Behnisch beobachtete das wechselvolle Mienenspiel ihrer Besucherin.
»Sie haben Angst vor dem, was Sie möglicherweise erwartet?«, sagte sie ihr auf den Kopf zu. Aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung wusste sie genau um die Sorgen und Nöte der Angehörigen von Komapatienten.
Überrascht blickte Charlotte auf.
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie.
Dr. Behnisch lächelte fein, als sie aufstand und Charlotte Beer zur Tür begleitete.
»Jahrelange Erfahrung. Deshalb glaube ich auch, dass wir vorsichtig optimistisch sein dürfen. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Mann«, versprach sie fast feierlich und hielt ihrer Besucherin zuvorkommend die Tür auf.
*
Im Krankenzimmer von Bernhard Beer angekommen, ließ sich die Klinikchefin von den Kollegen über den Stand der Dinge informieren. Alles verlief erwartungsgemäß, sodass sie sich bald darauf anderen Aufgaben zuwenden konnte. Auf ein Zeichen ihrer Chefin zog sich auch die Schwester diskret zurück, sodass sich Charlotte schließlich allein mit ihrem Mann im Zimmer wiederfand. Eine Weile stand sie am Bett und dachte nach. Wieder kamen ihr Fees Worte in den Sinn, und sie schämte sich, so hart mit ihrem Mann ins Gericht gegangen zu sein.
»Da ist es fast ein Glück, dass du im Koma liegst. Sonst hätte ich den schönsten Streit vom Zaun gebrochen«, murmelte sie. Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich neben Bernhard. Seine warme, trockene Hand lag in der ihren, und sie musterte sein geliebtes Gesicht mit zärtlichem Blick. »Aber hältst du mich wirklich für so schwach, dass ich die Wahrheit nicht ausgehalten hätte?«, stellte sie die Frage, die ihr wie Feuer auf der Seele brannte, selbst wenn sie keine Antwort darauf bekommen würde. »Oder für so stur, dass ich sie nicht hätte wahrhaben wollen?« Charlotte seufzte tief. Es tat weh, in den Spiegel zu schauen und sich seine eigenen Fehler eingestehen zu müssen. »Ich schäme mich so sehr. Vor allen Dingen deshalb, weil du die ganzen Sorgen allein aushalten musstest.« Dieser furchtbare Gedanke war ihr mitten in der Nacht gekommen und hatte sie erst recht daran gehindert, wieder in den Schlaf zu finden. Beschämt beugte sie das Gesicht über seine Hand und amtete ein paar Mal tief ein und aus. »Ich kann dir nicht verdenken, dass du Teresa den Tipp gegeben hast wegzugehen. Und unserer Tochter kann ich es nicht verdenken, dass sie nicht im Reisebüro bleiben wollte«, fuhr sie zerknirscht fort. »Familientradition hin oder her. Als gute Geschäftsfrau muss man erkennen, wenn der Laden nicht läuft, und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Im Grunde genommen habe ich auf ganzer Linie versagt«, bezichtigte sich Charlotte selbst. »Das will ich unbedingt wieder gut machen. Deshalb habe ich beschlossen, dass wir verkaufen werden. Von dem Geld bekommst du die beste Reha der Welt«, teilte sie Bernhard ihren Entschluss mit, auch wenn er sie nicht hören konnte.
Charlotte wusste nicht, dass sie inzwischen eine andere Zuhörerin bekommen hatte. Sie war so vertieft in ihren Monolog mit ihrem Mann gewesen, dass sie weder das Klopfen noch die Tür gehört hatte, die sich geöffnet und kurz darauf leise wieder geschlossen hatte. Wenn sie gewusst hätte, dass ihre Tochter Teresa ihr zuhörte, hätte sie die folgenden Sätze vielleicht nicht laut ausgesprochen. So aber fuhr Charlotte ungeniert fort.
»Ich wollte es ja lange nicht wahrhaben. Aber unsere Tochter hat einen ganz klaren Blick für das Geschäftliche. Da seid ihr aus demselben Holz geschnitzt.«
Tessa, die neben der Tür stand, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, traute ihren Ohren kaum.
»Aber das Talent für die richtigen Trends und meine Liebe zum Detail, die habe ich von dir geerbt«, entfuhr es ihr.
Erschrocken fuhr ihre Mutter herum.
»Teresa, du?«, fragte sie verdattert. »Seit wann bist du schon hier?«
Ein verlegenes Lächeln spielte um Teresas schön geschwungene Lippen, als sie Charlottes Befürchtungen bestätigte.
»Lange genug, um das Wichtigste mit angehört zu haben.«
»Ach, du meine Güte«, stöhnte Charlotte. Offenbar blieb ihr wirklich gar nichts erspart.
Teresa löste die Arme und ging durchs Zimmer zu ihrer Mutter. Ein weiches Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie ihr versöhnlich die Hände auf die Schultern legte und ihr tief in die Augen sah.
»Ich bin hier, um mich bei dir zu entschuldigen, Mama«, sagte sie dann mit merkwürdig feiner Stimme. Fast klang sie wieder wie das Mädchen, das sie einmal gewesen war. »Nicht nur du hast Fehler gemacht. Auch Papa und ich. Es war nicht richtig, dir so wenig zuzutrauen. Das haben mir auch deine Worte bewiesen, die du gerade zu Papa gesagt hast.«
Charlottes Augen wurden feucht vor Rührung. Die Ereignisse der letzten Tage waren eindeutig zu viel für ihre ohnehin angeschlagenen Nerven.
»Ach, Kindchen …«, stammelte sie, als Teresa ihr sanft den Zeigefinger auf die Lippen legte.
»Ich habe lange nachgedacht und alle möglichen Szenarien durchgespielt. Vielleicht gibt es doch noch eine andere Lösung als den Verkauf.«
Doch diesmal war es Charlotte, die nichts mehr davon hören wollte. Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Ach, lass gut sein«, winkte sie sichtlich erschöpft ab. »Ich glaube, es ist wirklich Zeit aufzuhören.«
»Und was, wenn ich zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen bin?«, ließ Teresa jedoch nicht locker. Das lag nicht nur an den Gedanken, die sie sich gemacht, sondern auch an den Telefonaten, die sie in der Zwischenzeit geführt hatte. Eines davon war besonders interessant gewesen, und ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, wenn sie nur daran dachte. »Was, wenn wir uns auf unsere Talente und Fähigkeiten besinnen? Das, was wir in Generationen an Wissen über fremde Länder angesammelt haben, nimmt uns keiner mehr weg. Gepaart mit der Liebe zum Detail ist niemand besser geeignet für die Ausarbeitung besonderer Reiserouten und Abenteuer als wir.«
Noch immer saß Charlotte neben ihrem Mann und hielt seine Hand. Doch mit den Gedanken war sie weit fort, hatte sich von den leidenschaftlichen Worten ihrer Tochter mitreißen lassen.
»Das stimmt. Da macht uns so schnell keiner was vor«, bestätigte sie mit hörbarem Stolz in der Stimme.
Darauf hatte Teresa nur gewartet. Fast euphorisch kniete sie vor ihrer Mutter nieder, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.
»Mama, ich war so frei und hab mir während deiner Abwesenheit die Archive im Reisebüro angeschaut. Dort lagern die alten Unterlagen. Fix und fertig ausgearbeitete Reisen zu den schönsten Plätzen der Welt. Mit allen wichtigen Details. Natürlich müsste man einige Daten aktualisieren. Aber das ist im Zeitalter des Internets kein Problem.«
Verständnislos blickte Charlotte auf ihre aufgeregte Tochter hinab. Teresas Wangen glühten vor Eifer. So hatte sie sie lange nicht gesehen und konnte sich nur wundern.
»Worauf willst du hinaus?«, stellte sie schließlich die alles entscheidende Frage.
Teresa antwortete nicht sofort. Sie wollte die Spannung bis zuletzt auskosten.
»Es ist eine relativ neue Geschäftsidee. Ich habe mit einem großen Reiseveranstalter telefoniert, der sogenannte Baukastenreisen anbietet«, ließ sie endlich die Katze aus dem Sack. »Dabei haben die Kunden die Möglichkeit, aus vielen verschiedenen Attraktionen ihre individuelle Reise zusammenzustellen. Der Veranstalter möchte dir die Ausarbeitung der einzelnen Bausteine anvertrauen. Das ist ein Bombengeschäft. Vor allen Dingen deshalb, weil die Sachen bereits fix und fertig bei dir in der Schublade liegen.« Sie strich sich eine Strähne aus dem erhitzten Gesicht und sah ihre Mutter aufgeregt an. »Und? Was sagst du jetzt?«
»Das … das klingt zu schön, um wahr zu sein.« Es dauerte nicht lange, bis sich diese Idee in Charlottes Kopf festbiss. Fast sofort begann sie zu wachsen und zu gedeihen. »Wir könnten neue Bausteine entwickeln. Zum Beispiel nostalgische Expeditionen auf den Spuren der Vergangenheit. Und als erstes würde ich die Reise von Fee und Daniel planen«, kam ihr sofort eine Idee in den Sinn.
Begeistert lachte Teresa auf und sprang auf die Beine, um ihre Mutter an den Händen hochzuziehen und übermütig