»In der Tat«, bestätigte das Ratsmitglied. »Wir möchten vermeiden, dass in der Angelegenheit noch mehr Sigilfeuer auftauchen. Der Bund des Sehenden Auges wurde aufgespürt. Spezialisten starten eine Bergung.« Er atmete schwer aus. »Ihr alle solltet den Verlust verarbeiten und euch darum bemühen, unserem Neuerweckten zu helfen. Wo ist der überhaupt?«
Er säuft sich die Hucke dicht. »Chris bringt ihm unsere … Kultur näher.« Jen versuchte, einnehmend zu lächeln.
»Ah, schön«, kam es zurück. »Disco und Besäufnis also. Ich hoffe, er ist morgen nicht völlig verkatert. Vermutlich darf ich mir wieder die Beschwerden Wang Lis anhören, weil eine Horde Betrunkener ihm den Raum vollkotzt und danach durch das Portal abhaut.« Er wandte sich ab. »Die Fallakten wandern ins Archiv. Der Globus zu seinen Brüdern. Einen schönen Tag euch allen.«
Die Tür fiel mit einem endgültigen Knall ins Schloss.
Verdutzt starrten sie einander an.
»Was geht hier vor?«, fragte Clara. »Das ist doch nicht normal.«
»Hat er uns gerade echt den Fall entzogen?« Fassungslos schaute Kevin von einem zum anderen. »Das ist nie zuvor passiert. Wir sind die Besten.«
»Wir wissen einfach zu wenig.« Jen nahm ihren Becher auf. Der Kaffee darin war kalt. Sie erwärmte ihn, bis Dampf in die Luft stieg. »Was ist das für ein Foliant, warum wurde die Wächtergruppe nicht ins Verzeichnis eingetragen, wieso haben die Schattenkämpfer Mark die letzten Wochen töten wollen?« Sie hasste es, wenn so viele Zipfel eines Rätsels im Dunkeln lagen.
»Eines steht fest, vom Rat können wir keine Hilfe erwarten«, sagte Clara. »Max, kannst du herausfinden, wohin der Einsatztrupp unterwegs ist?«
»Klar.« Plopp. Der Knall des platzenden Kaugummis ließ Jen schmunzeln.
Max öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, zog den Kontaktstein hervor und aktivierte ihn. Die Verbindung war gerichtet, niemand konnte mithören. Es gab wohl kaum jemanden innerhalb von Castillo Maravilla, der Max nicht mochte.
Kevins Freund trug stets ein Lächeln auf dem Gesicht, kam mit jedem zurecht und gehörte zu den Begabtesten der Lichtkämpfer. Gleichzeitig hatte er sich eine gewisse Unbeschwertheit erhalten, um die Jen ihn gerade heute beneidete.
»Scheinbar ist kein Team unterwegs«, stellte er verblüfft fest. »Aber Leonardo ist in den Katakomben.« Seine Augen weiteten sich. »Im verbotenen Bereich.«
»Das ist nicht gut«, sagte Kevin.
Jener Teil der Katakomben unter dem Castillo war nur den Ratsmitgliedern zugänglich. Ein Alterungszauber lag über den Räumen. Jeder Sterbliche, der sie betrat, wurde innerhalb von Sekunden zu Knochen und Staub. Daher vermochten einzig die Unsterblichen den verbotenen Bereich zu betreten. In ihm lagerten die gefährlichsten, mächtigsten Artefakte, die existierten.
»Was hat er vor?«, fragte Clara.
»Er setzt ein Artefakt ein«, begriff Jen. »Eines der verbotenen.«
»Aber … das geht nicht«, hauchte Max. »Niemand …«
»Wenn die Mehrheit des Rates zustimmt, dann darf er durchaus«, sagte sie. »Was immer es mit dem Folianten auf sich hat, es ist weit größer, als wir alle dachten.«
Der Schmerz war plötzlich da und unterbrach das Gespräch. Ihre Kontaktsteine glühten synchron auf. Einzig Max war nicht betroffen. Clara ging in die Knie, hielt schreiend die Hände an die Schläfen. Kevin spannte die Muskeln an, brüllte, Blut lief aus seiner Nase. Jen wurde unvermittelt so übel, dass sie sich beinahe übergeben hätte.
Chris!
Jemand hatte ihm soeben furchtbare Qualen zugefügt, die ungefiltert über die Kontaktsteine zu ihnen geflossen waren. Todesangst vermischte sich mit Schmerz, mit Magie. Dann erlosch der Gedankenfluss. Nur ein Bild blieb zurück.
Ein Kuttenträger, begriff Jen.
»Was ist los?«, fragte Max.
»Clara, erzähl es ihm auf dem Weg nach unten«, sagte sie. Jede Emotion war aus ihr gewichen. Sie handelte rational, pragmatisch und schnell. Anders würden sie Chris und Alex nicht mehr retten können. »Geht in die Katakomben. Berichtet Leonardo davon. Er darf nichts unternehmen. Kevin …«
»Wir nehmen ein Portal nach New York. Jetzt.«
Gemeinsam hasteten sie aus dem Turmzimmer. Da die Lichtkämpfer überall auf der Welt im Einsatz waren, herrschte ein stetes Kommen und Gehen. Sie sandte ein Prioritätssignal an den Portalwächter.
Augenblicke später standen sie vor dem Pentagramm. Jen malte das Zeichen in die Luft, visierte New York an. Viel zu langsam etablierte sich die magische Sphäre.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie erneut nur zu zweit waren. Ohne Unterstützung, ohne Hilfsmittel.
Egal.
Sie wechselte einen kurzen Blick mit Kevin. Beide nickten sich zu. Dann tat sie den Schritt in das Portal.
11. Der Bund des Sehenden Auges
Alex stöhnte.
Er hatte schon einige Hangover erlebt, aber das war der bisher schlimmste. Warum lag er auf dem Boden? Steinboden?! Die Erinnerung kehrte jäh zurück. Er fuhr in die Höhe. Eine furchtbar dumme Idee, wie er sofort feststellte. Der Schwindel nahm schlagartig zu, die Übelkeit ebenso.
»Tief durchatmen«, kam es von Chris. »Hab ich auch schon hinter mir. Würde dir ja mit 'nem Hangover-Zauber helfen, aber unsere Magie ist komplett ausgeschaltet.«
Nur langsam klärten sich Alex' Gedanken. »Wie jetzt, ich werde frisch zum Magier, und prompt stiehlt jemand meine Kraft?« Er blickte umher.
Er realisierte die dumpfe Leere im Inneren. Das Sigil war nicht länger erreichbar. Kurz wallte Panik auf. Es fühlte sich an, als habe eine grausame Macht von einem Augenblick zum nächsten einen seiner Sinne ausgeschaltet. Wie musste es da erst Chris ergehen, der seit Jahren daran gewöhnt war, auf magische Essenz zuzugreifen?
Er schob das Gefühl der Machtlosigkeit beiseite. Vorsichtig, um den Schwindel nicht erneut auszulösen, blickte er sich um.
Sie saßen in einem Kerker. Die Wände bestanden aus grob behauenem Stein, Feuchtigkeit und Schimmel. Ein einzelnes Gitterfenster ließ etwas Licht hereinfallen, das jedoch nicht von draußen kam. Fackelschein erhellte das Verlies. Ein monotoner Singsang hallte zu ihnen herab.
»An was erinnerst du dich?«, fragte Chris.
Vorsichtig schob Alex sich an der Wand entlang in die Höhe. »Tanzen, geile Cocktails. Ich wollte gerade einer echt heißen Braut einen Zaubertrick vorführen. Und dann … waren das Mönche?!«
»Jap«, kam es zurück. Erst jetzt sah er die Schrammen und blauen Flecke auf dem Gesicht des anderen. »Dieselben, die den Folianten haben. Irgendwie konnten sie unsere Magie vollständig ausschalten. Leider sind sie auch im Nahkampf ziemlich gut.«
»Wie hab ich mich geschlagen?«
»Einer kam von hinten und hat dir eins übergezogen.«
»Toll.« Alex schnaubte. »Die Sache wird echt immer besser. Gehören die zu den … Schattenkämpfern?«
Chris schüttelte den Kopf. »Wenn das so wäre, hätten sie uns getötet. Nein. Das ist eine ganz andere Gruppe. Eine, von der ich noch nie etwas gehört habe.«
Schritte erklangen.
Alex stieß sich von der Wand ab, um einen würdevolleren Anblick zu bieten. Der Schwindel kam prompt wieder, er taumelte und ging in die Knie.
Drei Kuttenträger erschienen. Besagte Kutten bestanden aus grobem Stoff, gingen in Kapuzen über. Letztere waren zurückgeschlagen. Jeder der Neuankömmlinge hatte eine Glatze. In die Stirn war ein Auge geritzt.
»Mein