herabzusickern…
Er blickte auf den rothaarigen Gilgen und bemerkte, daß der kleine Mann bleich geworden war. Das sah sonderbar aus, die Sommersprossen traten so deutlich hervor wie Rostflecken auf mattem Stahl.
»Was ist los, Gilgen?« fragte Studer.
»Nüt, Herr Wachtmeister…« Und ob Studer wirklich wissen wolle, wer spiele? Das werde nicht festzustellen sein. In der Anstalt habe es so viele, die Handharpfe spielten, es könne aus irgendeiner Abteilung dringen…
Studer gab sich zufrieden, obwohl ihn das Handharpfenspiel unleidig machte. Er hätte nicht sagen können, warum. Er versuchte, sich auf etwas zu besinnen, das ihm am Morgen aufgefallen war, es war etwas, das mit Handharpfenspiel zusammenhing, aber er konnte sich nicht besinnen…
»Wachtmeister«, sagte der kleine Gilgen und stockte. Dann, als Studer ihm aufmunternd zugenickt hatte, kam die Bitte: – Studer möge doch den Dr. Laduner bitten, daß er nicht entlassen werde… – Entlassen? Warum sollte er entlassen werden?
Eine traurige Geschichte erzählte der Gilgen. Er habe ein Hüüsli gekauft, vor vier Jahren… Achtzehntausend Franken. Siebentausend habe er angezahlt, der Rest sei erste Hypothek… Und es sei gut gegangen… Aber nun sei die Frau krank und in Heiligenschwendi oben, sie habe es auf der Brust… Schulden, ja!… Und dann habe er immer den Abteiliger Jutzeler vertreten, wenn der frei gehabt habe, und da habe er sich ein paarmal Respekt verschaffen müssen bei den jungen Pflegern, und die seien ihm dann aufsässig geworden… Hätten ihn verklagt, er trage die Wäsche und die Schuhe von Patienten… Der alte Direktor habe die Sache untersucht, und er habe den andern geglaubt. Er habe den Gilgen entlassen wollen… Da habe der Abteiliger Jutzeler gedroht, dem alten Direktor nämlich, man werde den Streik proklamieren, wenn der Gilgen entlassen würde… Der Direktor habe nur gelacht… Und er habe recht gehabt, zu lachen, denn es sei wenig Einigkeit unter den Pflegern… Kaum ein Dutzend, die organisiert seien… Der Rest sei froh, überhaupt eine Anstellung zu haben in dieser Krisenzeit… – Und nun?, fragte Studer. Er hatte Mitleid. – Nun habe er heut mittag, wie er heimgefahren sei, den Betreibungszettel gefunden… Natürlich, wenn ihm sein Lohn gepfändet werde, dann sei alles verpfuscht… Die Frau sei in keiner Krankenkasse… Er habe alles versucht, sagte der Gilgen, in der Freizeit habe er für Kollegen geschneidert, obwohl das ja eigentlich verboten sei, Doppelverdienertum… Bei den Pflegern wenigstens. Wenn die Frau vom Dr. Blumenstein im Dorfe Lehrerin sei und ihr Mann den Lohn ziehe in der Anstalt, so mache das nichts…
Studer nickte… Es ging ungerecht zu in der Weit. Er hätte dem kleinen Gilgen von den zwölfhundert Franken erzählen können, die der Direktor von der Krankenkasse gezogen hatte… Aber er wollte nicht hetzen.
Merkwürdig immerhin, daß der kleine Mann so großes Vertrauen zu ihm hatte. Der Pfleger Gilgen, den er gestern noch gar nicht gekannt hatte, mit dem er heute morgen einmal gejaßt hatte, dem er vielleicht ganz aus Zufall vom Dr. Laduner übergeben worden war, um auf der Abteilung B herumgeführt zu werden…
Studer tröstete, so gut er konnte. Er werde sein Möglichstes tun. Dr. Laduner leite ja vorläufig die Anstalt, er werde bei ihm ein gutes Wort einlegen…
Der Pfleger Gilgen ging ein wenig getröstet fort.
Studer fiel es auf, daß er noch einen furchtsamen Blick nach der Zimmerdecke warf – aber dann vergaß er es wieder. Das Handharpfenspiel hatte aufgehört…
Auf dem Rückweg von der Gangtür, zu der er den kleinen Gilgen begleitet hatte, blieb Studer vor der Tür zum Arbeitszimmer stehen. Ihm war eingefallen, daß er an seine Frau telephonieren wollte.
Er klopfte scharf an und öffnete, prallte zurück…
Auf einem Ruhebett, den Blick zur Tür gewandt, lag ein junger Mann mit angstvoll aufgerissenen Augen. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und Tränen liefen über seine Wangen. Ihm zu Häupten aber saß Dr. Laduner in einem bequemen Lehnstuhl und rauchte. Als er Studer erblickte, sprang er auf, kam an die Tür und flüsterte aufgeregt: »In einer halben Stunde… Ich bin jetzt beschäftigt…« Und drückte die Tür ins Schloß.
Studer blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Der junge Mann auf dem Ruhebett war der Herbert Caplaun, Sohn des Obersten…
Warum lag der Herbert auf einem Ruhebett und weinte?
Frau Laduner kam aufgeregt durch den Gang. Man dürfe ihren Mann jetzt nicht stören, er habe einen Privatpatienten in der Analyse…
Analyse? Was denn das sei?…
Frau Laduner winkte ab. Das sei schwer zu erklären. Und Studer dachte, das sei ebenso schwer zu erklären wie der Ausdruck Angstneurose.
Still ging er in sein Zimmer zurück und begann seine Taschen zu leeren. Sein ramponierter Lederkoffer war geholt worden und stand auf dem Tisch. Unter seine Wäsche legte Studer den Sandsack, die Enveloppe mit dem Staub, den er aus den Haaren des toten Direktors gebürstet hatte, und das Stück groben Stoffs, das er unter Pieterlens Matratze gefunden hatte.
Dann zog er sein Büchlein aus der Tasche, schlug die Seite mit den Namen auf und begann sie auswendig zu lernen, so, wie ein fleißiger Lateinschüler Vokabeln lernt:
»Jutzeler Max, Abteilungspfleger
Weyrauch Karl, Oberpfleger
Wasem Irma, Pflegerin, 22jährig…«
Da fiel ihm auf, daß er vergessen hatte, den kleinen Gilgen einzutragen, auch Schül, den Freund Mattos, hatte er vergessen, und auch die Jungfer Kölla von der Küche stand nicht im Büchlein. Aber diese drei ließ er sein, denn sie schienen nicht zum Fall zu gehören…
Leise flüsterte er ein paarmal:
»Pieterlen Pierre, Kindsmord«
und:
»Caplaun Herbert, Angstneurose.«
Dann klappte er das Buch zu, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Im Halbschlaf memorierte er noch.
»Dr. Blumenstein, vierter Arzt, macht jetzt die Sektion, Schwager des Direktors, Frau Schwester der zweiten Frau, Frau ist Lehrerin in Randlingen…«
Die vielen ›Frau‹ störten ihn, er schüttelte den Kopf, so, als ob sich eine Fliege auf seiner Nase niederlassen wollte, und dann schlummerte er ein.
Er träumte, Dr. Laduner zwinge ihn, die Namen aller Patienten, aller Pfleger und Pflegerinnen, aller Kuchimeitschi, Handwerker, Verwalter und Ärzte in ein großes Buch einzutragen…
»Wenn Sie alle Namen auswendig wissen«, sagte Dr. Laduner, »dann können Sie statt meiner Direktor werden… Gewiß…«
Und Studer schwitzte im Traume…
Das Demonstrationsobjekt Pieterlen
»Lesen Sie das«, sagte Dr. Laduner und reichte Studer ein Blatt Papier über den kleinen runden Tisch. Dann sank er zurück, stützte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhles, das Kinn auf die Fingerknöchel.
Die Lampe trug einen pergamentenen Schirm, auf welchem Blumen in durchscheinenden Farben gemalt waren. Studer beugte sich vor und las:
»Ld. Unterbricht die Ausfrage des Polizisten mit keinem Blick; wenn man ihn anschaut, zieht ein sonderbar unmotiviertes Lächeln über sein Gesicht. Man fragt ihn, was heute für ein Tag sei, er denkt nach und sagt mit einem seltsamen Vorbei: ›Donnerstag.‹ Er habe sich zuerst besinnen müssen. In Haft sei er seit dem Februar, er habe viel Fieber. Auf die Frage, seit wann, sagt er wieder in einem sonderbaren Vorbei: ›Seit vier Jahren‹, und meint damit, er habe seit vier Jahren stets im Frühling erhöhte Temperaturen. Gekommen sei er wegen Mord – auch dazu lächelt er, völlig unberührt, sicherlich ganz unbeteiligt. Er verabschiedet sich auch nicht vom Polizisten.