Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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am Nachmittag im Arbeitszimmer wagte er die Frau nicht zu fragen, weswegen sie am Morgen geweint habe. Dr. Laduner war zur Beerdigung gegangen, es war etwa ein Viertel vor drei; vor zehn Minuten etwa hatte sich der Trauerzug vor dem Eingangsportal versammelt. Viele Autos waren vorgefahren.

      Dann war der Leichenzug davongefahren, die Leidtragenden hatten sich versammelt, es war eine lange, schwarze Schlange, und sie kroch dahin unter einem Wolkenhimmel, der blendete wie weißflüssiges Eisen. Hinter den dunklen Fußgängern krabbelten die Autos wie riesige, erschöpfte Käfer.

      Frau Laduner hatte einen großen Korb voll Flickwäsche vor sich stehen und war gerade daran, ein Loch in der Ferse eines Männersockens zu stopfen… »Die Aufsichtskommission ist auch gekommen«, sagte sie, und ihre Augen lächelten hinter den Zwickergläsern.

      – Die Aufsichtskommission, die hätte sich Studer doch ansehen müssen. Ein Pfarrer sei dabei, dessen Gesicht eigentlich nur aus einem Mund bestünde, einem ungeheuren Mund, so daß er aussehe wie ein roter Frosch. Er vertrete manchmal am Sonntag den Anstaltspfarrer, und einen Übernamen habe er auch. Pfarrer Veronal werde er genannt, nach einem bekannten Schlafmittel, weil immer dreiviertel seiner Zuhörer bei seinen Predigten einschliefen. Der kleine Gilgen habe sogar einmal gemeint, man könne vielleicht den Herrn Pfarrer versuchsweise bei den Schlafkuren gebrauchen; da man ja an allem spare, so könne man die teuren Medikamente durch Predigten ersetzen… Die kämen billiger… Dann gehöre zur Kommission ein ehemaliger Lehrer, der die Schutzaufsicht führe über entlassene Sträflinge und entlassene Patienten, und der wahrscheinlich nur deshalb so schwerhörig sei, weil aus seinen Ohren lange Haarbüschel wüchsen… Auch die Frau eines Nationalrates sei dabei, eine freundliche, gescheite Dame, die immer die andern in Verlegenheit brächte, weil sie nach jedem Rundgang durch die Anstalt frage: wozu eigentlich eine Aufsichtskommission gewählt worden sei? Damit die Herren ein Taggeld einstreichen könnten? Es ginge ja alles wunderbar ohne die Kommission… Dann stelle sich der Fürsorgebeamte extra schwerhörig und frage zwei- oder dreimal: ›Wie me-inet I-i-hr?‹…

      Die Klingel des Tischtelephons schrillte.

      – Ach, Herr Studer solle doch antworten, sie sei so faul, sagte Frau Laduner. Und Studer stand auf, nahm den Hörer von der Gabel und fragte gemütlich: »Ja?«

      Die Stimme des Portiers Dreyer… – Wer am Apparat sei?

      »Studer!«

      – Der Wachtmeister solle sofort kommen, es sei in der Verwaltung eingebrochen worden…

      »Was?« fragte Studer erstaunt. »Am heiter hellen Tage?«

      »Ja«, und der Wachtmeister solle gleitig achecho. Es pressiere…

      »Wird nid sy…« sagte Studer gemütlich, legte den Hörer sanft auf die Gabel und meinte zu Frau Laduner, er müsse schnell ins Parterre, der Portier wolle gern etwas wissen… Es sei ein Donners Gstürm… Und ging mit langsamen Schritten zur Tür hinaus, verfolgt von Frau Laduners mißtrauischen Blicken…

      Er schloß die Gangtüre hinter sich und sprang die Treppen hinab. Er nahm drei Stufen auf einmal und langte ein wenig atemlos im Parterre an.

      Der Portier Dreyer, aufgeregt und bleich – noch immer war seine linke Hand verbunden –, empfing ihn am Fuße der Treppe, packte ihn am Arm…

      Im Gange rechts, der zu den Frauenabteilungen führte, stand eine Türe offen. Dreyer schob den Wachtmeister in den Raum. Ein ältliches Fräulein mit zerrauften Haaren lief rund um den Doppelschreibtisch, lief immer im Kreise und gemahnte Studer an eine Katze, der man Baldriantropfen auf die Nase gespritzt hat.

      »Hier!« sagte der Portier.

      Im anstoßenden kleineren Zimmer (es war offenbar das Privatbüro vom Herrn Verwalter) stand der Kassenschrank offen. Akten lagen darin. Studer trat näher…

      Das ältliche Fräulein hatte seinen Rundlauf unterbrochen, es trat herzu und begann zu klagen.

      Mein Gott! Wie schrecklich das sei, der Herr Verwalter sei zur Beerdigung gegangen, und nun müsse in seiner Abwesenheit so etwas passieren… Kaum fünf Minuten sei das Büro leer gewesen, sie sei nur schnell einmal hinausgegangen, die Hände waschen…

      Sie unterbrach sich, hob ihre Augen gen Himmel, faltete die Hände, löste sie wieder… – Sechstausend Franken!… Sechstausend Franken!

      – Drei Päckli zu je zwanzig Noten! Einfach verschwunden!… Innerhalb fünf Minuten!… Und der Herr Verwalter! Was werde der Herr Verwalter sagen!

      Sie ging ins Nebenzimmer zurück, begann ihren Kreislauf von neuem, und dazu murmelte sie…

      Der Portier Dreyer erklärte mit leiser Stimme, der Tod des Herrn Direktor habe das Fräulein Hänni so hergenommen, weil es doch gewissermaßen die Schwägerin sei… Die Schwester der zweiten Frau…

      »Fräulein Hänni!« rief Studer. »War der Kassenschrank versperrt?«

      »Äbe nid!« Der Herr Verwalter sei so pressiert gewesen, er habe viel Arbeit gehabt, Vierteljahresabrechnung, und erst im letzten Augenblick habe er in seine Wohnung hinaufgehen können, um sich anders anzulegen… Und da habe er vergessen, den Kassenschrank zu schließen.

      Aus den Augen des Fräulein Hänni stürzten die Tränen… Studer zuckte mit den Achseln… Eine alte Jungfer, leicht erregbar… Warum trottete sie nur immer um den Tisch wie… eben wie eine Katze, die…

      Studer empfahl sich brummend. Sollte man etwa nach Fingerabdrücken suchen an einem so einladend geöffneten Kassenschrank? Draußen fragte er den Portier, wen er seit dem Abmarsch des Trauerzuges im Mittelbau gesehen habe…

      Dreyer dachte nach, kratzte an seinem Verband:

      »Niemand…« sagte er endlich zögernd.

      Wo er denn gewesen sei? – Hä! In seiner Loge! – Und niemand sei zu ihm gekommen, etwas holen oder kaufen oder fragen?…

      »Denket nach!«

      – Doch! Vor zehn Minuten etwa sei der Pfleger Gilgen vom B gekommen, um ein Päckli Stümpen zu kaufen, und ein wenig später habe die Pflegerin Irma Wasem Schokolade geholt… Soso, die Irma war nicht ans Begräbnis gegangen. Wozu brauchte sie Schokolade, wenn sie sonst gesund war?… Was fiel dem rothaarigen Gilgen ein, mitten im Nachmittag von der Abteilung fortzulaufen, um Stumpen zu kaufen? Dem kupferhaarigen Gilgen, der mit Fünfzig vom Schaufelaß geschoben hatte – und gestern morgen war er bei Dr. Laduner in der Wohnung gewesen –, worauf ein Sandsack…

      Es geschah ganz plötzlich, genau wie in einem schlechten Film, in dem man die Übergänge aus Bequemlichkeit sabotiert. Studer ließ den Portier stehen und lief davon, die Stufen hinab, die in den Hof führten, weiter, vorbei am Ebereschenbaum mit den vergilbten Blättern… Er lief andere Treppen hinauf, überquerte einen Gang, sperrte die Türe auf zum Wachsaal B und blieb dann schweratmend am Fuß eines der zweiundzwanzig Betten stehen. Die Betten waren alle leer, die ganze Abteilung schien ausgestorben, kein Laut… Doch aus dem Garten tönte Lärm herauf.

      Studer trat ans Fenster. In der Mitte eines Rasenrunds waren zwei Weißbeschürzte damit beschäftigt, zu schwingen… Der eine war der Abteiliger Jutzeler, den andern kannte Studer nicht. Fachmännisch betrachtete der Wachtmeister den Kampf… Die beiden konnten etwas… Ein Brienzer – der andere parierte, ein Schlungg, gut, der erste ging in die Brücke… Unentschieden… Es war, als könne man das Schnaufen der beiden Schwinger bis hier herauf hören…

      Wo war der Gilgen? Der Gilgen, um dessentwillen in der Anstalt Randlingen fast ein Streik ausgebrochen war?… Er war nicht im Garten… Dort liefen Patienten herum, einer immer im Kreise um das runde Rasenstück… Andere lagen im feuchten Gras unter den Bäumen…

      Die Stille des Wachsaals wurde durch nichts unterbrochen… Aber plötzlich war es Studer, als höre er doch ein Geräusch, aber nicht im Wachsaal… Im Aufenthaltsraum?

      Leise ging der Wachtmeister zur Tür, sein Passe drehte sich im Schloß, genau so leise wie in jener Nacht, da er den Nachtwärter Bohnenblust überrascht hatte… Er riß die