Scott Meyer

PLÖTZLICH ZAUBERER


Скачать книгу

gelebt hatten. Das war keine besonders angenehme Zeit, um darin zu leben. Martin ließ also wieder von der Idee ab. Stattdessen startete er eine Suche mit dem Satz: Die beste Zeit, um im mittelalterlichen England zu leben. Das dritte Suchergebnis in der Liste war ein Link zu Amazon. Dort gab es ein Buch mit dem Titel Die besten Jahre, um im mittelalterlichen England zu leben von Gilbert Cox. Martin las die Produktbeschreibung:

      In seinem bahnbrechenden Werk plädiert der beliebte Historiker und Fernsehmoderator Gilbert Cox dafür, dass der Zeitraum zwischen 1140 und 1160, und zwar nach der Schlacht von Hastings, vor dem Mord an Thomas Becket und weit vor dem Schwarzen Tod, die absolut beste Zeit war, um im mittelalterlichen England zu leben.

      Das reicht mir, dachte Martin. Er entschied sich für die Mitte und trug 1150 als Fluchtdatum und Dover als Ort ein, weil die weißen Klippen der einzige Orientierungspunkt in England waren, die ihm einfielen. Kurz zog er auch Stonehenge in Erwägung, aber er wollte sich nur ungern inmitten einer Gruppe von Druiden materialisieren.

      Wie gesagt, die Fluchttaste war nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, doch wie sich herausstellen würde, würde er sie innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden benutzen müssen.

      Kapitel 5

      Martin war glücklich, wieder zur Arbeit zu gehen. Nachdem er das ganze Wochenende in seinem Apartment eingepfercht gewesen war, sich über komplizierte Dinge Gedanken gemacht und sich mit Computercodes herumgeschlagen hatte, war es richtig schön, mal wieder raus und unter Menschen zu kommen, auch wenn sein Job nur Datenerfassung war. Dort saß er zwar wieder an einem Computer, aber es war nicht notwendig, dabei nachzudenken. Er war allein in seiner Zelle des Großraumbüros, aber das war kein wirkliches Alleinsein. Es war gerade privat genug, um ein falsches Gefühl von Sicherheit vermittelt zu bekommen, aber man konnte leicht dabei erwischt werden, wie man sich gerade an einer Stelle kratzte, die einem peinlich war.

      Er fuhr also zur Arbeit. Sein Auto war eine sonnige, kleine Insel der Ruhe inmitten eines anschwellenden Flusses des Elends. Der typische morgendliche Pendelverkehr.

      Martin machte sich keine Gedanken mehr über die philosophischen Konsequenzen seiner Entdeckung. Er war mittlerweile so weit gekommen, es auf folgende Art zu sehen: Einige sagten, das Universum wurde von Gott geschaffen, und wir waren machtlose Bauern, die seinen Launen ausgesetzt waren. Andere sagten, das Universum sei nur durch einen glücklichen Zufall entstanden, und wir waren machtlose Flecken in einem gewaltigen, desinteressierten Ozean. Martin konnte nun beweisen, dass die Welt von einem Computerprogramm geschaffen worden war. Das machte jedoch keinen Unterschied, denn wer hatte das Programm geschaffen? Gott? Der Zufall? Er kannte die Antwort nicht, und so dachte er auch nicht weiter darüber nach. Der Unterschied war, dass die Menschen weder machtlose Bauern noch machtlose Flecken waren. Menschen waren machtlose Unterprogramme – zumindest alle außer Martin! Machtlosigkeit schien auf einmal gar nicht so schlecht zu sein, wenn man sie nur bei anderen Leuten sah.

      Martin hatte einen Plan. Er würde einfach so weiterleben wie bisher, aber ohne Geldsorgen und mit der Fähigkeit an seinen freien Tagen überall hingehen zu können, wohin es ihm beliebte. Er würde ein Leben führen, um das ihn Milliardäre beneiden würden. Totale Freiheit und totale Anonymität; und das Beste daran war, dass er gar nichts Großartiges zu ändern brauchte. Alles, was er dafür tun musste, war sich bedeckt zu halten. Man konnte sich gar nicht zurückhaltender benehmen, als er es ohnehin schon tat. Er würde seinen Job, sein Auto und sein Apartment behalten. Nichts davon war besonders großartig, aber das könnte sich ja mit der Zeit ändern. Zunächst einmal war der einzige Weg nach vorne, allen Fortschritt zu stoppen.

      Als er in das Großraumbüro ging, wirkte es plötzlich anders auf ihn als sonst. Noch vor einer Woche war es ein künstlich beleuchteter Schlachthof menschlicher Seelen mit beigefarbenen Wänden für ihn gewesen, in dem er den Großteil seiner Zeit verbringen musste. Jetzt sah er es als einen künstlich beleuchteten Schlachthof menschlicher Seelen mit beigefarbenen Wänden an, wo er den Großteil seiner Zeit verbrachte, weil er es sich so ausgesucht hatte. Es war wie ein Fantasycamp für Unternehmensdrohnen.

      Lächelnd saß er nun an seinem Schreibtisch und summte vor sich hin, während er Papiere aus seinem Posteingang nahm, die relevanten Informationen der Formulare in die richtigen Felder der Datenbank eintrug und sie dann in seinem Postausgang ablegte.

      Er ging in den Pausenraum. Eine Frau, die er seit zwei Jahren kannte, ohne je ihren Nachnamen erfahren zu haben, starrte den Wasserspender an. Ihr Vorname war Becky. Sie hatte einen blassen Teint und schlaffe, dunkelblonde Haare, die irgendwie perfekt zu ihrem verblichenen und abgenutzten Businessanzug passten. Auf seine Art ist es ein einheitlicher Look, dachte Martin.

      »Wie geht's dir?«, fragte er.

      »Mir ist langweilig«, erwiderte sie.

      »Ich weiß. Alles an diesem Ort ist atemberaubend langweilig, nicht wahr?«

      »JA!« Sie schaute sich um, um zu sehen, ob noch jemand zuhörte, aber sie waren allein. »Hast du dich jemals dabei erwischt, dass du hoffst, nur für eine Sekunde in einen Autounfall verwickelt zu werden?«

      »TOTAL«, sagte Martin lauter als beabsichtigt. »Weil es unheimlich interessant wäre!«

      »Ja. Nur nichts, wo ernsthaft jemand verletzt wird. Das möchte ich natürlich auch nicht«, erklärte sie.

      »Nein. Einfach nur so verletzt, dass man in die Notaufnahme kommt.«

      »Hm. Vielleicht in einem Krankenwagen fahren und zwei kräftige Jungs in Uniform, die einem helfen. Ein gebrochener Arm wäre optimal. Man bekommt sofort Aufmerksamkeit und muss ein paar Wochen nicht arbeiten, aber man ist nicht gelähmt oder so was in der Art …« Sie verstummte und verlor sich in ihrer Fantasie.

      Eine Minute lang standen sie beide schweigend da.

      »Nun«, sagte sie, »ich muss leider wieder zurück an die Arbeit.«

      »Ja, vermutlich musst du das«, erwiderte Martin. »Wir werden ja nicht fürs Rumstehen und Quatschen bezahlt.«

      Sie lächelte. Sie hatte ein wunderschönes Lächeln. Das hatte Martin noch nie zuvor bemerkt. »Allerdings werden wir auch nicht gut genug bezahlt, um zu rechtfertigen, dass wir unsere Jobs machen«, sagte sie, während sie den Pausenraum verließ.

      Und sie ist eine Führungskraft, dachte Martin. Wenn ich wirklich hart arbeiten würde, könnte man mich eines Tages auch befördern.

      Mittags, als alle anderen beim Essen waren, trug Martin einen Karton voller Sachen zu seinem Auto. Zu kündigen war nicht annähernd so schwer gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte.

      Als sein Vorgesetzter gefragt hatte, warum er gehen wollte, hatte Martin gesagt: »Ich würde lieber etwas tun, was mich glücklich macht.«

      Daraufhin hatte sein ehemaliger Vorgesetzter ein Lächeln gezeigt, das einem Mittelfinger gleichkam. »Nun, mit der Einstellung wollen wir Sie sowieso nicht weiter beschäftigen.«

      Sein Plan war bereits zunichtegemacht worden, aber Martin sah, dass es ohnehin ein dummer Plan gewesen war. Etwas zu tun, um sich unglücklich zu fühlen, damit man zu den anderen unglücklichen Menschen passte …? Er hätte lieber versuchen sollen, glückliche Menschen zu finden, zu denen er passte. Vielleicht könnte er ja wieder zur Schule gehen. Er hatte das College so sehr gehasst, dass er es irgendwann hingeschmissen hatte, aber damals hatte er auch geglaubt, dass seine gesamte Zukunft davon abhängen würde. Vielleicht würde er es ja jetzt genießen können, wo er wusste, dass es eigentlich gar nicht von Bedeutung war.

      Als er zu seinem Apartment zurückkehrte, kam es ihm so vor, als ob er es zum ersten Mal sah. Weiße Wände mit Stuck und ein beigefarbener Teppich. Wenn man den Boden bei Tageslicht betrachtete, konnte man genau sehen, wo er immer entlang ging. Leichte Abnutzungsspuren zeichneten die Wege vom Bett zum Badezimmer, zur Küche, zum Computer und zur Couch.

      Es war deutlich an der Zeit, seinen Lebensstil zu verbessern. Er wusste, dass es nicht notwendig war, aber auf einer tieferen Ebene ahnte er, dass er es dringend brauchte. Bisher war er schließlich anständig gewesen, nicht