Im ersten Moment wunderte sich Charlotte über diese Antwort. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
»Mag sein. Aber unser ganzes Leben lang waren wir aufrichtig zueinander. In guten wie in schlechten Zeiten«, brachen sich ihre Gefühle endlich Bahn. »In guten wie in schlechten Zeiten. Zumindest war es das, was ich dachte. Aber wie soll ich denn jetzt wissen, was davon wahr war und was nicht?«, fragte sie so bitter, dass Felicitas erschrak.
»Du liebe Zeit, Charly, das klingt ja gerade so, als ob du eure ganze Ehe in Frage stellst. All die Jahre, in denen ihr doch so glücklich ward.«
»Aber warum? Warum hat er mir etwas vorgemacht?« Wieder war Charlotte den Tränen nahe.
Einerseits konnte Felicitas die Reaktion ihrer Freundin verstehen. Auf der anderen Seite konnte sie sich aber auch in Bernhard hinein versetzen.
»Weißt du, Charly«, begann sie mit weicher Stimme und schenkte sich und ihrer Freundin Tee nach. »Es gibt Situationen, da scheint selbst für den ehrlichsten Menschen der Welt eine Lüge der einzige Ausweg zu sein, um diejenigen, die er liebt, nicht zu verletzen.« Sie stellte die Kanne zurück auf den Tisch und gab ein paar Stücke Kandiszucker in den Tee. Fee liebte das Knistern und Knacken, ehe er zerfiel und im heißen Tee schmolz. »Dein Mann wusste doch ganz genau, was dir das Reisebüro bedeutet.«
Der Gedanke an ihr heißgeliebtes Geschäft ließ Charlotte lächeln.
»Fast so viel, wir mir Bernhard bedeutet«, gestand sie leise und schämte sich fast dafür.
Mit dieser Antwort hatte Felicitas gerechnet.
»Siehst du. Bernhard wusste genau, dass dich eine Pleite in ein tiefes Loch gestürzt hätte. Deshalb hat er alles dafür getan, dass genau das nicht passiert.«
Diese Argumentation war schlüssig. Trotzdem zögerte Charlotte, sich auf die Worte ihrer Freundin einzulassen.
»Aber ihm musste doch klar sein, dass das Theater irgendwann auffliegt«, hielt sie dagegen. »Wie lange hätten wir denn noch auf Pump leben können?« Diese Vorstellung jagte ihr einen Angstschauer über den Rücken.
»Wenn man wirklich liebt, ist die Logik manchmal außer Kraft gesetzt«, erwiderte Felicitas so spontan und gleichzeitig innig, dass sie sich selbst darüber wunderte. Dabei war ihr klar, dass sie Ähnliches auf sich genommen hätte, wenn es darum ginge, Daniels Lebensglück zu retten.
Überrascht und tief bewegt sah Charlotte ihre Freundin an. Auf einmal rutschte sie auf der Sofakante nach vorn und streckte ihr beide Hände hin. Fee legte die ihren hinein, und Charlotte drückte sie fest.
»Danke!«, sagte sie und sah ihr tief in die Augen. Mehr nicht. Doch etwas anderes war auch nicht nötig, um die Dankbarkeit auszudrücken, die sie in diesem Augenblick empfand.
*
Nicht nur in der Klinik gab es an diesem Montagvormittag alle Hände voll zu tun. Auch in der Praxis Dr. Norden herrschte wie immer reges Treiben und Danny hatte alle Hände voll zu tun, um auch die Patienten seines Vaters zufrieden zu stellen. Glücklicherweise befand sich Dr. Norden Senior nach der erfolgreich verlaufenen Operation inzwischen auf dem Weg in die Praxis, sodass sich Danny seinem nächsten Patienten mit aller Ruhe widmen konnte.
»Bei meinem Bekannten war es aber genauso. Der war quietschfidel bis zu dem Tag, an dem er einfach umgefallen ist. Und dann hatte er einen Schlaganfall.« Der fünfundsiebzigjährige Patient, der auf Danny Nordens Behandlungsliege lag, musterte den jungen Arzt skeptisch. Nikolaus Petersen war wegen einer Magenverstimmung in die Praxis gekommen und kurz darauf ohnmächtig zusammengebrochen. Als er wenige Minuten später wieder aufgewacht war, hatte er sich auf der Behandlungsliege wieder gefunden. Nach einer gründlichen Untersuchung diskutierte er bereits seit einer Viertelstunde mit Danny Norden.
Der hatte seinem Patienten in der Zwischenzeit eine Schaumstoffrolle unter die Unterschenkel gelegt und ihm eine kreislaufstärkende Injektion verabreicht. Herrn Petersens Zustand war stabil, und allmählich war Danny am Ende seiner Geduld angelangt. Es kostete ihn alle Mühe, nicht unfreundlich zu werden.
»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Herr Petersen«, startete er einen letzten Versuch, seinen Patienten zur Einsicht zu bewegen. »Aber ich gehe mal schwer davon aus, dass es Ihrem Bekannten so schlecht ging, dass er nicht mit seinem Arzt über die richtige Diagnose diskutiert hat«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »Liege ich da richtig?«
Nikolaus Peterson antwortete nicht sofort.
»Hm, nein, das hat er nicht«, brummelte er schließlich missmutig. »Aber nur deshalb nicht, weil er nicht mehr sprechen konnte. Und dann konnte er sich ja auch an nichts mehr erinnern. Noch nicht mal an seinen Namen. Und die eine Seite auch nicht mehr bewegen. Das hat erst viel später wieder funktioniert. Und dann auch nicht mehr richtig.«
Obwohl Danny den Freund seines Patienten bedauerte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Na bitte, das klingt doch schon ganz anders«, gab er zurück. Er stand vor der Liege und steckte die Hände in die Kitteltaschen. »Bei Ihnen konnte ich weder Lähmungserscheinungen noch Anzeichen einer Amnesie feststellen. Mit anderen Worten: Sie haben lediglich einen kleinen Schwächeanfall gehabt und keinen Schlaganfall.« Danny lächelte auf seinen Patienten hinab. »Sonst könnten Sie mir nämlich schon längst nicht mehr widersprechen.«
Jetzt war Nikolaus Petersen doch ein wenig peinlich berührt.
»Das ist mir jetzt aber schon unangenehm«, murmelte er und wagte es kaum, den jungen Arzt anzusehen. Schon wollte er zu einer ausschweifenden Entschuldigung ansetzen, als Danny Norden seine Absicht durchschaute und freundlich abwinkte.
»Alles in Ordnung. Ich bin ja froh, dass sie so einen Widerspruchsgeist haben. Das zeigt mir nämlich, dass es Ihnen schon viel besser geht«, versicherte er. »Und jetzt bleiben Sie bitte noch eine halbe Stunde liegen. Janine wird dann kommen und Sie befreien.«
Als Danny den Namen einer seiner Assistentinnen erwähnte, leuchteten die Augen des Seniors auf.
»Sie meinen die hübsche Brünette mit den schönen braunen Augen?«, fragte er so begeistert, dass der junge Arzt auflachte.
»Ach, Sie würden lieber Wendy sehen? Nun, dann werde ich ihr Bescheid sagen.« Er zwinkerte seinem überraschend lebenslustigen Patienten zu, ehe er endlich das Behandlungszimmer verließ. Auf dem Flur traf er mit seinem Vater Daniel zusammen, der endlich den Weg in die Praxis gefunden hatte.
»Ach, sieh mal einer an«, begrüßte Danny seinen alten Herrn gut gelaunt. »Hat Jenny eine hübsche neue Ärztin eingestellt, oder warum bist du in letzter Zeit so oft in der Klinik? Falls dem so ist, möchte ich bitte auch mal zum Klinikdienst eingeteilt werden«, verlangte er spaßeshalber.
Zu seiner großen Verwunderung grinste sein Vater verschmitzt.
»Es tut mir wirklich leid. Aber das stimmt«, gestand Daniel und winkte seinen Sohn zu sich. »Und was soll ich sagen? Sie ist die schönste Frau weit und breit. Ich muss einfach die Gelegenheit nutzen und sie sehen, wann immer es möglich ist.«
Danny erschrak. Er wich zurück und musterte seinen Vater mit befremdetem Blick. Das, was als Scherz gemeint gewesen war, schien erschreckende Wirklichkeit geworden zu sein. Obwohl er längst erwachsen und unabhängig war, fühlte sich der junge Arzt einen Augenblick lang, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Mensch Dad, das kann ja wohl nicht wahr sein!«, kam er nicht umhin, Daniel zwar leise aber ebenso vorwurfsvoll zu tadeln. Auch wenn sie allein in einer Ecke des Flurs standen, sollte ihn niemand hören. »Wenn das Mum erfährt …"
Zu seiner großen Überraschung winkte Daniel unbeschwert ab.
»Keine Sorge, deine Mutter weiß es schon. Und was soll ich sagen? Sie findet es toll.«
Danny meinte, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen, als er das belustigte Lächeln bemerkte, das um die Lippen seines Vaters spielte. Schlagartig ging ihm ein Licht auf, und er ärgerte sich darüber, seinem Vater auf den Leim gegangen zu sein.