da lang sinnvolle psychologische Gründe für einen Kindsmord anführen, so sinnvoll, daß einem ganz flau im Magen wurde, und daß man dachte, man befinde sich auf einer Alpenfahrt…

      Aber schließlich, der Mord an einem alten Manne, der vielleicht vertrauensvoll zu einem Rendezvous gekommen war, ließ die Sache doch in etwas anderem Lichte erscheinen. Was hatte übrigens Laduner mit seiner Vorlesung bezweckt? Ge-wiß, wie er sagen würde, er war in Feuer geraten, es war nicht alles Theater gewesen, der Pieterlen war ihm ans Herz gewachsen, man fühlte das, aber immerhin, man hält doch einem einfachen Wachtmeister von der Fahndungspolizei nicht einen dreistündigen Vortrag, wenn man nicht dabei seine kleinen Hintergedanken hat… Die Menschen sind einmal so – besonders so komplizierte wie der Dr. Laduner –, sie haben für Taten niemals nur ein einziges Motiv, solchen Blödsinn glaubt vielleicht ein junger Untersuchungsrichter oder ein Bezirksanwalt, wie jener, der in Pieterlens Geschichte vorkam, aber doch kein vernünftiger Mensch, wie beispielsweise ein alter Fahnder… – Gewiß, man konnte naiv aussehen, aber man war doch genug herumgekommen in der Welt, man hatte die Menschen kennengelernt. Das mit dem Unbewußten hatte vieles für sich, obwohl man es nie so hätte formulieren können… Übrigens: Die Attacke, ja, die Attacke: ob man nicht in Gedanken manchmal ein Kindsmörder gewesen sei… Glänzend! Gescheit! Dieser Dr. Laduner!…

      Erstellen! wie das Kommando lautete… Pieterlen der Mörder? Es sprach eigentlich nur eines dagegen: das Telephongespräch… Pieterlen hatte nicht um zehn Uhr abends telephonieren können, denn er war ja an der Sichlete… Und fest stand, daß aus der Anstalt telephoniert worden war… Der Abteiliger vom B… (wie hieß der Mann schon? Das nachmittägliche Memorieren hatte nicht viel genützt, man mußte doch wieder das Büchlein zu Rate ziehen) Jutzeler! also, der Jutzeler, der dem Direktor um halb eins abgepaßt hatte, der schied auch aus… Denn der hatte das Telephon abgenommen… Er konnte nicht zu gleicher Zeit am andern Ende gesprochen haben. Denn leidlich klar ging aus den Aussagen hervor, daß der Direktor die Mappe geholt hatte, um mit jemand zu sprechen… Sehr merkwürdig. Um halb zwei, in einem dunklen Gang oder vielmehr in einer dunklen Ecke… Die Mappe… Sie war verschwunden, wie auch die Brieftasche verschwunden war mit den zwölfhundert Franken… Warum hatte der Gilgen (komisch, daß man sich diesen Namen ohne weiteres gemerkt hatte), warum hatte der Gilgen ein so ängstliches Gesicht gemacht? Warum hatte er den Wachtmeister besucht, grundlos eigentlich, da er doch wissen mußte, daß der Einfluß, den Studer besaß, gering genug war… War Gilgen an der Sichlete gewesen? Hatte die Mappe etwas enthalten, das gefährlich werden konnte?

      Der rothaarige Gilgen! Der einzige Mensch, den man von Anfang an gern gehabt hatte; dies Gefühl ähnelte gar nicht der etwas scheuen Zuneigung, die man dem Dr. Laduner entgegenbrachte. Es war mehr eine jener Freundschaften, die zwischen zwei Männern entsteht, und die deshalb so stark ist, weil sie sich nicht begründen läßt… Solche Dinge gibt es eben, es ist schwer, sie sachlich zu beurteilen… Gilgen… Gut, man mußte die Spur Gilgen verfolgen; aber dann mußte man damit beginnen, das Ausbrechen des Patienten Pieterlen aufzuklären… Das war notwendig. Bohnenblust, der asthmatische Nachtwärter mit der rasselnden Lunge, machte Dienst, ein Gespräch mit ihm empfahl sich…

      Und da war noch die Angst, die in den Augen Dr. Laduners hockte… Am Morgen war sie ziemlich deutlich gewesen, heut abend schien sie verflogen zu sein… Aber es war da immerhin die lange Vorlesung über Pieterlen…

      Verdächtig…

      Schlafen Sie schon, Studer?« fragte Dr. Laduner draußen vor der Türe.

      Es war unmöglich, zu schweigen, die Lampe brannte ja.

      »Nein, Herr Doktor«, antwortete Studer freundlich.

      »Wollen Sie ein Schlafmittel?«

      Studer hatte in seinem Leben noch nie Schlafmittel genommen, darum dankte er bestens. Hierauf sagte Dr. Laduner, das Badezimmer sei frei, wenn Studer jetzt oder am Morgen ein Bad nehmen wolle, er solle sich nur ja nicht genieren… Und Studer dankte noch einmal. Dr. Laduner fuhrwerkte noch eine Weile im