Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik


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nächsten Augenblick befanden sie sich wieder im Büro. Vor ihnen stand Leonardo da Vinci, hielt die Arme verschränkt und starrte sie wütend an.

      »Auf diese Erklärung bin ich wirklich gespannt.«

      17. Verständnis

      Alex’ Hand sackte zu Boden, mit einem Mal war sie schwer wie Blei. Er starrte auf Jen, die einem Spiegelbild gleich den Essenzstab sinken ließ.

      Plötzlich ergab so vieles einen Sinn. Was sie erlebt, was sie getan hatte, warum sie so auf ihn reagierte. Er wollte etwas sagen, öffnete seinen Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. Sein Kopf war leer, die richtigen Worte kamen einfach nicht?

      Ihr erging es ähnlich.

      Sie war also von ihrem Vater misshandelt und psychisch klein gehalten worden. Ohne Hilfe von außen, die nie erfolgt war, hatte sie keine Chance gehabt, sich durchzusetzen und einen starken Charakter zu entwickeln. Das Wegducken war ihr vorgelebt worden. In der Schule hatte sie dann die Nähe zur Macht gesucht. So war ein boshaftes Trio entstanden, das Jen auf der einen Seite Sicherheit gegeben, sie aber gleichermaßen angeekelt hatte. An jenem Tag, den er durch das Unum miterlebt hatte, hatte sie sich selbst in dem anderen Mädchen gesehen, endlich begriffen und die Schüchternheit durchbrochen. Fortan hatte sie sich aufgelehnt, jedoch weiterhin ohne Unterstützung. Bis zu jenem Augenblick, als das Schicksal ihr die Macht verliehen hatte, zurückzuschlagen. Genau das hatte sie impulsiv getan. Der Schmerz über die Folgen war bis heute ein Teil ihres Ichs.

      »Zwei Seelen von gleicher Art«, befand Nostradamus. »Der Unum-Zauber hat euch jene Gleichheit aufgezeigt, die euch verbindet. Was ihr auch gesehen habt, es bleibt euch vorbehalten und ist zutiefst privat. Doch es wird helfen, dass ihr einander besser versteht.«

      Das kann man wohl sagen, dachte Alex. »Okay.«

      Er sah ihr an, dass sie zu einer Erwiderung ansetzte, aber schließlich sagte sie nur. »Okay.«

      »Es wird Zeit benötigen, bis ihr das verarbeitet habt, und ihr solltet darüber sprechen, was hier geschehen ist. Doch jetzt wartet eine dringendere Aufgabe auf euch.«

      Jen straffte die Schultern. »Die Schattenfrau.«

      »Sie ist in den Siegelräumen«, erklärte Nostradamus. »Dort verwahre ich die wertvollsten Schriften. Außerdem jenes Objekt, das die Erschaffung von Essenzstäben erst möglich macht.«

      Alex betrachtete versonnen seinen Essenzstab. Er fühlte sich gut an. Vertraut, kraftspendend, pulsierend. Als sei ein Teil von ihm zurückgekehrt. Gleichzeitig haftete dem Holz etwas Uraltes an. »Was ist es?«

      »Um Stäbe aus Essenzfeuer zu schmieden, muss man Kontakt zur Essenzquelle herstellen«, erklärte er. »Es ist der Ort, an dem Sigile reine Energie sind, bevor sie mit Menschen verschmelzen. Ein Kontakt tötet im gleichen Augenblick. Es sei denn, man ist geschützt.«

      Jen ging mit verschränkten Armen auf und ab. »Es muss ein sehr mächtiger Schutz sein, wenn das verdammte Weib so viel dafür in Kauf nimmt.«

      Nostradamus nickte nur.

      Alex wartete auf eine Erklärung, doch sie kam von anderer Seite.

      Jen zuckte zusammen. »Das Contego Maxima? Der maximale Schutz?«

      Nostradamus nickte erneut.

      »Aber das ist ein Mythos«, sagte sie. »Ich habe Dutzende von Büchern gewälzt, als ich neu erwacht bin. Niemand wusste, wo sich der Zauber befindet.«

      »Er existiert. Der erste Stabmacher hat ihn manifestiert, ihm eine Form verliehen. Wer ihn nutzt, ist gegen jede Macht gefeit.«

      »Das fehlte gerade noch«, stöhnte Alex. »Diese Schattenfrau ist ja schon jetzt gemeingefährlich. Dann auch noch so was.«

      Seltsamerweise breitete sich stets ein Jucken unter seiner Schädeldecke aus, wenn er an die Frau dachte. Und wieder sah er den Moment vor sich, als der Parasit ihn kurz nach seiner Erweckung in London in das Hexagramm geworfen hatte. Er vertrieb den Gedanken und schob den Essenzstab wieder hinter seinen Hosenbund.

      Er schüttelte den Kopf. »Was können wir tun?«

      »Steigt hinab und haltet sie auf.« Nostradamus grinste böse. »Sie hat den Zauber noch nicht erreicht, dank einer kleinen Falle, die ich aufgestellt habe. Doch ewig wird sie das nicht stoppen.«

      Mit einem Schritt war er bei Jen, berührte deren Schläfe. »Das ist der Weg.« Er trat auch zu Alex, wiederholte die Prozedur.

      »Das ist echt besser als Google Maps«, kommentierte er.

      Jen kräuselte die Lippen. »Du bist so ein Nimag.«

      Obgleich es eine Spitze war, spürte er doch, dass sich die Atmosphäre zwischen ihnen verändert hatte. Es war eher ein Necken, kein echter Versuch mehr, ihn zu verletzen. Und seltsamerweise spürte er ebenfalls nicht länger das drängende Bedürfnis, sie zu schlagen oder deftig zu beleidigen.

      »Geht«, befahl Nostradamus nur. »Ich werde euch folgen, sobald meine Essenz regeneriert hat. Die Schattenfrau hat die Statue um mich herum so erschaffen, dass ich nur durch einen ständigen Einsatz von Magie überleben konnte. Mehr war nicht möglich, weniger hätte mich getötet.«

      Sie ließen die hohen Regale, die Essenzstäbe und den Unsterblichen zurück. Schnellen Schrittes eilten sie in die Katakomben.

      »Du hattest also echt ’ne beschissene Kindheit«, brach Jen das Schweigen.

      »Du wohl auch.«

      »Hm.«

      »Sehe ich genauso«, konnte er sich nicht verkneifen. »Meine ›sprachliche Eloquenz‹ färbt wohl auf dich ab.«

      »Toll, jetzt muss ich die Rechtschreibung neu lernen.«

      Prompt musste er kichern, worauf auch Jen schmunzelte. Schließlich sagte sie: »Tut mir leid.«

      »Gleichfalls.«

      »Alles gut?«, fragte sie.

      »Alles gut«, bestätigte er. »Da wir gleich auf Leben und Tod mit einer mordlüsternen Irren kämpfen, gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«

      »Das ist schnell zusammengefasst. Sie ist stark, schnell und verdammt mächtig.«

      Sie eilten die Treppen hinab.

      »Niemand weiß, wer sie ist, woher sie kommt, warum sie so massiv gegen die Lichtkämpfer vorgeht«, sprach sie weiter. »Wir vermuten, dass es eine der ersten Unsterblichen ist. Aber genauso gut könnte auch jemand den Schatten als Tarnung benutzen, den wir kennen.«

      »Was ist, wenn sie den Contego-Maxima-Zauber bekommt?«

      »Dann«, Jen schluckte, »haben wir ein ziemliches Problem.«

      »Du meinst, wir sitzen in der Scheiße.«

      »Sagte ich das nicht gerade?«

      Dank der verankerten Wegbeschreibung fanden sie das Ziel mühelos. Ein breiter, in Stein gehauener Gang führte auf den Raum zu, in dem der manifestierte Zauber verwahrt wurde. Das hölzerne Portal hing zersplittert in den Angeln.

      »Stab?«

      »Hm?« Verständnislos sah Alex sie an.

      »Zück. Deinen. Essenzstab.«

      »Oh.« Schnell kam er der Aufforderung nach. »Muss mich noch daran gewöhnen.«

      »Er wird dich führen, lass dich einfach fallen, wenn du ihn benutzt«, erklärte Jen. »Metaphorisch gesprochen.«

      »Schon klar.«

      Vorsichtig lugten sie in den Raum.

      »Woah«, entfuhr es Alex.

      »Glaub mir, das wirst du noch verdammt oft in nächster Zeit