Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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den Rand des Pergamentschirms und quoll dann oben heraus, wie aus einem Kamin.

      Laduner sagte:

      »Zuerst hat der Pieterlen in der Strafanstalt Schreinereiarbeiten verrichten müssen, er machte Särge in seiner Zelle. Glauben Sie nicht, daß ich erfinde, ich kann Ihnen alles in den Akten zeigen. Als er ein Jahr, ganz allein in der Zelle, Särge angefertigt hatte, durfte er an Militärmäntel die Knöpfe und die Knopflöcher nähen. Zwei Jahre lang. Und dann…«

      Laduner suchte in der Aktenmappe nach einem Blatt; er las mit der gleichen weichen Stimme:

      »Bericht der Strafanstalt, Nr. 76, Pieterlen… Auffallende Veränderungen in seinem Verhalten: Arbeiten, die er früher ganz schön gemacht hatte, macht er auf einmal nachlässig und unbrauchbar, zum Beispiel Knopflöcher an Mänteln, statt am linken Teil rechts. Bestandteile an Kleidungsstücken mit der deutlich abstechenden Querseite nach außen. Er erklärte auf Reklamationen hin, die Sachen ändern zu wollen, machte aber wieder den gleichen Fehler. Am Abend bettete er unter dem Arbeitstisch und schlief auf diesem Lager…«

      Das Blatt raschelte. Laduner zündete eine frische Zigarette am Stummel der ausgerauchten an, stand auf, ging zum Fenster, sah in die Nacht, die schwer und schwül über dem Land lag.

      »Er hat sich verkrochen, er hat Knopflöcher falsch genäht… Nach drei Jahren: Das ist zweimal zweiter September… Ich bin nicht gefühlvoll, Studer, glauben Sie mir, aber der Pierre Pieterlen, das ist… das ist… eben, ein Demonstrationsobjekt« und versuchte ein Lachen, das mißlang.

      Studer lauschte, lauschte… Der Fall des Patienten Pieterlen interessierte ihn – wenn er ehrlich sein wollte – nicht so sehr, als der Ton, in dem er erzählt wurde.

      »Wie lange tragen Sie schon das Kummet, Studer? Zwanzig Jahre? Ja? Nun, bald winkt Ihnen die Pension… Aber in diesen zwanzig Jahren haben Sie viele Akten gelesen, nicht wahr? Viele Berichte verfaßt, nicht wahr? Jetzt werden Sie sich wundern, Studer, und ich weiß, daß Sie sich schon die ganze Zeit gewundert haben, warum ich so offen zu Ihnen bin, warum ich Sie zu mir eingeladen habe… Geben Sie es zu, es ist Ihnen reichlich sonderbar vorgekommen… Aber ich habe Ihre Laufbahn verfolgt, man hat mir von dem Kampfe erzählt, den Sie mit dem Obersten Caplaun ausgefochten haben, und dann habe ich fünf Rapporte von Ihnen gelesen, sie betrafen alle den gleichen Fall. Der Fall tut nichts zur Sache. Aber die Rapporte sind mir aufgefallen, ihr Ton, er war anders als der Ihrer Kollegen. Zwischen die Floskeln der Amtssprache hatte sich etwas eingeschlichen. Es klang, als ob Sie immer versuchen wollten, zu verstehen, und wenn Sie selber verstanden hatten, dann wollten Sie auch, daß der Leser verstehen sollte… Bin ich deutlich?… Und darum erzähle ich Ihnen vom Pieterlen Pierre, weil er für mich ein Demonstrationsobjekt ist, und weil ich weiß, daß Sie mich nicht auslachen werden… Früher, mein Gott, früher hat man mich auslachen können, mit Recht, und mein alter Chef hat es auch gründlich getan, damals beim ersten Gutachten. Er hat recht gehabt. Ich bildete mir nämlich ein, man könne den Herren von der Justiz etwas begreiflich machen, aber für sie kommt nur folgendes in Frage…«

      Laduner nahm einen Bogen auf und las:

      »Hierdurch hat sich der Angeklagte des Mordes im Sinne von Paragraph 130 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht, denn er hat vorsätzlich und mit Vorbedacht sein am zweiten September 1923 in seiner Wohnung in Wülflingen von seiner Ehefrau, Klara Pieterlen, lebend zur Welt gebrachtes Kind rechtswidrig getötet, indem er ihm unmittelbar nach der Geburt ein Handtuch auf das Gesicht legte, mit der Hand drückte und es mit den Händen würgte, so daß es erstickte…«

      Das Blatt flatterte zu Boden, Studer hob es auf, legte es auf den Tisch. Laduner verließ das Zimmer, sprach draußen leise mit seiner Frau, kam zurück, blieb in der offenen Türe stehen:

      »Roten oder Weißen?«

      »Weißen!« sagte Studer, ohne den Kopf zu heben. Er kam sich unhöflich vor, aber er konnte nicht anders…

      »Haben Sie Schlaf, Studer?« fragte Laduner und schenkte die Gläser voll. Er stieß mit dem Wachtmeister an, zerstreut, wartete die Antwort gar nicht ab, sondern ging auf und ab: vom flachen Schreibtisch bis zur andern Ecke des Zimmers, wo der Bücherschrank stand.

      »Die Frau war Kellnerin gewesen, Saaltochter, wie wir hier sagen. In Sitten. Der Pieterlen war damals Kondukteur an der Lötschbergbahn. Vier Jahre lang haben sich die beiden gekannt. Dann wollten sie heiraten. Aber der Pieterlen verlor seine Stelle. Er bekam einmal die Grippe; als es ihm besser ging, ist er mit seiner Braut z'Tanz, Kollegen haben ihn gesehen, ihn verrätscht, er wurde entlassen. Er war unbeliebt unter seinen Kollegen, der Pieterlen, man warf ihm seinen Stolz vor. Er ging dann in eine Industriestadt in der Ostschweiz und arbeitete als Handlanger in einer Maschinenfabrik. Vier Wochen vor der Geburt des Kindes heirateten die beiden…

      Ich habe zwei Kinder, Studer. Der Pieterlen hat kein Kind gewollt. Das hat er offen und deutlich gesagt. Er hat es dem Bezirksanwalt gesagt, er hat es mir gesagt. ›Vorsätzlich und mit Vorbedacht‹… Das klingt doch schön? Finden Sie nicht?… Neunzehnhundertdreiundzwanzig… Fünf Jahre nach dem Krieg… Wieviel Menschen sind im Krieg umgekommen? Wissen Sie es? Rund ein Dutzend Millionen; nicht wahr? Und der Pieterlen wollte also kein Kind auf die Welt stellen… Nicht aus weltanschaulichen Gründen, obwohl der Pieterlen allerlei gelesen hatte… Lesen macht stolz, Studer, und Pieterlen war stolz. Das haben auch seine Kollegen behauptet und seine Vorgesetzten. Seine Kollegen lasen höchstens das Blättli, nicht einmal Detektivromane, sie jaßten; Pieterlen aber las Schopenhauer und Nietzsche und dachte über die Welt und die Menschen nach. Er zeichnete in seinen Freistunden… Er lernte Englisch, und Französisch konnte er schon… Sein Vater stammte aus Biel, dann war er Melker im Oberland, seine Mutter hat er nie gekannt, sie war an seiner Geburt gestorben…

      Pieterlen wollte kein Kind auf die Welt stellen, weil er als Handlanger zuwenig verdiente. Er hatte eine Einzimmerwohnung mit Küche im Dorfe Wülflingen gemietet, weil die Wohnungen dort billiger waren als in der Stadt. Der Handlanger Pieterlen verdiente achtzig Rappen Stundenlohn…

      Sie werden mir einwenden, es gäbe soundso viele Handlanger, die auch nicht mehr verdienen, und die doch Frau und Kinder haben… Sie werden mir einwenden, daß es in den umgebenden Ländern noch ärger zugeht als bei uns, denn wir haben Fürsorgestellen und Armendirektoren und Eheberatungsstellen und Trinkerheilanstalten und Gottesgnadasyle und Heil- und Pflegeanstalten und Armenanstalten und Trinkerfürsorge und Waisenhäuser… Wir sind sehr human. Wir haben auch Schwurgerichtssäle und Staatsanwälte und ein Bundesgericht und sogar der Völkerbund tagt bei uns, lieber Studer… Wir sind ein fortgeschrittenes Land. Warum also hat der Handlanger Pieterlen kein Kind gewollt?

      Einfache Antwort: Weil er anormal war. Das sagt sich leicht. Ich habe in meinem Gutachten geschrieben…«

      Laduner griff wieder nach einem Blatt und las:

      »Seine Tat entspricht Motiven einer abnormen Charakteranlage. Er stand schon seit Monaten unter dem Einfluß einer heftigen Gemütsaufregung, die dann schließlich im gegebenen Moment den letzten Ansporn zum Verbrechen gab. Er kann keineswegs als eine Verbrechernatur bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine ausgesprochene, angeborene Charakterabnormität, nämlich um eine schizoide Psychopathie. Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn später noch eine eigentliche Geisteskrankheit, nämlich eine Schizophrenie, bei ihm ausbräche…«

      »Schizophrenie…« murmelte Studer. »Was heißt das?«

      Die Worte kamen nur undeutlich, weil er das Kinn in die Hände gestützt hatte, und seine Finger den Mund verdeckten.

      »Eigentlich heißt es: Spaltung, Gespaltensein«, sagte Laduner. »Eine geologische Angelegenheit. Sie haben einen Berg, er wirkt ruhig und geschlossen, er ragt aus der Ebene auf, er atmet Wolken und braut Regen, er bedeckt sich mit Gras und sprossenden Bäumen. Und dann kommt ein Erdbeben. Ein Riß geht durch den Berg, ein Abgrund klafft, er ist in zwei Teile zerfallen, er wirkt nicht mehr ruhig, geschlossen, er wirkt grauenhaft; man sieht in sein Inneres, ja, das Innere hat sich nach außen gestülpt… Denken Sie sich eine derartige Katastrophe in der Seele… Und wie der Geologe mit Bestimmtheit von den Ursachen spricht, die einen Berg gespalten haben, so sprechen wir mit Bestimmtheit