betraten das Turmzimmer.
»Darf ich vorstellen, Alexander Kent, Neuerweckter.« Jen deutete mit beiden Händen untermalend auf ihn.
Vor ihm, über einen Tisch gebeugt und nun aufschauend, stand eine schlanke Frau Mitte zwanzig. Ihre Haut war braun, das Haar lang und schwarz. »Hi, ich bin Clara. Clara Ashwell«, stellte sie sich vor.
Er nickte ihr freundlich zu, verkniff sich aber jeden Kommentar zu ihrer Schönheit. Es reichte schon, dass Jen ihn auf dem Kieker hatte.
Auf einer Couch saßen zwei Typen. Einer von beiden trug sein dunkelblondes Haar seitlich kurz geschnitten. Das Gesicht war kantig, ein maskuliner Typ. Da er mit dem anderen Kerl neben ihm Händchen hielt, war unschwer festzustellen, dass sie ein Paar waren. »Hi, ich bin Kevin.«
»Und ich Max.« Er war etwas kleiner, hatte schmale Gesichtszüge und mittellanges braunes Haar, das leicht verwuschelt abstand.
Verblüfft stellte Alex fest, dass es eine weitere Ausgabe von Kevin gab.
Zwillingsbrüder, begriff er sofort.
»Chris.« Bruder Nummer zwei trug ein Muskelshirt, auf seinem rechten Oberarm prangte eine Tätowierung, die bis auf das Schulterblatt reichte. Er musterte Alex von oben bis unten, als wollte er abschätzen, ob dieser eine Konkurrenz darstellte.
Oh ja, Alter, das tue ich. Verlass dich drauf. Ich kusche vor niemandem. »Hi.«
Chris nickte.
»Normalerweise gibt es noch Chloe. Aber die ist unterwegs«, erklärte Clara.
»Schön, nachdem das geklärt ist: Alex wurde vom Rat geprüft. Er hat eine Bernsteinaura, Essenzstab wird neu vergeben. Krafteinschätzung besagt oberes Drittel. Kein Sprungmagier.«
»Mist«, ärgerte sich Kevin. »Das wäre echt praktisch gewesen.«
»Davon gibt es zu wenige«, erklärte Jen. »Wir hier sind ein Team. Abgesehen von Max, er besucht uns nur ziemlich oft.«
Bei diesen Worten grinsten Kevin und Max.
»Schon klar.« Alex lachte.
»Dann sollten wir unseren Rundgang …«
»… unterbrechen«, unterbrach Clara. »Ich habe etwas gefunden, das wir sofort besprechen müssen. Es geht um Mark.«
»Dein Vorgänger«, erklärte Jen.
»Der gestorben ist?«
»Du bist der Erbe seiner Macht, ja«, kam es von Kevin.
»Wie ist es denn passiert?«
»Genau darum geht es«, warf Clara ein. Vor ihr auf dem Tisch lagen mehrere dicht beschriebene Seiten Papier, Bücher und ein länglicher, verzierter Stab. Letzteren nahm sie auf und ließ ihn in der Tasche verschwinden. »Ich habe einen Destilationszauber angewendet, um Marks Aufzeichnungen durchzugehen. Bevor sie im Archiv eingelagert werden, wollte ich nach wichtigen Informationen suchen.«
»Und?«, fragte Jen. Die Anspannung im Raum nahm sprungartig zu.
»In den letzten fünf Wochen geriet er sechs Mal in Lebensgefahr. Ich habe es überprüft. Scheinbar war die Sache in England nur die Spitze des Eisbergs.«
»Jemand wollte ihn umbringen?«, fragte Max entsetzt. »Aber warum?«
»Gute Frage«, kam es von Clara. »Leider wusste er das selbst nicht. Erst nach der dritten Attacke hat er Verdacht geschöpft und wollte es dem Rat und uns mitteilen. Allerdings ist zu viel passiert.«
Alex zuckte zusammen, als Jen nach einem herumliegenden Buch griff. Es flog quer durch den Raum. Gleichzeitig brüllte sie: »Verdammter Idiot! Er könnte noch leben! Wieso hat er nicht ein Mal die Klappe aufgemacht! Aber nein, immer alles alleine lösen wollen!«
»Jen.« Kevin trat zu ihr und nahm sie in die Arme. »Wir finden heraus, wer dafür verantwortlich ist, okay?«
»Natürlich«, erwiderte sie. »Trotzdem ist er ein Idiot.«
»Klar ist er das.«
Sie knuffte ihn in die Seite. »Du auch. Nur, damit das klar ist.«
»Sowieso.« Kevin grinste.
Beide lachten.
»Was tun wir also?«, fragte Chris. »Wir wissen weder, was es mit diesem Folianten auf sich hat, noch, warum die Wächtergruppe nicht in das Pergament eingetragen wurde. Und nun stellt sich heraus, dass Mark von den Schattenpennern gezielt anvisiert wurde. Wieso?«
»Vergessen wir ihn nicht«, kam es von Max. Er deutete auf Alex. »Wie konnten die Schattenkämpfer so schnell wissen, wo der neue Erweckte ist? Beinahe hätten sie ihn gehabt.«
»Um es vollständig zu machen«, sagte Jen an Alex gewandt, »als ich ankam, war der Parasit, der dich töten wollte, bereits erledigt. Jemand hat dich scheinbar beschützt.«
Alex starrte von einem zum anderen und kam kaum mit. Informationsbrocken prasselten von überall her auf ihn ein.
»Ich rede mit Johanna«, sagte Jen. »Und zwar jetzt.«
Damit stürmte sie hinaus.
Die anderen waren kurz darauf in eine heftige Diskussion darüber verwickelt, was das alles zu bedeuten haben könnte.
Ganz leise schlich sich Alex aus dem Raum.
7. Hinter dem Schleier
Nachdenklich starrte Leonardo auf die Steintische. Bis auf einen waren alle leer. Bei der Explosion des Herrenhauses am Rand von London waren alle Mitglieder der Wächtergruppe zu Asche verbrannt – mit Ausnahme von einem. Ein Schutzamulett hing um seinen Hals, das ihn vor dem magischen Feuer bewahrt hatte.
Er betastete das kleine Notizbuch, das er selbst in Leder gebunden hatte. Auf der Rückseite war ein Haken angebracht, mit dem er es an seinem Gürtel befestigen konnte. Bis tief in die Nacht hatte er alte Unterlagen studiert, die er über die Jahre dicht beschrieben hatte. Obgleich er fasziniert war von moderner Technik, Computern, Smartphones, Pads, bevorzugte er doch Papier.
Die Art und Weise, wie der Wächter zu Tode gekommen war, erinnerte ihn an etwas. Leider konnte er nicht festmachen, was besagtes Etwas war. Im Laufe seines langen Lebens hatte er so viel erlebt, so viele Orte bereist, gegen Schwarzmagier gekämpft und Artefakte geborgen – er wusste einfach nicht mehr alle Details.
Er erinnerte sich glasklar an die Gassen von Florenz. Den Geruch des Sommers, das Lachen der Mädchen, das Feiern am Lagerfeuer. Seine Knabenjahre gehörten zu den schönsten Lebensabschnitten.
Auch die Stunden vor seinem herannahenden Tod, das Ende seines ersten Lebens, waren präsent. Die zitternde Kerzenflamme, seine Hand, die den Federkiel über das Pergament führte, um seinen Nachlass zu regeln. Das Kratzen der Spitze, während sie Worte niederbannte.
Doch das Ende war nicht gekommen. Stattdessen ein zweites Leben, eine zweite Jugend, Verantwortung. Seitdem nutzte er sein Wissen und seine Magie, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Er ließ das Notizbuch los, kehrte zurück in die Wirklichkeit.
Ein Mediker untersuchte den Toten gerade, tastete ihn mittels Machtsymbolen ab, warf Mineralstaub auf ihn und prüfte magische Einflüsse. Bisher erfolglos.
»Und?«, erklang die Stimme Johannas. Wie immer war es ihr gelungen, lautlos an ihn heranzuschleichen.
»Nichts.« Leonardo blieb nur zu hoffen, dass sich das nicht änderte. Die ganze Sache wurde zur Katastrophe. »Wie konnten die wissen, wo der Foliant ist?«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Das wüsste ich auch gerne. Als Jennifer diesen Alexander Kent hierherbrachte, dachte ich schon …«
»Ich auch«, unterbrach Leonardo. »Zugetraut hätte ich es den Schattenkämpfern. Aber seine Aura ist Bernstein.